Einzigartige Fundstelle

Spitzenforscher in Rahlstedt - so lebten die Ur-Hamburger

| Lesedauer: 7 Minuten
Axel Ritscher
Der Experimental-Archäologe Harm Paulsen rekonstruierte den Bogen der Rentierjäger.

Der Experimental-Archäologe Harm Paulsen rekonstruierte den Bogen der Rentierjäger.

Foto: Michael Kukulenz

Archäologen rekonstruieren im Tunneltal das Leben unserer Ahnen am Rande der Eiszeitgletscher und drehen einen Film.

Hamburg. Sanft hebt und senkt sich die Rahlstedter Hügellandschaft im Naturschutzgebiet Höltigbaum. Im hohen Gras jenseits der Touristenpfade eine Gruppe Wissenschaftler mit schweren Schuhen und leichtem Ausflugsgepäck. Daneben Herren mit Stativen und Kameras, die ausgerichtet sind auf einen großen, blutroten Schweinebauch. Aufgespannt mit vier kräftigen Strippen in einem Holzgestell. Er simuliert das Rentier von vor gut 11.000 Jahren.

Etwa sieben Meter vor dem rohen Fleisch zieht ein leicht gebeugt stehender Herr mit silbernem Pferdeschwanz überm rustikalen Wollpullover einen historischen Pfeil mit Flintsteinspitze aus seinem Fellköcher. „Ich lege ihn nicht auf die Sehne“, ruft der Experimental-Archäologe Harm Paulsen. Er spannt die Mordwaffe: einen Bogen aus der Steinzeit. Mit einem Pfeil aus der Steinzeit, dessen Spitze schärfer ist als OP-Werkzeuge aus den Chirurgien der Kliniken im 21. Jahrhundert.

Filmdreh in Rahlstedt: Zurück in die Steinzeit

Der Kameramann hinterm Schweinebauch soll sich nicht fürchten müssen. Er steht Paulsen genau gegenüber und richtet die Linse sorgfältig auf die Pfeilspitze aus. „Kamera läuft!“, ruft er dann und springt durchs Gras auf die Seite. Man weiß ja nie. Bei der nächsten Einstellung wird es ernst für den Schweinebauch. Die zweite Kamera fängt die Szene von der sicheren Seite ein und ist auf das Ziel des Schützen ausgerichtet. Jetzt liegt der Pfeil tatsächlich auf der Sehne. Vom nicht einmal voll durchgezogenen Bogen sirrt er los und durchschlägt das Ziel locker. Der Bogen hat bestanden. Es sieht so aus, als könnten die ersten Kulturen nach der letzten Eiszeit mit dieser Waffe ihr Überleben gesichert haben.

Weitere Schüsse sollen Aufschluss geben darüber, wie sich die Pfeilspitzen verhalten, wenn sie auf einen Knochen treffen. Sie bilden das Bindeglied zur Eiszeit. Der fünfte Schuss sitzt, die Pfeilspitze bohrt sich in die Rippe und steckt fest. Damit lassen sich die „Jagdergebnisse“ Harm Paulsens vergleichen mit den knochigen Überbleibseln von den Rentieren, die die Menschen der „Ahrensburger Kultur“ in der ausgehenden Altsteinzeit nach ihrer Tafelrunde hinterlassen haben. Wie bei den Schweinerippen von heute geben die Verletzungen des steinzeitlichen Rentierknochens, der Jahrtausende im Boden überdauerte, Aufschluss über Durchschlagskraft und Beschaffenheit des Geschosses.

Huckleberry Harm – Archäologe aus Passion

  • Er kam schon als Archäologe zur Welt. Oder als eine zweite Version des Huckleberry Finn, wie Harm Paulsen (76) über sich sagt. Die Steinzeitwerkzeuge im Lexikon seiner Großmutter waren die Initialzündung.
  • Mit zwölf Jahren baute er erste Pfeilspitzen aus Flintstein nach und las dazu, was er kriegen konnte. Als Schüler nahm er an Grabungen teil. Sorgte dafür, dass der Aushub einer Baustelle im Nachkriegs-Lübeck zur elterlichen Gärtnerei gefahren wurde, – damit er ihn durchflöhen und seine archäologischen Funde melden konnte.
  • Trotzdem lernte er Radartechniker, einen „Brotberuf“. Ein Unfall sorgte dafür, dass er als Quereinsteiger doch zur professionellen Archäologie kam. „Ich bin an alle Ecken gefahren“, charakterisiert er seinen Kampf gegen den Muff unter den Talaren der exakten Wissenschaft, die mit seinem Ansatz der handwerklichen Rekonstruktion alter Geräte und Überlebenstechniken nichts anfangen konnte. Heute ist er ein gesuchter Experte.
  • Nach dem Projekt in Rahlstedt rekonstruiert er jetzt für „Terra X“ einen Skythenbogen. Die Rolex der Antike.

Daraus kann die Forschung indirekt erschließen, dass der Bogen unserer Vorfahren aus der Rentierkultur am Rande des Gletschereises im Tunneltal etwa 25 Kilopond (kp) Zugkraft gehabt haben muss. Aus anderen Zeugnissen des Bodens kennen die Wissenschaftler die Vegetation und damit die zu Gebote stehenden Werkstoffe: Kiefer, Birke, Wacholder etc.

Tunneltal ist archäologische Fundstätte von Weltrang

Die einzigartige Fundstelle Tunneltal von Rahlstedt und Ahrensburg gab außerdem Sensationsfunde frei: Al­fred Rust entdeckte 1933 die ältesten Pfeile der Menschheitsgeschichte gut konserviert in der Erde in und vor Hamburg. Organische Funde aus einer über 11.000 Jahre alten Kultur. Das gibt es allenfalls noch in Permafrostbereichen, z. B. in Sibirien. Im Tunneltal sorgt die außergewöhnliche Feuchtbodenkonservierung im verlandeten Gewässer für den Erhalt des sonst nur allzu Vergänglichen. Das macht das Tunneltal zu einer archäologischen Fundstätte von Weltrang.

Jetzt kommt der geniale Tüftler Paulsen ins Spiel. Er ist ein international renommierter Pionier seiner Zunft. Regisseur und Kameramann Mathis Menneking und sein Mann für die Zeitlupen, Sven Voß, haben ihn auch in die Werkstatt begleitet. Den Pfeil konnte Paulsen leicht nachbauen. Zwar wurden die meisten Pfeilfunde Rusts im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber sie sind so gut dokumentiert, dass Paulsen sie rekonstruieren konnte. Den Bogen dazu musste er aber noch einmal erfinden. Keines der Hölzer, die vor 11.300 Jahren hier wuchsen, eignet sich für den Bogenbau. Also probierte er eine Kombination.

„Die handwerkliche Logik ist heute dieselbe wie damals“, sagt Paulsen. „Es muss funktionieren.“ Die Zielvorgabe 25 kp Zugkraft stand. Außen Birke für die Zugkräfte, innen Wacholder für den Druck. Mit sogenannten Zweiholzbögen arbeiteten auch die Sami in Finnland und die Inuit auf Grönland, wenngleich sie andere Hölzer benutzten. Aber die Ahrensburger Rentierjäger hatten keinen Leim. Paulsen löste das Problem mit Sehne. Er zerfaserte und befeuchtete sie, umwickelte damit die beiden Hölzer und ließ die Sehne trocknen. Die Sehne verklebte und härtete aus. Beide Hölzer waren fest verbunden. Die Schüsse im Höltigbaum gaben Paulsen jetzt recht. Es funktioniert.

2022 wird der Film in einer Ausstellung in Ahrensburg zu sehen sein

Die Rentierjäger der von Rust entdeckten „Ahrensburger“ und „Hamburger Kultur“ nutzten vermutlich die Kurzsichtigkeit der Tiere. Wie andere Jäger-Kulturen in Russland und Skandinavien. Sie schichteten Steine auf zu menschlichen Silhouetten entlang eines Weges in einen Trichter ohne Auslass. Dorthinein trieben sie, dank ihrer „Skulpturen“ mit vertretbarem Personaleinsatz, die Tiere und erledigten sie aus kurzer Distanz. Der von Paulsen gebaute Bogen ist jetzt ein anschaulicher Mosaikstein für die Rekonstruktion der Lebenswelten vergangener Zeitalter.

Mennekings Film soll diese Geschichte erzählen. „Pfeil sucht Bogen“ zeigt, wie im Zusammenspiel von klassischer Archäologie, Laboratorien und experimenteller Archäologie eine Version des Lebens scheinbar verlorener Welten entsteht. 2022 wird er in einer Ausstellung in Ahrensburg zu sehen sein.

Paulsen und die Wissenschaftler des Archäologischen Museums und Schloss Gottorfs in Schleswig machen Schluss mit der Mär vom tumben Nordmann im Bärenfell, der auf Quadratlatschen durch die Botanik trampelt. Sie sehen die Menschen jener Kulturen als intelligente Jäger und Sammler, vergleichbar den amerikanischen Waldindianern. Mit handwerklich perfekter Kleidung und ausgeprägtem Geschmack für guten Schmuck. Es ist, als wären sie gestern gewesen.

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Hamburg