Hamburg. In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um die stark angestiegenen Studierendenzahlen in Deutschland und ein falsches Bild von anderen, nicht-akademischen Berufen.
Lars Haider: Wer macht denn eigentlich die Arbeit, wenn alle studieren? Ich weiß, die Frage ist zugespitzt, aber die Entwicklung der Studierendenzahlen in Deutschland ist es auch. Ich habe mal genau nachgeschaut: Im Wintersemester 1953/54 gab es in Deutschland 133.000 Studierende. 1983/84 waren es 1,2 Millionen, 2020/21 beinahe drei Millionen. Inzwischen studiert mehr als die Hälfte eines Jahrgangs. Das ist eine unglaubliche Entwicklung.
Dieter Lenzen: Das Thema müssen wir gut sortieren. Wenn die Hochschulen heute dieselben wären wie 1953/54, wären das tatsächlich erstaunliche Zahlen und man würde sich fragen, was man mit all den Philosophen und Germanisten machen soll. Wir haben aber zwischenzeitlich eine Reihe von Reformen gehabt. Die weitestreichende war die sogenannte Bologna-Reform vor ca. 25 Jahren, durch die die klassische europäische Universität zu einer Berufsbildungsinstitution geworden ist, nach dem Vorbild der amerikanischen Hochschulen. Das heißt: Der Studierende von heute ist überhaupt nicht mehr mit dem aus den 50er-Jahren zu vergleichen, in denen es in der Universität ausschließlich um Forschung und Lehre ging, und nicht vordringlich darum, sich auf einen Beruf vorzubereiten.
Die Zunahme an Studierenden war aber auch schon in den 80er-Jahren groß, also vor der Bologna-Reform.
Lenzen: Das lag an den politischen Bestrebungen, die starke Trennung der Gesellschaft in Akademiker und Nicht-Akademiker zu bekämpfen, was zurecht geschah. Bis dahin hing viel davon ob, aus welcher Familie und sozialer Schicht man kam, wenn man studieren wollte. Das ist durch den Öffnungsbeschluss für die Hochschulen Ende der 70er-Jahre aufgebrochen worden. Damals gab es auch die Sorge, dass es zu wenig hochqualifiziertes Personal in Deutschland geben könnte, und man deshalb die Zahl der Studierenden erhöhen muss. Das, und die spätere Bologna-Reform, haben zu der Entwicklung geführt, die Sie angesprochen haben.
Bei vielen Menschen ist so über die Jahrzehnte hinweg der Eindruck entstanden, dass man unbedingt studieren muss, weil man sonst unter seinen Möglichkeiten bleibt und sich nicht alle Wege im Leben offenhalten kann.
Lenzen: Das führte dann soweit, dass jungen Leuten, die ein gutes Abitur gemacht hatten, gesagt wurde: „Mit so einem Abitur musst du Medizin studieren“. Als ob der Notenschnitt und nicht das eigene Interesse die Berufswahl entscheiden könnten. Grundsätzlich hat sich das System umgekehrt: Man sucht sich ein Studium nicht mehr nach der persönlichen Neigung aus, sondern danach, welchen Beruf man später damit ergreifen kann. Das ist das eine Problem, vor dem wir heute stehen. Das andere ist die Frage, ob wir noch genügend nicht-akademische Fachkräfte, etwa für die Industrie, bekommen, die wir so dringend benötigen.
Die Entscheidung für ein Studium fällt häufig auch, weil man sich damit erhofft, im Beruf später mehr Geld verdienen zu können.
Lenzen: Im Moment ist das auch noch so, aber die Unterschiede schleifen sich ab – und es kommt darauf an, wie man rechnet. Ich habe, als ich 35 Jahre alt war, einen Klassenkameraden aus meiner Volksschule wiedergetroffen, heute sagt man Grundschule. Ich war Professor, mein Mitschüler war Malermeister. Wir haben uns dann mal hingesetzt und ausgerechnet, was wir beide bis zu diesem Zeitpunkt in unseren Beruf investiert und was wir verdient hatten. Er hatte finanziell einen deutlichen Vorsprung… Es ist nicht richtig zu glauben, dass man als Akademiker unbedingt ein reiches Leben vor sich hat und als Nicht-Akademiker das Gegenteil.
Wie sich die Bedeutung eines Studiums verschoben hat, sieht man auch am Beruf des Journalisten. Früher war es durchaus üblich, dass Quereinsteiger ohne Studium Reporter wurden. In den vergangenen Jahrzehnten war dagegen ein Studium die Grundvoraussetzung, um ein Volontariat, also die Ausbildung zum Redakteur, machen zu können. Zum Glück ändert sich das jetzt auch wieder.
Lenzen: Gerade der Journalismus ist ein interessantes Beispiel, weil sich trotz Studiums nicht wenige Journalisten, etwa die, die frei arbeiten, in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, also nicht besonders gut verdienen und keinerlei Sicherheit haben. Grundsätzlich muss man sich fragen, wie groß eigentlich der intellektuelle Unterschied zwischen einem Akademiker und einem Nicht-Akademiker ist. Nehmen wir einen Mechatroniker, der eine vier Jahre dauernde Ausbildung hinter sich hat, und einen Ingenieur, der einen Masterabschluss an einer Technischen Universität gemacht hat. Wenn man die beiden vergleicht, wird man feststellen, dass die Unterschiede in der intellektuellen Leistung nicht besonders groß sind, wenn es sie überhaupt gibt. Die klassischen Berufsausbildungen sind nämlich auch nicht mit denen in den 50er- oder 60er-Jahren zu vergleichen, die Ansprüche und das Niveau sind extrem hoch, allein der Mechatroniker vereint in sich 17 Ausbildungsberufe, die es früher einzeln gab. Und, um das auch klar zu sagen: Die Verdienstmöglichkeiten in diesen nicht-akademischen Berufen sind ebenfalls viel besser geworden.
Im Zweifel verdient ein Tischlermeister deutlich mehr als etwa ein Universitätsprofessor.
Lenzen: Und der Tischlermeister kann sein Einkommen viel besser steuern. Wenn Sie als Hochschullehrer viel arbeiten, hat das auf ihr Gehalt keinen Einfluss. Wer einen kleinen Handwerksbetrieb hat, entscheidet dagegen auch selbst, wie viel er arbeiten und verdienen will, die Möglichkeiten sind dort ganz andere als in der Wissenschaft.
Nachdem wir jetzt die Vorteile einer nicht-akademischen Berufslaufbahn erörtert haben, bleibt die Frage, wie wir mehr junge Menschen dazu bekommen, eben nicht zu studieren. Wäre das überhaupt in Ihrem Interesse?
Lenzen: Ich würde anders an diese Frage herangehen: Die Menschen sollten sich für den Beruf entscheiden, der ihnen am meisten liegt und von dem sie sich vorstellen können, ein Leben darin zu verbringen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, eine gesellschaftliche Steuerung von Berufsströmen zu versuchen — damit ist die Universität überfordert. Entscheidend ist, dass die Menschen am Ende der Schulzeit so gut beraten werden, dass sie eine richtige Entscheidung für Studium oder Ausbildung treffen. Und: Diese Entscheidung muss man leicht rückgängig machen können, weil man sich in der Wahl eines Faches oder eines Berufes eben auch sehr irren kann. Jemand, der ein ganzes Leben als Lehrer unglücklich ist, weil es eigentlich nicht sein Beruf ist, muss die Möglichkeit haben, das zu korrigieren. Man muss es nur rechtzeitig merken, weshalb eine frühe Praxisbegegnung von Bedeutung ist.
Nicht unproblematisch in diesem Zusammenhang ist, dass die Schülerinnen und Schüler jünger geworden sind, wenn sie ihren Abschluss machen. Manchmal wissen sie schlicht nicht, was sie mit ihrem Leben machen wollen, und studieren dann eben erstmal, weil man sich damit vermeintlich viele Wege offenhält, siehe oben.
Lenzen: Das ist in der Tat so. Und es ist eine gewaltige Herausforderung, mit 16, 17 oder 18 eine Lebensentscheidung treffen zu müssen, da hatten es die jungen Leute, die früher länger zur Schule gegangen sind und dann, wenn sie Männer waren, auch noch zur Bundeswehr mussten, einfacher. Solange man sich unsicher ist, kann ich nur dazu raten, die Zeit nach der Schule für wirklichkeitsintensive Begegnungen zu nutzen, bevor man eine falsche Entscheidung für den eigenen Werdegang trifft, die womöglich nicht umkehrbar ist, also: Arbeit, Praktikum, work and travel, etc.
Eine Frage haben Sie nicht beantwortet. Wäre es für Sie schöner, wenn weniger Menschen studieren würden?
Lenzen: Nein. Aber weil es den Typus der alten Universität heute nicht mehr gibt, müssen wir verstärkt darauf achten, dass es auch weiterhin Gelehrte im damaligen Sinne gibt, die Universitas betreiben können, wie es einst gedacht war. Das kann man nicht von jedem verlangen. Der Unterschied zwischen Fachhochschulen und Universitäten ist heute kaum noch zu erkennen, den müssen wir wieder stärker herausarbeiten und betonen. Und gleichzeitig Schluss machen mit der Vorstellung, dass das eine Studium wertvoller ist als das andere, und dieser Studierende intelligenter als jener. Alles hat seinen Wert, und was am Ende erfolgreich sein wird, entscheidet das Leben.
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