Hamburg. Die sozialen Netzwerke sind voll von ihnen: den Vorher-Nachher-Bildern, die zeigen wie aus krummen und schiefen Zähnen ein strahlendes Vorzeigegebiss wird. Wer einmal nach „unsichtbaren Zahnspangen“ – sogenannten Alignern - gegoogelt hat, kann sich danach vor Werbeanzeigen über Facebook und Co. kaum noch retten.
Unsichtbare Zahnspangen? Ganz unsichtbar sind sie natürlich nicht. Aber im Vergleich zu manch fester Zahnspange kommen die transparenten Aligner doch ziemlich unscheinbar daher. Das Praktische: Man sieht sie kaum, und sie können einfach eingesetzt und wieder herausgenommen werden. Ganz neu ist diese Methode nicht. Zahnärzte und Kieferorthopäden setzen sie schließlich bereits seit vielen Jahren ein, um schiefe Zähne zu begradigen. Recht neu aber ist der Streit, der um sie entbrannt ist.
Kieferorthopäden warnen
Der begann, als vor ein paar Jahren die Patente des Originalanbieters aus den USA, „Align Technology“, ausgelaufen sind. Bis dahin konnte die Aligner-Behandlung nur in Kooperation mit Kieferorthopäden oder entsprechend fortgebildeten Zahnärzten durchgeführt werden.
Doch mit dem Ende der Patente überschwemmten zahlreiche gewerbliche Anbieter den Markt, die die Spangen zum Teil deutlich günstiger anbieten. Und vermeintlich auch deutlich unkomplizierter.
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Denn bei ihnen kann der Patient den Abdruck zum Teil einfach selbst zu Hause machen, genau wie die Kontrollfotos, die er an den jeweiligen Anbieter zurückschicken soll. Doch vor ebendiesen Anbietern warnen nun viele Kieferorthopäden, Zahnärzte, die Zahnärztekammern, die Politik und die Verbraucherschützer.
Ihr Hauptargument: Wichtige Vor- und Kontrolluntersuchungen würden bei den gewerblichen Anbietern nicht stattfinden. So würden Aligner vielfach falsch angewendet, was zu dauerhaften Schädigungen des Gebisses führen könne.
Immer mehr Geschädigte
Das bestätigt die Hamburger Kieferorthopädin Luzie Braun-Durlak. In ihrer Praxis in der Innenstadt würden sich seit etwa zwei Jahren die Fälle von zumeist jungen Frauen häufen, die mit gravierenden Folgeproblemen nach einer Aligner-Behandlung vorstellig werden. „Manche können nicht mehr kauen, andere den Mund nicht mehr richtig schließen. Wieder andere haben durch die unsachgemäße Behandlung mit den Alignern massive Schäden an den Zähnen erlitten.“
Seit einem bis zwei Jahren habe das ganze deutlich an Fahrt aufgenommen. Braun-Durlak spricht von im Schnitt zwei derartigen Fällen pro Monat in ihrer Praxis. Auch in anderen kieferorthopädischen Praxen würden immer mehr solcher Patienten Rat, Hilfe und eine korrigierende Behandlung suchen.
Nicht von geringen Kosten blenden lassen
Grund dafür aus Sicht der Kieferorthopädin: die massive Werbung über Social Media. „Dabei kommt in der Regel nicht rüber, dass es sich um einen medizinischen Eingriff handelt, der durchaus Risiken birgt, wenn er nicht engmaschig von einem Fachmann begleitet wird. Die Planung einer solchen Behandlung wird meist Algorithmen und Zahntechnikern überlassen, muss aber eigentlich vor Ort durch Kieferorthopäden erfolgen, die vorher eine gründliche Untersuchung durchgeführt haben.“
Sie warnt davor, sich von den vergleichsweise geringen Kosten blenden zu lassen: „Man kann nur so günstige Preise anbieten, wenn man an einer anderen Stelle etwas weglässt und das ist eben meistens ein Teil der wichtigen Diagnostik und der Untersuchungen und der regelmäßigen Kontrolltermine.“
Niedrige Preise locken insbesondere junge Menschen
Um sicherzugehen, dass eine Aligner-Behandlung sinnvoll ist, sei in den meisten Fällen ein sogenanntes Fernröntgenseitenbild, kurz FRS, nötig, das bei den gewerblichen Anbietern in der Regel nicht gemacht werde. Das FRS gebe wichtige Informationen über die Zahnachsen der Frontzähne, darüber, wie groß die Knochensubstanz um die Wurzeln ist und auch dazu, was die genaue Ursache der Fehlstellung ist.
Doch die niedrigen Preise locken insbesondere junge Menschen. Bei dem Anbieter „Dr. Smile“ kostet die günstigste Variante etwa 1790 Euro, bei „Smileunion“ werden mindestens 1390 Euro aufgerufen. Aber im Vergleich zu den circa 3000 bis 7000 Euro, die eine vollumfängliche Aligner-Behandlung je nach Schweregrad der Fehlstellung und Aufwand der notwendigen Maßnahmen beim Kieferorthopäden kostet, ist es wenig.
Zahnärztekammer mahnt den Missstand an
Kieferorthopädin Braun-Durlak betont: „Hier zu sparen, lohnt sich einfach nicht und kann unter Umständen gefährlich und sehr teuer werden.“ Als weiteres Problem sieht sie die fehlenden Kontrollmöglichkeiten. Denn: „Die Zahnärztekammer kann leider nicht einschreiten, da die gewerblichen Anbieter über die Handelskammer organisiert sind, was für sich genommen natürlich schon falsch ist.“
Der Zahnärztekammer selbst bleibt also nur, den Missstand anzumahnen. Und das tut sie auch. Konstantin von Laffert, Präsident der Hamburger Zahnärztekammer und Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, sieht die aktuelle Situation kritisch: „Vor dem Auslaufen der Aligner-Patente war es so geregelt, dass die Spangen nur über Kieferorthopäden erhältlich waren. Und das war auch sehr sinnvoll.“
Verbraucherzentrale; „Das ist ein ernstes Thema“
Die gewerblichen Anbieter, die danach auf den Markt drängten, würden suggerieren, dass es sich lediglich um einen kosmetischen Eingriff handle. Das sei jedoch irreführend. Und so betont auch von Laffert: „Es sind zwingend Röntgenbilder notwendig, um mögliche Störfaktoren, etwa Implantate oder Parodontitis, zu erkennen.“ Falsch angewandt, könnten Aligner zu Zahnverlust führen oder dazu, dass das Kiefergelenk beschädigt wird.
Auch die Verbraucherzentrale Hamburg bestätigt: „Das ist ein ernstes Thema, das uns seit einiger Zeit beschäftigt“, so Jochen Sunken, Abteilungsleiter Gesundheit und Patientenschutz. Das Problem aus Sicht des Verbraucherschützers: „Bei Zahnbewegungen sind Schäden möglich, sodass eine zahnärztliche beziehungsweise kieferorthopädische Kontrolle und Begleitung auf jeden Fall gewährleistet sein sollte.“
Schwer durchschaubare Strukturen
Außerdem werde häufig deutlich: „Für den Verbraucher ist im Schadensfall schwer durchschaubar, wer nun zuständig ist: der Hersteller der Aligner? Die Online-Plattform? Die Kooperationspraxen?“ Letztendlich mache es so manches Mal ein kompliziertes Geflecht schwierig, dass jemand in die Verantwortung genommen werde.
Einer dieser gewerblichen Anbieter ist der sogenannte „Smile Direct Club“, der unter anderem in Hamburg einen Standort hat. Dieser wirbt mit günstigen Preisen und damit, dass er das Abdruckset auf Wunsch einfach direkt nach Hause zum Selbermachen liefert. Von dem angekratzten Image der Branche distanziert sich das Unternehmen und verweist auf mehr als eine Million Menschen in 13 Ländern, denen man geholfen habe. Weiter betont der Anbieter, dass jeder Fall von einem Zahnarzt oder Kieferorthopäden geprüft werde.
Unauffällige Zahnspangen in Hamburger SmileShop
„Aktuell betreiben wir vier eigene Standorte in Frankfurt, München, Hamburg und Berlin mit Zahnärzten und zahnmedizinischen Fachangestellten – auch bekannt unter dem Namen SmileShop. Zudem kooperieren wir seit Anfang Juni mit bestehenden Zahnarztpraxen in der Form, dass wir nicht unsere eigenen Mitarbeiter einsetzen, sondern der Zahnarzt vor Ort unsere Kunden empfängt, um den 3-D-Scan zu machen.“
Welche und wie viele Praxen derzeit in Hamburg mit dem Unternehmen kooperieren? Bisher noch keine. Dafür gibt es einen SmileShop mit eigenen Mitarbeitern in der Europa Passage.
Der „Smile Direct Club“ betont: „Während der Behandlung stellen regel-mäßige virtuelle Check-ins mit dem be-gleitenden Zahnarzt oder Kieferortho-päden sicher, dass der Behandlungsfortschritt wie geplant verläuft“, so eine Sprecherin. Zudem bekomme jeder Kunde einen sogenannten Smilestretcher.
Den eigenen Kiefer gut sichtbar machen
Dabei handle es sich um ein Hilfsmittel, das es möglich mache, den eigenen Kiefer gut sichtbar zu machen. Außerdem gebe es eine Anleitung dazu, wie regelmäßig Bilder des Gebisses gemacht werden können, die der Kunde dann im Kundenportal hochladen könne. „Die Bewertungen durch Kunden, die die Smile-Direct-Club-Telezahnmedizin-Plattform benutzt haben, übertreffen bei Weitem die Bewertungen von Patienten in der traditionellen Zahnmedizin.“ Und weiter: „In den USA haben sich Behauptungen, unser Modell sei gefährlich oder riskant, als unwahr erwiesen und es wurde empfohlen, diese einzustellen.“
Auf dem Fachportal „Zahnärztliche Mitteilungen“ (www.zm-online.de), das von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung betrieben wird, klingt das anders. „Wer wissen will, wie Smile Direct Club in Deutschland mit Kritik umgehen wird, blickt am besten in die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Hongkong, Irland und Großbritannien.“
Hersteller fordern Verschwiegenheitserklärung
Ein Bericht der „New York Times“ bestätige, dass der US-Hersteller unliebsame Meinungen juristisch zu unterbinden versuche. Unzufriedene Kunden bekämen nur dann ihr Geld zurück, wenn sie eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Auch die deutsche Justiz hat sich mit Aligner-Anbietern befasst. Zwei hatten den Versuch unternommen, Warnungen vor ihren Geschäftsmodellen verbieten zu lassen – scheiterten aber.
Aus zwei kleinen Anfragen 2019 und 2020 der FDP-Abgeordneten Jennyfer Dutschke und Anna von Treuenfels-Frowein geht hervor, dass nach Einschätzung des Senats die gewerblichen Firmen selbst die Zahnheilkunde nur ausüben dürfen, wenn sie hierfür approbierte Zahnärzte anstellen.
„Die Erbringung kostenloser Leistungen wie Beratung und Festpreise ist unzulässig.“ Ob Verfahren gegen entsprechende Anbieter laufen, konnte nicht geklärt werden. Treuenfels kritisiert: „An allererster Stelle muss bei der Aligner-Behandlung die Sicherheit der Patienten stehen. Seit 2019 ist der Senat über diese Zustände informiert. Trotzdem ist bis heute die zuständige Aufsichtsbehörde unter Gesundheitssenatorin Leonhard völlig untätig geblieben und kommt ihrer Aufgabe nicht nach. Das ist unverantwortlich.“
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