Hamburg. Wohnraumverdichtung, steigende Arbeitslosigkeit, interkulturelle Vielfalt und nicht zuletzt die Corona-Pandemie: All das sind Belastungen, die verstärkt zu Konflikten zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Hauses oder einer Wohnanlage führen können. Was tun, wenn die Atmosphäre im Mietshaus durch alltägliche Konflikte unter verschiedenen Bewohnergruppen so belastet ist, dass es den einzelnen Familien nicht mehr gelingt, ein friedvolles Umfeld zu gestalten?
Nicht alle Streitigkeiten können die Vermieter aus dem Weg räumen, manchmal ist externe Kompetenz notwendig. Abhilfe schaffen Claudia Orgaß (62) und Christina Bornhöft (34). Sie leiten den Nachbarschaftszirkel, ein Schlichtungsverfahren, das im April 2020 im Bezirk Wandsbek an den Start ging. Träger des Projekts ist die alsterdorf assistenz ost gGmbH. Gefördert wird es durch die Aktion Mensch. Aber was genau ist ein Nachbarschaftszirkel?
Tradition der nordamerikanischen „peacemaking circles“
„Kurz gesagt ist ein Nachbarschaftszirkel die Bezeichnung für ein bestimmtes Verfahren zur Konfliktlösung“, erläutert Claudia Orgaß. Die Zirkel stehen in der Tradition der nordamerikanischen „peacemaking circles“ (Friedenszirkel) und sollen die Gemeinschaftsbildung unter den Beteiligten sowie die Wiederherstellung von tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehungen fördern. Vorbild für das Projekt ist JaKuS, ein Berliner Träger für Kinder- und Jugendhilfe, der dieses Verfahren in seiner Arbeit erfolgreich erprobt und etabliert hat. In Schulungen haben die beiden Hamburgerinnen das Verfahren kennengelernt und trainiert.
Nach langer Vorbereitungszeit und coronabedingten Einschränkungen haben Claudia Orgaß und Christina Bornhöft kürzlich ihren ersten Zirkel durchgeführt und praktische Erfahrungen gesammelt. „Es war ein Konflikt in einem Mehrfamilienhaus mit elf Parteien“, berichtet Christina Bornhöft. Der Grund ein Klassiker: Ein älteres Ehepaar beklagte immer wieder den Lärm einer siebenköpfigen Familie im Haus und beschwerte sich sowohl bei der Familie als auch beim Vermieter, einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft.
Feindselige Atmosphäre
Die Atmosphäre in Haus war mittlerweile feindselig aufgeheizt, und jede Störung wurde der Familie angelastet, die sich mehr und mehr in die Ecke gedrängt fühlte und Angst vor einer Kündigung bekam. Über eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes ist der Kontakt zu Claudia Orgaß und Christina Bornhöft hergestellt worden.
„Wir arbeiten mit dem Grundsatz, dass Konflikte immer eine gemeinschaftliche Angelegenheit und nachhaltige Lösungen dementsprechend nur im Konsens möglich sind“, erläutert Christina Bornhöft. Ein erster Schritt sind Vorgespräche mit den Betroffenen. „Wir nehmen dann Kontakt zu allen auf, die an dem Zirkel beteiligt sein sollen“, sagt Claudia Orgaß. Im Falle der Familie waren das fast alle Mieter des Elf-Parteien-Hauses, mit einer Einschränkung: Das Ehepaar, das den Konflikt ausgelöst hat, wollte partout nicht teilnehmen.
Klärung und Lösung
In einem zweiten Schritt wird ein Gesprächskreis organisiert, der Zirkel, an dem möglichst alle am Konflikt Beteiligten teilnehmen sollten – wobei die Teilnahme freiwillig ist. In einem ruhigen Rahmen können dann die Standpunkte ausgetauscht werden, jeder kann sich äußern und jeder wird gehört. „Das ist uns ganz wichtig. Es geht nicht um Schuld und
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Vorwürfe, sondern um Klärung und Lösung“, sagt Christina Bornhöft. Die beiden Projektmitarbeiterinnen sind stets als unparteiische Vermittler dabei und begleiten den gesamten Prozess. „Es gibt keinerlei Hierarchien, das ist ein wichtiger Punkt. Gemeinsam sammeln wir Ideen und treffen Absprachen, wie der jeweilige Konflikt bereinigt werden kann“, schildert Orgaß.
Stimmung wurde im Laufe der Zeit friedlicher
15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen im Fall der Lärmbeschwerde zusammen, darunter die beiden Projektverantwortlichen, ein Vertreter der Wohnungsgesellschaft und eine Dolmetscherin. Es wurde ein Kreis gebildet, in der Mitte liegen stets Blumen und ein Redegegenstand, der für einen geordneten Gesprächsablauf sorgen soll. Sobald sich jeder ein wenig akklimatisiert hatte, wurden die Fragen gestellt, auf die nacheinander geantwortet werden sollte: Was ist mir wichtig, damit ich hier offen sprechen kann? Wie stelle ich mir ein gutes Zusammenleben vor? Was kann jeder tun, um die Situation zu verbessern?
War anfangs noch viel Aggressivität zu spüren und das Zuhören fiel allen schwer, wurde die Stimmung im Laufe der Zeit friedlicher. „In den drei Stunden wurde deutlich, dass nicht nur zwischen den beiden Parteien, sondern im gesamten Haus eine feindselige, unfreundliche Atmosphäre herrscht“, berichtet Bornhöft. „Es war erstaunlich und beeindruckend, wie sich plötzlich Verständnis füreinander entwickelte“, sagt sie weiter. Eine Umkehr fand von dem Moment an statt, in dem einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Zirkels merkten, dass auch sie beteiligt waren an der negativen Stimmung im Haus.
Aktionsplan soll für eine bessere Stimmung sorgen
„Für uns war es ein erfolgreicher erster Zirkel“, resümieren Claudia Orgaß und Christina Bornhöft einstimmig. Gemeinsam mit den Beteiligten wurde ein Aktionsplan entwickelt, der künftig für eine bessere Stimmung sorgen soll. Das Besondere: Jeder Einzelne steuert bei, was ihr oder sein persönlicher Beitrag zur Veränderung der angespannten Situation sein kann und übernimmt Verantwortung für die Lösung des Konflikts.
Nach sechs Wochen findet ein zweiter Zirkel statt, in dem geprüft wird, ob eine Verbesserung eingetreten ist oder ob neue Ideen gefunden werden müssen. Weitere Gesprächsrunden mit den Beteiligten anderer Konflikte sind in Planung. Die Nachfrage ist groß, berichten Claudia Orgaß und Christina Bornhöft.
Da es den Bedarf aber auch in anderen Stadtteilen und Städten gibt, wollen die beiden, Fortbildungen für Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit und der Wohnungswirtschaft organisieren, in denen diese das Verfahren kennenlernen und in den eigenen Strukturen etablieren können. Generell kann sich jeder, der im Bezirk Wandsbek wohnt, ob Einzelperson oder Wohngruppe, mit einem Anliegen an Claudia Orgaß und Christina Bornhöft wenden. „Solange wir Kapazitäten frei haben, nehmen wir auch Anfragen aus den anderen Bezirken an“, sagt Orgaß.
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