Hamburg. Auch wenn es ziemlich grob geschätzt war: Bei seiner Trauerfeier im Jahr 1900 sollen fast 100.000 Menschen zum Friedhof Ohlsorf gepilgert sein. Heute ist der Kraftathlet und Varietékünstler Emil Naucke in Hamburg weitgehend vergessen.
Mit einem neuen Buch sorgt Lars Amenda jetzt dafür, dass es nicht so bleiben muss. Der Autor, lange schon Experte für die Geschichte des Radfahrens, erinnert an den „schwersten Radfahrer der Welt“ und liefert dabei, wie der Untertitel ankündigt, zugleich Einblicke in die „Unterhaltungskultur im späten 19. Jahrhundert“.
Die konnte, wie das Buch zeigt, ganz schön brachial sein, und manches von dem, was in der damaligen Amüsier-Szene als spaßig verkauft wurde, kann uns heute nur noch ein müdes Lächeln abringen.
Schon als Junge zog es ihn in die Welt der Artisten
Emil Naucke war dabei Teil des Betriebs, hob sich aber durch Vielseitigkeit und Originalität deutlich vom Durchschnitt ab. Den 1855 auf der Insel Poehl geborenen Sohn eines Tabakhändlers hatte es zum Kummer der Eltern schon als Junge in die Welt der Zirkusse, Gaukler und Athleten gezogen.
Nach dem Ende einer Bäckerlehre war er nicht mehr zur stoppen und schloss sich dem „fahrenden Volk“ an, wie das damals hieß. Als Berufsringer und Artist machte er sich einen Namen, Tourneen durch Europa und später Nordamerika festigten seinen Ruf.
Naucke wog auf dem Höhepunkt seiner Popularität 230 Kilo
„Emil Naucke durchlief in seiner Karriere verschiedene Entwicklungen“, schreibt Lars Amenda. „Vom Artisten wandelte er sich um Ringer und weiter zum Schwerathleten und ,Colossalmenschen‘, wie er sich selbst seit den 1880er- Jahren bezeichnete.
Naucke, der auf dem Höhepunkt seiner Popularität 230 Kilo auf die Waage wuchtete, machte mit spektakulären Kunststücken von sich reden. Er jonglierte mit 70 Pfund schweren Kugeln, trat aber auch als tanzende „Pauline vom Ballett“ auf.
Mit einer Hand konnte er eine rund 120 Kilo schwere Hantel stemmen oder ein schweres Eisen in die Luft schleudern und mit dem Genick wieder auffangen. Ein zeittypischer Akt: An einem riesigen, mehr als 50 Kilo schweren Gewehr führte er blitzschnell die korrekten Griffe vor – so, wie er sie während seiner Militärzeit gelernt hatte.
Naucke war auch ein geschickter Seiltänzer
Diese und ähnliche Eskapaden sorgten dafür, dass „der dicke Naucke“ in der Öffentlichkeit vornehmlich als eher tumber Kraftmeier rüber kam, was aber nicht zutraf. Wie Amenda nachweist, war Naucke ein ausgezeichneter Ringer und geschickter Seiltänzer, der mit enormer Beweglichkeit verblüffte.
Seine skurrilen Tanzeinlagen entbehrten nicht einer gewissen Eleganz, wie das Publikum erstaunt feststellen konnte. Nicht nur sein Bauch war dick, sondern auch die vielen Muskeln, die er sich schon als Junge durch „Exercitien“ mit Mehlsäcken antrainiert hatte. Bemerkenswert: Naucke hatte nicht nur (leider) ein großes Sportlerherz, sondern er galt auch als hilfsbereit, großzügig und gesellig.
Eröffnung eines eigenen Varietés am Spielbudenplatz
Ein Höhepunkt seiner langen Karriere war 1896 die Eröffnung eines eigenen Varietés am Spielbudenplatz, das auch seinen Namen trug. Dem Zeitgeist entsprechend wurde er damit sehr erfolgreich und wohlhabend. „Die Dampfwalze von St. Pauli“ leistet sich eine Villa in Oldesloe, gab aber auch viel Geld an Bedürftige weiter.
Zu seinen Spezialitäten gehörten Auftritte mit dem kleinwüchsigen Peter Hansen, bei denen schon das ungewöhnliche Erscheinungsbild des Teams für Schenkelklopfer und brüllendes Gelächter sorgte. Die beiden alberten herum und spielten derbe Sketche, einige davon aus Nauckes Feder.
Solidarität mit Menschen in Not
Wie Lars Amenda schreibt, hielten Naucke und Peter Hansen dem Publikum, das sich über ihre Späße schlapp lachte, bei Auftritten aber auch immer einen Spiegel, was allerdings wohl nur die wenigsten gemerkt haben dürften. „Emil Naucke und Peter Hansen mussten seit jungen Jahren Hänseleien und Mobbing erdulden, bis sie ihre körperlichen Besonderheiten in beruflichen Erfolg und letztlich Wohlstand ummünzen konnten“, schreibt er dazu.
„Bei beiden stärkte dies Menschlichkeit und Solidarität mit Menschen in Not, denen insbesondere Emil Naucke regelmäßig und mittels seiner Berühmtheit nach Kräften unter die Arme griff.“ Dass Emil Naucke Tag für Tag mehrere Vorstellungen absolvierte und seinem Körper dabei alarmierend viel abverlangte, interessierte damals niemanden.
Ein eigener Radfahrclub nur für Schwergewichtige
Als das Fahrrad in Mode kam, trainierte Naucke im Velodrom an der Holstenstraße, einer rund 2500 Quadratmeter großen Halle. „Aufgrund seines sportlichen Charakters dürfte er schnell Fortschritte gemacht haben“, vermutet Lars Amenda. Geschäftstüchtig und originell wie immer präsentierte er sich auf Postkarten als „schwerster Radfahrer der Welt“ und gründete umgehend den „Radfahrclub (RC) Naucke“.
Bei dem konnte aber nur Mitglied werden, wer mindestens 100 Kilo wog. Radnummern, die er gemeinsam mit Peter Hansen ausführte, wurden fortan fester Bestandteil des Programms in Nauckes Varieté, darunter ein skurriles Synchronfahren.
Emil Nauckes früher Tod vor 121 Jahren hing tragischerweise sowohl mit seinem umfangreichen karitativen Engagement als auch mit dem Radfahren zusammen. Beim Fest des Bundes Deutscher Radfahrer in Sagebiels Sälen an der Drehbahn waren Naucke und Peter Hansen einmal mehr als Gag-Radler im Einsatz.
Es wurde Geld gesammelt für „Warteschulen“, die den heutigen Kindergärten ähnelten. Nach dem Absteigen klagte Naucke über Unwohlsein und starb unvermittelt an einem Herzinfarkt. – nur 44 Jahre alt. Seine bereits angefangenen Memoiren wurden von Witwe Johanna Naucke nicht fertiggestellt und veröffentlicht – heute gelten sie als verschollen. Emil Nauckes Grabstein auf dem Ohlsdorfer Friedhof ist noch erhalten – wenn auch nicht mehr an der Originalstelle: Nach der Eröffnung des Friedhofmuseums wurde der Obelisk mit seinem Namen dorthin versetzt.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Hamburg