Hamburg. Der Lockdown stellt besonders für Kinder mit Handicap einen Einschnitt ins alltägliche Leben dar. Ein Erfahrungsbericht aus Hamburg.

Der Junge, gelbes T-Shirt, blaue Jeans, windet sich auf dem Boden. Im Hintergrund hört man die liebevolle Stimme der Mutter: „Kannst Du Dir vorstellen, morgen wieder in die Schule zu gehen?“ Jonas schüttelt den Kopf, antwortet schluchzend: „Ich mach das nicht.“

Gesa Borek hat das Video ihres 16-jährigen Sohnes dem Reporter gemailt: „Damit Sie einmal einen Eindruck bekommen, was der Lockdown für uns bedeutet.“ Denn eigentlich geht Jonas gern zur Schule Paracelsusstraße, einer Sonderschule in Hamburg-Rahlstedt mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung. Aber Corona schreddert auch seit fast einem Jahr sein gewohntes Leben – wie bei jedem von uns. Nur dass der Verlust dieser Struktur Menschen mit einem Handicap wie Jonas ungleich härter trifft.

„Unser Sohn hat inzwischen Angst, das Haus zu verlassen"

„Unser Sohn hat inzwischen Angst, das Haus zu verlassen, weil er denkt, dass das verboten ist. Er befürchtet, dass er die Schule nicht mehr verlassen darf, wenn der Lockdown genau dann verschärft werden sollte. Er schläft nachts nur noch sehr spät ein, ist tagsüber schnell erregt und verliert die Kontrolle“, sagt Gesa Borek. Jonas lebt mit dem Fragilen-X-Syndrom, kurz FraX. Die Symptome sind: verzögerte Sprachentwicklung, autistische Züge, Lern- und Verhaltensprobleme, Ängste.

Jonas ist einer von rund 7500 Hamburger Schülerinnen und Schüler, die an einer der 45 staatlichen und privaten Sonderschulen unterrichtet werden. Dazu kommen noch knapp 1600 Schüler mit einem Handicap, die eine Integrationsklasse besuchen. Betroffen sind also fast 6,5 Prozent der 140.000 Erst- bis Zehntklässler.

Einschränkungen besonders hart für Schüler mit Förderungsbedarf

In der öffentlichen Diskussion um die Frage, ob und wann Schulen wieder in einen regulären Präsenz-Modus umschalten sollen, spielen sie dennoch kaum eine Rolle. Dabei leiden Schüler mit Förderbedarf besonders unter den Einschränkungen. „Schule ist gerade für Kinder mit einer Behinderung die soziale Bindungsstätte“, sagt Thilo von Trott, Vorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (Interview auf dieser Seite unten).

Denn diese Kinder und Jugendlichen leben in Familien mit einem ohnehin her­ausfordernden Alltag. Gesa Borek, Sozialpädagogin und Diakonin, und Roland Borek, Diplomkaufmann, haben noch ein weiteres Kind mit FraX: Lars (23), der in einer Einliegerwohnung im Untergeschoss des verwinkelten Hauses in Marienthal lebt. Lars ist von der Krankheit noch stärker betroffen als sein jüngerer Bruder. „Seitdem er nicht mehr in der Förderschule ist, ging es mit ihm bergab“, sagt Gesa Borek.

Die ganze Familie leidet unter dem Lockdown

Den regelmäßigen Besuch einer Tagesförderstätte mussten die Boreks unterbrechen, Lars war überfordert. FraX-Betroffene können mit Reizen nur schwer umgehen. Lars schaut am liebsten auf seinem Computer Szenen mit dem Sänger Angelo Kelly: „Er glaubt dann, dass sich Angelo mit ihm unterhält.“ Er hat Pflegegrad fünf, die höchste Einstufung. „Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung“ heißt es dazu im Verwaltungsdeutsch.

Jonas arbeitet gern in der Küche. „Er ist ein Kümmerer, der aufblüht, wenn er etwas geben kann“, sagt seine Mutter. Und er hat komödiantisches Talent. Manchmal sagt er: „Heute ist so ein Tag, an dem ich mit meinem Leben nichts zu tun haben möchte.“
Jonas arbeitet gern in der Küche. „Er ist ein Kümmerer, der aufblüht, wenn er etwas geben kann“, sagt seine Mutter. Und er hat komödiantisches Talent. Manchmal sagt er: „Heute ist so ein Tag, an dem ich mit meinem Leben nichts zu tun haben möchte.“ © Andreas Laible

Und da sind ja auch noch Christian (26) und Moritz (13), die beiden anderen Söhne. Christian studiert Chemie in Oldenburg, Moritz besucht ein Gymnasium, beide sind hochbegabt. „Auch für Moritz ist das schwer. Andere Kinder könnten jetzt mit ihren Geschwistern mal was spielen. Aber mit Jonas ginge höchstens Mau-Mau. Und auch dann würde er immer gewinnen.“ Der Jüngste der Boreks besucht Seminarangebote für Kinder, die mit Geschwistern mit einer Behinderung aufwachsen.

Symptome von FraX: autistische Züge und Ängste

„Manchmal denke ich morgens um acht Uhr, dass ich eigentlich schon mein Tagwerk vollbracht habe“, sagte Gesa Borek in einer Phase, als Corona für die meisten Menschen nur eine Biersorte war. Die reine Pflege inklusive Windeln wechseln ist schon anstrengend genug. Doch noch mehr zehrt der psychische Stress an der Substanz. Kinder mit FraX können mit Druck nicht umgehen.

„Ich darf nicht unsicher wirken. Ich muss immer die Ruhe bewahren, egal in welcher Situation oder unter welchem Zeitdruck ich mich selbst befinde“, sagt Gesa Borek. Es wäre vergebens, Jonas zu bitten, noch fünf Minuten zu warten, bis sich Mama kümmern kann: „Er hat kein Gespür für Zeit. Ich müsste eine Eieruhr stellen.“

Struktur besonders wichtig für Schüler mit Förderbedarf

Umso wichtiger ist für Schüler wie Jonas Verlässlichkeit. Das Gerüst, gezimmert aus Schulstunden, Therapien und Familienleben, bietet Halt. Bricht ein Baustein weg, fällt das Gerüst in sich zusammen – und damit die Struktur. „Jonas’ Welt ist auf die häusliche Umgebung geschrumpft und zwei Therapie-Einheiten die Woche“, sagt Gesa Borek.

Dabei könnten die Boreks ihren Sohn durchaus zur Schule schicken, Hamburg hat bekanntermaßen nur die Präsenzpflicht aufgehoben. „Fernunterricht ist für die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen nur eingeschränkt bis sehr eingeschränkt ertragreich. Deshalb war es von Anfang unser Ziel, diese Kinder in die Schule zu holen, um dort auch die therapeutischen Angebote sicherzustellen“, schreibt die Schulbehörde auf Abendblatt-Anfrage. Die Schulen würden sich dabei in einem „Spannungsverhältnis der Versorgung der Schülerinnen und Schüler einerseits und der hohen Inanspruchnahme des Präsenzunterrichts andererseits bewegen.“

Schule appelliert an Eltern, Kinder zu Hause zu behalten

In diesem Spannungsverhältnis leben die Boreks Tag für Tag. „Wir sind als Eltern eindringlich angehalten worden, wenn irgend möglich unsere Kinder zu Hause zu behalten“, sagt Gesa Borek. In einem Elternbrief der Schule vom 21. Januar heißt es: „Schicken Sie Ihr Kind nur in die Schule, wenn es keine andere Betreuungsform gibt. Leider gehören wir immer noch zu den wenigen Schulen, die eine hohe Anzahl der Schüler in der Schule betreuen. Wir möchten Sie bitten, uns darin zu unterstützen, die hohe Anmeldezahl zu reduzieren. Wir alle wollen gesund bleiben!“

Für das, was die Behörde „Spannungsverhältnis“ nennt, hat niemand mehr Verständnis als Gesa Borek: „Die Sorgen von Lehrer und Erziehern verstehe ich komplett. Ich werde auch angesabbert von meinem Kind. Und Pflege mit 1,50 Meter Abstand geht nicht, es sei denn, man ist ein Oktopus.“ Entsprechend gespalten ist auch die Elternschaft bei der Frage, ob man auf Fern- oder Präsenzunterricht setzen sollte: „Es gibt Eltern in der Risikogruppe, die ihr Kind lieber daheim betreuen möchten. Und es gibt Eltern, die ihr Kind weiter in die Schule schicken wollen, weil es nur dann entsprechend gefördert wird.“

Kombination von Fern- und Präsenzunterricht zu anstrengend

Der Kompromiss scheint auf der Hand zu liegen: Eine Kombination je nach Wunsch aus Fernunterricht und Besuch in der Schule. Klingt gut – doch für Schüler wie Jonas nur auf dem Papier. „Wir hatten Jonas im Januar für jeweils zwei Tage in der Schule angemeldet, um ihn aus seiner Isolation herauszuholen.

Aber sein Klassenverband ist aufgelöst worden, er hätte an diesen Tagen drei unterschiedliche Betreuungskräfte gehabt.“ Nicht machbar für ein FraX-Kind mit autistischen Zügen: „Jonas hätte das in seiner momentanen psychischen Verfassung niemals geschafft.“

Technische Probleme erschweren Videokonferenzen

Hinzu kommen technische Probleme, das WLAN im Klassenzimmer ist schwach. Dabei wäre Jonas durchaus in der Lage, an Videokonferenzen teilzunehmen. Gesa Borek will das ausdrücklich nicht als Schuldzuweisung an das Klassenteam verstehen, im Gegenteil: „Die Lehrerin und der Erzieher sind meine Helden des Jahres. Wie sie unter den bestehenden Bedingungen Bildung ermöglichen, die Gemeinschaft stärken und versuchen, die Schüler gesund durch die Pandemie zu bringen, ist einen Orden wert.“

Gerührt berichtet sie, wie die Lehrerin die Schüler motiviert hat, ein Vogelhäuschen zu bauen – und nun sogar das Material zu ihnen nach Hause bringt.

Kritik an Ausbau der Digitalisierung

Die Versäumnisse sieht Gesa Borek wie so viele Eltern in Deutschland in der Politik: „Alles wird dem Ziel untergeordnet, Corona aus der Einrichtung herauszuhalten. Aber das ist nicht alternativlos. Alternativlos wäre gewesen, sich neun Monate auf diese Entwicklung vorzubereiten.“ Man hätte die Zeit seit dem ersten Lockdown besser nutzen müssen.

Für den Ausbau der Digitalisierung. Für bessere Hygienekonzepte, gerade in Sonderschulen. Auf dem Weg hin zu einer Verlässlichkeit, die Jonas dringend braucht: „Mit einem tageweisen Unterricht nach Stundentafel in einer festen Kleingruppe. Mit sicheren Absprachen und Plänen, was für Aufgaben anstehen. Und regelmäßigen virtuellen Kontakten als Ergänzung, die ihm zeigen, alle sind noch da, nur eben woanders.“

Jonas kann durch die Pandemie Praktikum nicht machen

Stattdessen fürchtet Gesa Borek nun, dass ihr Sohn zu den großen Verlierern der Pandemie zählen wird. Denn Jonas besucht die zehnte Klasse seiner Sonderschule, die Oberstufe. In dieser Zeit werden vor allem Praktika angeboten. Jonas etwa liebt Laub zu harken und Gemüse zu schnibbeln. Doch wegen des Infektionsrisikos bietet kein Gartenbaubetrieb, keine Großküche solche Praktika an.

„Wir haben jetzt einen Oberstufenschüler ohne Plan, ohne Praktika, ohne Orientierung, wie es nach der Schule weitergehen kann und ohne innere Kraft, sich auf den wichtigen Übergang in die nachschulische Lebenswelt einzulassen. Ich vermag nicht zu sagen, wann diese seelischen Wunden bei meinem fragilen Kind heilen werden.“

Boreks müssen abwägen, ob sie Jonas in die Schule schicken

Umso größer ist nun das moralische Dilemma der Boreks. Denn natürlich könnten sie, das versichert die Behörde ausdrücklich, in ihrer besonderen Lebenssituation mit einem weiteren schwerstbehinderten Sohn, Jonas jeden Tag in die Schule schicken. Zumal auch der ältere Bruder unter der Pandemie leidet.

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Seinen besten Freund, einen Weggefährten mit Downsyndrom, darf er kaum noch sehen, weil der zur Risikogruppe gehört. Und das Schwimmbad, wo Lars behutsam in einer kleinen Gruppe wieder an den Besuch einer Fördertagesstätte gewohnt werden sollte, hat ebenfalls dicht.

Lehrerin hätte 40 Prozent der Schüler in Präsenz

„Doch wenn wir Jonas in die Schule schicken, würde ich nur den Schwarzen Peter zur Lehrerin zurückspielen, die dann 40 Prozent der Schüler in der Präsenz hätte, weit mehr als in Corona-Zeiten erwünscht“, sagt Gesa Borek.

Und der Gedanke, dass andere Eltern zugunsten von Jonas ihr Kind daheim betreuen, wäre für sie kaum auszuhalten: „Ich bin studierte Sozialpädagogin, wir haben im wahrsten Sinne des Wortes Raum, die Geschwister zu entzerren, und wir sind bereits vor Corona erprobt im Aushalten von eigentlich Unmöglichem gewesen. Ich kann noch.“

Kinder mit speziellen Bedürfnissen mehr in den Fokus setzen

Viel schlimmer sei die Situation doch für den traumatisierten Flüchtling, der mit seinen Eltern um Asyl kämpft. Oder für zwei andere Schüler, deren Eltern kaum deutsch sprechen. Oder für Kinder mit einem noch höheren Betreuungsbedarf, Schüler mit Selbst- und Fremdaggressionen, hyperaktive Wegläufer oder Kinder, die sich verbal überhaupt nicht äußern können. „Es geht hier nicht allein um Jonas. Es ist überfällig, dass die Gesellschaft gerade in dieser Pandemie auf alle Familien mit Kindern mit Behinderung schaut.“