Hamburg. Nazis hatten der in Hamburg groß gewordenen Ingeborg Rapoport die Promotion verweigert. Mit 102 Jahren erhielt sie im UKE die Doktorwürde.

In der dritten Staffel der Fernsehserie „Charité“ (dienstags, 20.15 Uhr, ARD, auch in der Mediathek) wird ihr Werdegang im Ost-Berlin der frühen 1960er-Jahre nachgezeichnet: Dort spielt die ideal besetzte Schauspielerin Nina Kunzendorf die pragmatisch-mutige und auch etwas unterkühlte Medizinerin Ingeborg Rapoport, die immer wieder mit den Schwierigkeiten des Klinikalltags zu kämpfen hat und sich nicht unterkriegen lässt.

Couragiert setzt sie sich gegen ihren konservativen Gegenspieler Prof. Helmut Kraatz (Uwe Ochsenknecht) zur Wehr, um ansonsten in hohem Tempo viele kleine Wundertaten zu vollbringen: Mal rettet sie einen poliokranken Jungen, dann wieder ein Baby mit Gelbsucht – dramatische Kurzepisoden und letztlich nicht mehr als Momentaufnahmen, wie sie für solche Serien typisch sind.

Dabei ist die Lebensgeschichte der „echten“ Ingeborg Rapoport so abwechslungsreich und dramatisch, so faszinierend auch, dass man daraus einen abendfüllenden Spielfilm machen könnte. Vor fünfeinhalb Jahren machte die in Hamburg aufgewachsene Medizinerin, im hohen Alter von 102 Jahren noch einmal bundesweit Schlagzeilen, als ihr im UKE der Doktortitel verliehen wurde. Rapoport die damit zur ältesten Neupromovierten der Welt wurde, faszinierte mit Scharfsinn, Humor – und mit Geschichten aus einem Jahrhundertleben.

Ingeborg Syllm wuchs am Loogestieg in Eppendorf auf

Sie wurde 1912 als Ingeborg Syllm (ursprünglich: Sillem) im afrikanischen Kamerun geboren. Kurze Zeit später kehrten die Eltern nach Deutschland zurück, zogen nach Hamburg und ließen sich 1928 scheiden. Wie sie später erzählte, wollte Ingeborg, die am Loogestieg aufwuchs und die Heilwigschule besuchte, schon früh Ärztin werden, und alles schien darauf hinauszulaufen, dass ihr Traum wahr werden würde.

Ihr Medizinstudium schloss sie 1937 mit dem Staatsexamen ab und schrieb als Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus ihre Doktorarbeit zu Lähmungserscheinungen infolge von Diphtherie. Die Promotion wurde ihr dann aber von den nationalsozialistischen Hochschulbehörden verweigert, weil sie aufgrund ihrer jüdischen Großeltern mütterlicherseits als „jüdischer Mischling ersten Grades“ eingestuft wurde. Im September 1938 emigrierte sie in die USA, wo ihr Studium nicht anerkannt wurde.

Als Folge musste sie zwei weitere Jahre am Women’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia studieren, was ihr nur mithilfe eines Stipendiums möglich war.
Jahre später berichtete Rapoports Tochter Susanne Richter über diese Zeit, dass ihre Mutter trotz aller Schwierigkeiten nie Energie und Zuversicht verloren habe. In einem Empfehlungsschreiben von damals hieß es wörtlich: „Sie besitzt keinen Heller – und das Schlimmste: Es kümmert sie nicht.“

Wichtige Zeitzeugin

An der University of Cincinnati lernte sie den Mediziner Samuel Mitja Rapoport (in der „Charité“-Serie gespielt von Anatole Taubmann) kennen, den sie 1946 heiratete und mit dem sie vier Kinder hatte. Politisch standen beide Rapoports ganz links, unter anderem engagierten sie sich in der Kommunistischen Partei der USA. 1952 siedelte die Familie in die DDR über, wo sich Ingeborg Rapoport 1959 habilitierte. Im selben Jahr wechselte sie an die Charité, wo sie bis zu ihrer Emeritierung an der Kinderklinik tätig blieb. In der DDR waren die Rapoports privilegiert und linientreu, eine Tatsache, die auch in der Fernsehserie deutlich wird. Bis zuletzt hielt die hoch dekorierte Medizinerin, die auch SED-Mitglied war, an ihren Überzeugungen fest und verteidigte das DDR-Regime gegen „Verleumdungen“ aus dem Westen.

Während ihrer letzten Lebenshälfte war Ingeborg Rapoport in Fachkreisen als Medizinerin bekannt und angesehen, andere verbanden mit ihrem Namen auch ihre Funktion als wichtige Zeitzeugin.
Dass sie dann spät und quasi über Nacht noch zu einer Berühmtheit wurde, ist eine Geschichte für sich. Mehr als 70 Jahre nach ihrer Emigration hörte der Dekan des UKE, Prof. Uwe Koch-Gromus von dem Fall. Er beschloss, der hoch betagten Berlinerin, die einst um ihren Doktortitel betrogen worden war, die entsprechende Prüfung nachträglich noch zu ermöglichen.

Ingeborg Syllm, wie Rapoport damals
hieß, im Jahr 1938.
Ingeborg Syllm, wie Rapoport damals hieß, im Jahr 1938. © Susanne Richter

Rapoport konnte die abgeschlossene Doktorarbeit, anders als zunächst angenommen, in ihren Unterlagen zwar nicht mehr finden, aber immerhin lag ihr noch ein Zertifikat ihres potenziellen Doktorvaters von einst, Prof. Rudolf Degkwitz, vor, auf dem er ihr einst bescheinigt hatte, die Arbeit geschrieben zu haben. Und: Wie Degkwitz damals festhielt, hätte er die Arbeit auch angenommen, „wenn nicht die geltenden Gesetze wegen der Abstammung des Frl. Syllm die Zulassung zur Promotion unmöglich machten“. Für Uwe Koch-Gromus stand damit fest, dass Ingeborg Rapoport eine zweite Chance zu Promotion erhalten müsse – auch noch viele Jahrzehnte später.

Medizinerin bereitete sich mithilfe von Freunden auf das Prüfungsgespräch vor

Da die Grundvoraussetzungen klar waren, lehnte Koch-Gromus es auch ab, Rapoport „nur“ mit einer Ehrenpromotion zu bedenken – „um der Gerechtigkeit willen“, wie er später sagte. Nachdem auch Promotionsausschuss und Fakultätsrat dem Vorschlag einstimmig zugestimmt hatten, reisten Koch-Gromus und die Co-Prüfer, Prof. Gabriele Grune und Prof. Michael Frotscher zu Ingeborg Rapoport nach Berlin-Pankow. Die mittlerweile 102-Jährige wurde in ihrer Wohnung geprüft, in der sie schon seit 1952 lebte – bei Saft und Keksen. Wie Koch-Gromus dem Abendblatt damals sagte, waren er und seine Kollegen von Rapoports ungewöhnlicher Rüstigkeit total überrascht. Die Medizinerin hatte sich mithilfe von Freunden auf das Prüfungsgespräch vorbereitet, bei dem sie sich laut Koch-Gromus absolut auf dem Stand der aktuellen Forschung bewegt habe.

Rapoport 2015 nach ihrer Promotion
mit Uwe Koch-Gromus (UKE).
Rapoport 2015 nach ihrer Promotion mit Uwe Koch-Gromus (UKE). © dpa

Im Nachhinein sei sie sogar ärgerlich auf sich selbst gewesen, weil ihr drei Fachbegriffe nicht sofort eingefallen seien. Ihre Arbeit habe sie kritisch in aktuelle wissenschaftliche Zusammenhänge einordnen können, wobei sie durchaus auch selbstkritisch vorgegangen sei.

Nie zuvor erlangte ein so alter Mensch einen Doktortitel

Im Juni 2015 – 77 Jahre nach ihrer Emigration – betrat Ingeborg Rapoport in Begleitung ihrer Kinder und Enkel das UKE, um ihre Doktorurkunde entgegenzunehmen. Nie zuvor hatte ein derart hoch betagter Mensch einen Doktortitel erlangt – und es ist schwer vorstellbar, dass Rapoports Rekord irgendwann in den Schatten gestellt werden könnte. Mit fester Stimme dankte sie in ihrer kurzen Ansprache für die Ehrung und erinnerte an diejenigen, „die diesen Tag nicht erleben und Ähnliches wie ich erlebt haben – und viel Schlimmeres“.

Die Feierstunde hatte durchaus etwas Fröhlich-Versöhnliches. Das lag vor allem daran, dass die mittlerweile fast völlig erblindete Ingeborg Rapoport die Zeremonie mit freundlicher Gelassenheit durchstand und dabei Optimismus und Lebensenergie vermittelte. Ihre Tochter Susanne erinnerte in einer Rede daran, dass es aber durchaus auch andere Lebensphasen gegeben habe.

So sei ihre Mutter kurz vor der Reise nach Hamburg wieder von dem Gefühl tiefer Einsamkeit und Verlassenheit befallen worden, das sie einst nach ihrer Emigration in die USA in dem für sie völlig fremden Land empfunden hatte. Diese Gefühle seien offenbar jahrelang von ihr verdrängt worden und dann wiedergekehrt.

Ingeborg Rapoport starb im März 2017 in Berlin.