Hamburg. Es dürfte in ganz Hamburg niemanden geben, der sich mit Weihnachten so gut auskennt wie Rüdiger Vossen. In seinem Buch „Weihnachtsbräuche in aller Welt“ beschreibt der Nienstedtener das weltweite Brauchtum zwischen St. Martin (11. November) und Mariä Lichtmess (2. Februar).
Besuch bei Dr. Rüdiger Vossen im Hamburger Westen: Der bekannte Ethnologe hat rund 25 Jahre lang die Eurasien-Abteilung des heutigen Museums am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK) geleitet und war zeitweise dessen kommissarischer Direktor. Jemand wie Vossen, der mit seiner Frau, der Künstlerin und Ethnologin Nana Gabriele, seit Jahren im Wohnmobil durch die Welt reist und traditionelles und mittlerweile überall aussterbendes Handwerk erforscht, nähert sich dem Thema Weihnachten nicht auf kitschig-sentimentale Weise. Seine Studien haben viel wissenschaftlich Untermauertes, aber vor allem Neues und Faszinierendes zum Weihnachtsbrauchtum erbracht – und zwar von Europa bis Amerika, Afrika und Asien.
Zu den Fakten: Achtzig Tage umfasst der gesamte Weihnachtsfest-Zyklus, und jedes Fest hat, egal wo auf der Welt, im Laufe der Zeit immer neue Variationen erfahren. Dadurch ist das Thema schwerer zu greifen, als es sich Außenstehende vorstellen. Selbst innerhalb Deutschlands ist die Bandbreite des weihnachtlichen Brauchtums groß und spiegelt unterschiedliche kulturelle Entwicklungen wider. Das eher römisch und katholisch geprägte Süddeutschland und das Rheinland feiern anders als das eher germanisch und protestantisch geprägte Nord- und Ostdeutschland.
Bandbreite weihnachtlichen Brauchtums ist groß
In Vossens Buch tauchen dann auch nicht nur Christkind, Weihnachtsmann und Baum auf, sondern er schreibt beispielsweise auch von den Klopf- und Raunächten, in denen das „Wilde Heer“ und die unheimlich maskierten Perchten unterwegs sind.
Vossen beschreibt in seinem Buch auch, wie die Flut der Weihnachtsmärkte in der Hansestadt entstand. Ursprünglich hatte es in der Stadt nur eine vergleichbare Veranstaltung gegeben: den sogenannten Schappendom im alten, 1804 abgebrochenen Dom am Speersort. Dort bauten in der (Vor-)Weihnachtszeit vor allem Zuckerbäcker, Puppen- und „Galanteriewarenhändler“ ihre Buden auf, und die Besucher drängten sich laut Zeitzeugenberichten schließlich teilweise so dicht, dass in den Gängen höchstens zwei Menschen nebeneinander gehen konnten.
Weihnachtsmärkte wurden übrigens ursprünglich in allen Städten auf einem Platz in der Nähe der jeweiligen Hauptkirche veranstaltet. Der Grund: Die Kauflust der Gläubigen sollte vor und nach den weihnachtlichen Gottesdiensten angereizt werden. „Das Geld saß in dieser Zeit locker“, weiß Vossen, „weil zum Beispiel die Dienstmädchen ihren ,Weihnachtstaler‘ erhielten – vergleichbar unserem heutigen Weihnachtsgeld.“
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Nach dem Abbruch des alten Gotteshauses entwickelte sich das Ganze zunehmend zu einem Jahrmarkt mit Schaubuden und Schaustellern – dem heutigen Dom auf dem Heiligengeistfeld. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Straßendom durch eine wachsende Zahl privater Weihnachtsbasare Konkurrenz erhalten. „Diese versuchten durch immer neue Attraktionen, die Betreiber konkurrierender Basare zu überbieten, um Weihnachtskunden abzuwerben“, schreibt Vossen.
Kinder kündigten mit Schellen und Glöckchen St. Nikolaus an
Wenig bekannt ist, dass St. Nikolaus als Schutzheiligem der Seefahrer überall in Europas Hafenstädten Kirchen und Kapellen gewidmet wurden – so auch St. Nikolai in Hamburg. Der Nikolaus wurde als Gabenbringer sukzessive vom (später erfundenen) Weihnachtsmann abgelöst. Dessen Erscheinen kündigten bei weihnachtlichen Umzügen einst Kinder mit Schellenkränzen oder Glöckchen an, die in Hamburg „Kindjes“ oder „Klinggeest“ genannt wurden.
Erstaunlich: Dass man in alten Zeiten auf Geschenkberge für Kinder verzichtete, hatte nicht nur mit Geldmangel zu tun. Vossen zitiert aus den Erinnerungen des Hamburgers Berend Goos, der die Weihnachtsfeste seiner Kindheit in den 1850er-Jahren beschreibt. Danach war es keineswegs ungewöhnlich, dass die Geschenke der Kinder alle paar Jahre recycelt wurden: „Ich erhielt in meinem dritten oder vierten Lebensjahr ein sehr hübsches hölzernes Pferd, einen Schimmel auf Rollen. Im nächsten Jahr vor der Weihnachtszeit verschwand plötzlich der Schimmel, und am Weihnachtsabend erschien dafür ein schöner Goldfuchs, dessen Gestalt der des früheren Schimmels zum Verwechseln ähnlich war.“ Goos‘ Fazit: „(…) eine sehr weise Ökonomie sorgte dafür, dass bei den Eltern das Besorgen der Geschenke keine Last, bei den Kindern das Empfangen keine Übersättigung hervorbrachte.“
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