Hamburg. Wie Rituale in Krisenzeiten helfen können, wie neue entstehen und warum sie an Weihnachten so wichtig sind: Im aktuellen Himmel & Elbe.

„Papa, liest du mir noch etwas vor?“ Viele Eltern kennen diese Frage ihrer Kinder nach der gewohnten Geschichte vor dem Einschlafen. Kinder lieben Wiederholungen und die damit verbundenen Rituale und fordern ihre regelmäßige Einhaltung ein. Rituale wie die Geschichte am Abend geben Struktur und vertiefen die Beziehung, sie vermitteln damit Orientierung und Verlässlichkeit. Das spüren und wissen nicht nur Kinder, sondern auch wir Erwachsenen.

Wir alle kennen Rituale. Dazu gehören religiöse Praktiken wie Gebete, Besuche von Gottesdiensten, das Feiern von Festen im Jahreskreis wie Weihnachten und Ostern oder auch Alltagsrituale wie der Kuss zum Abschied, der „Tatort“ am Sonntagabend oder das gemeinsame Frühstück am Wochenende. Mit Ritualen, häufig in Gemeinschaft mit anderen vollzogen, ordnen wir unseren Tag und besondere Zeiten unseres Lebens. Doch was genau ist ein Ritual? Und was unterscheidet es von einer bloßen Gewohnheit oder Routine?

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Ein Handschlag kann Konvention oder Verbundenheit ausdrücken

Oft wird gleichbedeutend mit „Ritual“ auch von „Ritus“ gesprochen. Beide Begriffe verweisen schon vom Wortsinn her ins Religiöse. Das lateinische Wort ritus meint eine religiöse Vorschrift oder einen religiösen Vollzug. Es geht bei einem Ritual also um mehr als nur um eine Handlung, die wir aus Gewohnheit oder verbunden mit einem praktischen Zweck regelmäßig wiederholen, wie das tägliche Zähneputzen.

Die Religionspädagogen Albert Biesinger und Friedrich Schweitzer beschreiben Rituale als Handlungen, „die etwas Tieferes zum Ausdruck bringen als nur die Handlung selbst“. Es sind Vollzüge, die wiederholt werden und einen symbolischen Wert haben. So kann ein Handschlag zur Begrüßung eine Konvention sein, er kann aber auch eine Verbundenheit mit einer Person ausdrücken. Entscheidend ist, was wir mit einem Ritual verbinden und welche Bedeutung wir ihm beimessen.

In allen Religionen sind Rituale wichtig und unverzichtbar. Sie drücken den Glauben in Gedanken, Worten und Symbolen aus. Wir kommunizieren mit Ritualen. Sie können auf zweierlei Weisen wirksam werden: Von außen nach innen, wenn wir uns vorgegebene Riten individuell aneignen und diese für uns zu einer eigenen religiösen Erfahrung werden, wie zum Beispiel ein Gebet, das ich als Kind gelernt habe und das sich auch im Erwachsenenalter bewährt. Oder Rituale wirken von innen nach außen, wenn ein eigenes Bedürfnis einen Ausdruck in einem Ritual findet, wie etwa der Gang zum Grab am Todestag eines geliebten Menschen. So kann Glaube sich weiterentwickeln und neue Rituale schaffen.

Rituale sind mehrdeutig und offen für verschiedene Auslegungen. So verbindet wohl jeder Mensch etwas anderes mit einem Ritual, das gern praktiziert wird. So kann die Bedeutung einer entzündeten Kerze unterschiedlich sein, aber selten geht es nur darum, dass es heller wird. Viel wichtiger ist die eigene Deutung des Symbols Kerze, etwa als Zeichen der Hoffnung oder der Erinnerung.

Die Nazis nutzten Fackelzüge als Mittel der Propaganda

Andererseits stehen Rituale aber auch in der Gefahr, für bestimmte Zwecke instrumentalisiert oder missbraucht zu werden, etwa wenn sie mit Zwang ausgeübt werden oder der Disziplinierung dienen. Das gilt auch für religiöse Rituale. So verliert etwa das Gebet seinen wertvollen Sinn, wenn es mit Druck und ohne Zustimmung gesprochen wird. Rituale können auch manipulativ wirken. So waren zur Zeit des Nationalsozialismus Fackelzüge oder Massenaufmärsche ein Mittel der Propaganda. Sie sind bewusst eingesetzt worden, um das Bedürfnis nach Identität und Gemeinschaft für politische Zwecke zu nutzen. Manches religiöse Ritual geht auch verloren, da es nicht mehr verstanden wird, wie zum Beispiel der katholische Brauch, ein frisches Brot mit einem Kreuz zu segnen.

Ein waches Nachdenken über die Praxis von Ritualen ist also wichtig. „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat“, sagte schon Jesus. Es gilt zu unterscheiden zwischen Ritualen, die dem Menschen freiheitliche Entwicklung ermöglichen, und solchen, die diese Entwicklung eher hemmen oder einschränken. Ebenso wie Rituale gedeutet werden müssen, um in ihrem umfassenden Sinn wirken zu können, so benötigen sie auch Menschen, die sie immer wieder frei und bewusst vollziehen und reflektieren.

Vorlesen wird für Kinder zum behüteten Übergang in die Nacht

Das Vorlesen am Abend ist mehr als nur eine Geschichte, nämlich gemeinsame Zeit, Beziehung und für Kinder der behütete Übergang in die Nacht. So verstanden sind Rituale Unterbrechungen des Alltags, der Geschäftigkeit und des Notwendigen. Und zugleich fragen wir mit ihnen nach dem Sinn des Lebens und deuten es. Das Ritual weist über das Hier und Jetzt hinaus. In dieser Überschreitung liegt das Besondere von Ritualen, ein Mehrwert, der auch religiös gedeutet werden kann.

Rituale können eine große Kraft entwickeln, die gerade in schweren Zeiten hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren. So berichtet Peter Steudtner, ein Menschenrechtler, der vor drei Jahren 133 Tage in türkischer Haft verbringen musste, dass er jeden Abend um 18 Uhr auf dem Boden seiner Zelle gesessen und dieselben Lieder gesungen hat wie zur gleichen Zeit die mit ihm befreundeten Menschen in einer Kirchengemeinde in Berlin. Das Ritual hat ihn in seiner Ausnahmesituation mit vertrauten Menschen verbunden und Halt gegeben. Er sagt: „Es war sehr berührend, diese Energie zu spüren.“

Struktur, Halt und Sicherheit auch in der Corona-Krise

Auch in unserem Alltag, der stark durch das Coronavirus geprägt ist, können sich Rituale positiv auswirken und Struktur, Halt und Sicherheit geben. Es entwickeln sich durchaus auch neue Rituale in der Krise – etwa zur Begrüßung und zur Verabschiedung. Und trotz sozialer Distanz und ohne die gewohnten Rhythmen vergewissern wir uns durch solche Rituale, dass unsere Beziehungen tragen und Verbindungen bleiben. Das gilt für Familie und Freundeskreis ebenso wie für kollegiale Teams. Wenn es in unserer Zeit ausdrucksstarke Bilder für den Sinn und die Bedeutung von Ritualen gibt, dann sind es diese: Rituale sind Anker in unruhigen Zeiten. Und sie sind Segel, die in Bewegung bringen, was das Hier und Jetzt überschreitet, Hoffnung gibt und den Blick in die Zukunft weitet.

Die Autorin ist Theologin und leitet das Referat „Religionspädagogik in Kitas“ im Erzbistum Hamburg.