Matthias Glaubrecht nimmt sich an diesem Herbstnachmittag Zeit für eine Radtour. Sie führt den Zoologen und Direktor des Zentrums für Naturkunde an der Universität Hamburg von Sasel bis zur Stadtgrenze – zum Ahrensburger Tunneltal. Glaubrecht kennt es seit seinen Kindheitstagen.
Es ist eine Region, die von der letzten Eiszeit vor rund 20.000 Jahren geformt wurde. Hier, zwischen Hamburg und Ahrensburg, lebten einst während der großen Gletscherschmelze Rentierjäger mit schwarzer Haut und blauen Augen. Das war vor rund 12.000 und 14.000 Jahren. Sie sahen den heutigen Menschen zum Verwechseln ähnlich und waren die ersten anatomisch modernen Menschen, die den Norden Europas besiedelten. Und hier wurden in den 1930er-Jahren die ältesten Pfeile der Menschheitsgeschichte gefunden. Noch heute prägen mit Gräsern und Glockenblumen bewachsene Drumlins (rückenförmige Hügel) das Antlitz der einst von Eis und Gletschern geformten Landschaft. Die wellenförmigen Wiesen erstrecken sich vom früheren Truppenübungsplatz Höltigbaum bis zum Ahrensburger Tunneltal.
Biologische Vielfalt erhalten
An einem solchen eiszeitlichen Hügel wartet auf Professor Glaubrecht die Umwelt- und Naturschützerin Svenja Furken. Sie trägt, unweit der Bahnschranke „Brauner Hirsch“ bei Ahrensburg, einen schicken Hut und eine Mappe unterm Arm. Darin befindet sich eine Zeichnung mit der Animation einer Brücke der Deutschen Bahn. Diese Querung soll nach den bisherigen Plänen des Unternehmens über die Schienen am „Braunen Hirsch“ führen und die auch als Geotop geschützte Landschaft drastisch verändern – und womöglich bedrohen. „Ich freue mich, dass Sie da sind und uns unterstützen“, sagt Svenja Furken aus Ahrensfelde zu Matthias Glaubrecht, dem Professor für Biodiversität. Sein neues Buch „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“ hat viele Leser aufgerüttelt.
Am Ende des Gesprächs mit Svenja Furken, die mit der IG Tunneltal gegen das Bahnprojekt mit dem Ausbau der S 4 und dem stark wachsenden Güterverkehr kämpft, wird der Forscher und Hochschullehrer sagen: „Wenn die Bahn das realisiert, ohne Alternativen zu prüfen, verliert Deutschland endgültig seine Glaubwürdigkeit bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt. Wenn wir es hier nicht schaffen, die Biodiversität zu erhalten, dann schaffen wir es nirgendwo.“
Ökologische Folgen
Während nahezu pausenlos Autos durch die geöffnete Schranke fahren, berichtet nicht weit entfernt davon Svenja Furken von archäologischen Grabungen. Der Hamburger Forscher und die Ahrensburger Umweltschützerin blicken zu den Eichen an einem Drumlin, dem Stellmoor Hügel. Einst erstreckte sich an dieser Stelle ein sieben Kilometer langer See, an dem die Rentierjäger vor 12.000 und 14.000 Jahren Jagd auf vorbeiziehende Rentiere machten. Was dort alles noch schlummern könnte, haben die Archäologen für ein Fachgutachten im Auftrag der Bahn herausgefunden. „Die Hochrechnung für die gesamte Untersuchungsfläche am Bahnübergang Brauner Hirsch ergab, dass hier etwa 260.000 Einzelstücke zu erwarten sind – Werkzeuge, Knochenreste und anderes“, sagt Svenja Furken.
Professor Matthias Glaubrecht hält es für nicht ausgeschlossen, dass in sechs Meter Tiefe ein „Steinzeit-Ötzi“ seine letzte Ruhe gefunden haben könnte und ein solcher Sensationsfund möglich wäre. Diese Mumie wäre mehr als doppelt so alt wie der vor einigen Jahren entdeckte Ötzi aus dem Gletschereis.
Was auf dem Spiel steht, bringt Svenja Furken so auf den Punkt: „Das ist so, als würde man an den ägyptischen Pyramiden von Gizeh eine Bahntrasse bauen.“ Die Rentier- und Nomadenkultur repräsentiert nach Ansicht von Matthias Glaubrecht die „Frühphase der Menschheitsgeschichte“ in Nordeuropa, während gleichzeitig die Menschen in der heutigen Türkei erste Ansätze von Sesshaftigkeit entwickelten.
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Was die Umweltschützer elektrisiert, sind nicht nur Auswirkungen für archäologische Forschungen, sondern vor allem die ökologischen Folgen. Es sollen nämlich nicht nur die S-4-Waggons fahren, sondern mehr als 80 Güterzüge innerhalb von 24 Stunden. Die Folgen für den Boden, in denen die eiszeitlichen Schätze schlummern, seien unkalkulierbar. Mindestens genauso schwer wiegen die Eingriffe in das Naturschutzgebiet. Als Flora-Fauna-Habitat (FFH) genießt es den höchsten europäischen Schutzstatus. Professor Glaubrecht warnt vor den geplanten mindestens drei Meter hohen Lärmschutzwänden, dadurch werde der Lebensraum von Tieren auf weiten Strecken getrennt.
Kurz bevor Professor Glaubrecht wieder mit seinem Rad nach Hause fährt, blickt Svenja Furken noch einmal auf die Eichen am Hügel. „Noch ist Zeit, das Projekt zu stoppen“, glaubt sie. „Es müssen endlich Alternativen für den schweren Güterverkehr geprüft werden – zum Beispiel entlang der Autobahn 1“
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