Hamburg. Drei Hamburger Experten geben Tipps, wie wir psychisch gesund bleiben – trotz neuer Einschränkungen in der dunklen Jahreszeit.

Seit mehr als sieben Monaten prägt die Pandemie auch das Leben in Hamburg. Die Angst vor Ansteckung, die Kontakteinschränkungen, das Aufeinanderhocken zu Hause während des Lockdowns – all das hat viele Menschen erschöpft. Selbst wer nach dem zermürbenden Frühjahr den Sommer als vergleichsweise unbeschwert erlebte, musste damit rechnen, dass sich die Lage wieder verschlechtern würde. Jetzt kommt die dunkle Jahreszeit – und weitere Einschränkungen drohen.

Wie stehen wir diese Krise durch, was hält uns psychisch halbwegs fit? Darüber hat das Abendblatt mit drei Experten gesprochen. Sie erklären, welche Haltung und welche Maßnahmen dabei helfen, die Stimmung aufzuhellen.

Es gebe nichts zu beschönigen: „Viele Dinge, die vor der Pandemie selbstverständlich waren, sind komplizierter oder vorübergehend unmöglich geworden – das kann uns traurig, wütend, ja verzweifelt machen“, sagt Dr. Hans-Peter Unger, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Asklepios Klinik Harburg. „Diese Wahrnehmung verstellt aber womöglich den Blick dafür, dass zumindest viele vor allem berufstätige Menschen auch etwas gewinnen können: Zeit.“ Sei es etwa, weil Reisen verschoben worden sind, weil wegen Heimarbeit die Fahrt ins Büro wegfällt oder es weniger Feiern, Konferenzen und andere Zusammenkünfte gibt.

„Aktivität zieht die Stimmung nach oben“

Spreche man mit Menschen in Ländern wie Italien, in denen es sogar Ausgangssperren gab, wie sie in dieser bedrückenden Lage zurechtgekommen seien, erzählten viele etwa, sie hätten gemeinsam gekocht und dabei die Qualität ihrer Ernährung verbessert, sie hätten sich mit Gesellschaftsspielen bei Laune gehalten oder sich bei Computerspielen via Internet mit anderen Menschen zusammengeschlossen. Die Beispiele zeigten: „Es ist sehr wichtig, nicht in Passivität zu verfallen“, sagt Unger. „Aktivität zieht die Stimmung nach oben.“ Die Haltung, nicht zu verharren, sei entscheidend für einen positiven Umgang mit der Corona-Krise, sagt der Therapeut.

„Bildlich gesprochen: Sitzen wir im Warteraum eines Flughafens, wo alle Maschinen am Boden bleiben müssen, und starren voller Anspannung und Ungeduld auf die Anzeigetafel, dass ein erlösendes „Es geht los“ erscheint und alles wieder so wird, wie es war – weil endlich eine Impfung da ist, die uns vor Corona schützt? Oder ist unsere Haltung: Jetzt sind wir zwar hier gestrandet, trotzdem stehen wir jetzt einfach mal auf und orientieren uns neu?“

Unger: „Mir kommt es so vor, als sei die Gesellschaft in manchen Dingen fast wie eingefroren. Wir werden einfach damit leben müssen, dass diese Chose uns noch länger begleitet.“ Erst wenn Menschen sich darauf einstellten, eröffneten sich Möglichkeiten, sagt Unger. „So zu denken ist ungewohnt. Doch auch wenn es zunächst haken mag: Menschen haben die großartige Fähigkeit, sich an verschiedenste Lebensumstände anzupassen.“

 Dr. Hans-Peter Unger (Asklepios Harburg=
Dr. Hans-Peter Unger (Asklepios Harburg= © M.Kuhn/Asklepios | M.Kuhn/Asklepios

Was tut mir gut, woraus ziehe ich Freude?

Was aber kann Handeln bedeuten? „Packen Sie das an, was Sie immer schon machen wollten, aber aus Zeitmangel stets verschoben haben“, rät Unger. Zum Beispiel: Englischkenntnisse aufpolieren. Die schon länger nicht mehr genutzte Geige hervorholen. Einen Roman lesen. Aufwendig kochen. Die Wohnung heimeliger einrichten. Ein Tagebuch schreiben. Fotos sortieren, die an schöne Momente erinnern.

Man könnte gewonnene Zeit auch nutzen, um grundlegenden Fragen nachzugehen, sagt Prof. Stephan Ahrens, Leiter des privaten Hamburger Fach­­zen­trums für Stressmedizin und Psychotherapie. Bin ich eigentlich zufrieden, ja glücklich – und wenn nicht: Woran liegt das, unabhängig von Corona? Was tut mir gut, woraus ziehe ich Freude? Kann ich diesen Faktoren mehr Raum geben? „Eine Beschränkung des bisher gewohnten Aktionsradius kann dazu führen, dass Menschen sich neu definieren“, sagt Ahrens.

Gewonnene Zeit nutzen, um jetzt Neues anzugehen

Neues anzugehen, das könnte auch bedeuten, gerade jetzt andere zu unterstützen, soweit die AHA-Regeln das zulassen, sagt Hans-Peter Unger. Einkäufe für ältere Menschen erledigen, dem Nachbarn helfen, sein Gartenhaus aufzubauen, seinen Cousin anrufen, der vielleicht gerade eine Trennung hinter sich hat. „Unser Nervensystem belohnt uns für sozial wirksame Taten mit guten Gefühlen“, sagt Unger. Was auch für Wohlbefinden sorgen kann, wenn trübe Gedanken näher rücken: Bewegung. Bei einer Joggingrunde, Radtour, bei einer Wanderung im Wald – oder bei einem kurzen Spaziergang um die Ecke. Das mag im Herbst weniger attraktiv sein als im Frühjahr und Sommer, trotzdem bedeutet es Aktivität, und im Freien ist die Infektionsgefahr erheblich geringer.

Privatdozentin Dr. Carola Bindt (UKE)
Privatdozentin Dr. Carola Bindt (UKE) © Privat | Privat

Aktiv zu sein und flexibel umzuschwenken – das ist für jüngere, mobile und digital affine Menschen leichter. Statt im Café können sie sich im Park treffen, statt im Fitnessstudio können sie draußen Sport treiben, statt in geselligen Runden in Innenräumen können sie mehr via WhatsApp, Skype, Zoom Co. kommunizieren, ihr Sozialleben zumindest halbwegs in Takt halten und einer Vereinsamung entgegenwirken.

Wie aber kommen ältere, kaum noch mobile, alleinstehende Menschen ohne Digitalerfahrung mental gut durch den Corona-Herbst? Für diese Gruppe sei das zweifellos schwerer, sagt Hans-Peter Unger. „Wer in einer solchen Lage ist, sollte aber davon ausgehen, dass es vielen anderen Menschen ähnlich geht – und man sich zusammentun könnte.“ Gibt es so jemanden vielleicht im Freundes- oder Bekanntenkreis, mit dem man schon lange nicht mehr gesprochen hat? „Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, zum Hörer zu greifen oder einen Brief zu schreiben und sich auszutauschen“, sagt Unger.

„Sorgen Sie gerade im Herbst und im Winter für möglichst viel Helligkeit“

Vor allem allerdings seien die Angehörigen von älteren Menschen gefragt, sagt Unger. „Der Familienrat sollte zusammenkommen und einen Plan machen: Wie können wir mit unseren Großeltern auch unter Corona-Bedingungen möglichst viel kommunizieren und für Abwechslung sorgen?“ Etwa mit Sicherheitsabstand und Maske in gelüfteten Räumen, bei kurzen Spaziergängen vor der Tür, regelmäßigen Telefonaten oder – wenn Oma und Opa einen Computer haben – per Videochat. Warum nicht vereinbaren, dass die Oma ihren Enkeln zu bestimmten Zeiten vorliest, per Skype oder am Telefon? Umgekehrt: „Die Enkel können ihrer Oma auch mal einen Brief schreiben und ein paar Fotos dazulegen – das allein kann einen trüben Tag schon aufhellen“, sagt Unger.

Apropos: „Sorgen Sie gerade im Herbst und im Winter für möglichst viel Helligkeit“, rät Unger. Dafür müsse man keine Tageslichtlampe kaufen. Es reiche schon, zur Mittagszeit einen Spaziergang zu machen. Selbst bei stark bewölktem Himmel im Herbst könne eine Portion Tageslicht positiv auf die Stimmung wirken. Und wenn tagsüber wirklich keine Zeit für einen Gang vor die Tür bleibe oder es draußen düster sei, sollte man sich zu Hause möglichst oft viel Lampenlicht gönnen.

Zur Zurückhaltung rät Unger beim Informationskonsum. „Es gibt Menschen, die ununterbrochen die Corona-Nachrichten und Diskussionen über die Pandemie in Medien und sozialen Netzwerken verfolgen. Da füllt sich der Tag mit Ängsten und zu vielen Informationen, die ich am Ende gar nicht mehr verdauen kann“, sagt Unger. „Natürlich sollte man informiert bleiben, um neue Corona-Regeln zu kennen und sich verantwortungsvoll verhalten zu können. Aber man sollte sich auf das beschränken, was wirklich wichtig für den eigenen Alltag ist.“

Eltern sollten nicht krampfhaft versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen

Wichtig für Eltern sei es, nicht krampfhaft zu versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen, sagt Privatdozentin Dr. Carola Bindt, kommissarische Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Uniklinikum Eppendorf (UKE). Der Ausfall von Kita und Schule während des ersten Lockdowns sei schon sehr fordernd gewesen für viele Eltern, die zu Hause hin und her pendelten zwischen beruflichen Telefonaten, Videokonferenzen und Computerarbeit einerseits und Puzzle-Spielen, Basteln, Malen, Kochen und Aufräumen andererseits.

Was der Herbst auch bringen mag: „Nehmen Sie Druck raus, seien Sie gnädig mit sich“, rät Bindt. Das Ideal immer währender Hingabe und unerschöpflicher Geduld mit dem Nachwuchs existiere nur in der Theorie. Statt ganz viel Abwechslung bräuchten zumindest jüngere Kinder vor allem vorhersehbare Abläufe und Rituale, die Sicherheit geben. „Alles richtig gemacht haben Eltern schon, wenn sie ihr Kind sicher durch den Tag geleiten und beim Spielen, Essen und Schlafenlegen einigermaßen im Plan bleiben“, sagt Bindt.

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Schulkindern könne es Sicherheit geben, wenn Eltern versuchten, in der Unsicherheit der Corona-Lage vieles vorwegzunehmen, was kommen könnte. Ein Beispiel: Verliert das Kind in der Schule seine Maske, sollte es eine Ersatzmaske dabeihaben und wissen, wo diese sich befindet, um gar nicht erst in einen Schreckmoment hineinzugeraten, sagt Bindt. Sind Situationen, die Sorgen bereiten, einmal durchgespielt worden, werden sie berechenbarer. Helfen könne es den Kindern auch, mit ihnen über ihr Verständnis von Corona und damit verbundene Sorgen zu sprechen.

Auszeiten im Alltag

Eltern wiederum brauchen Auszeiten im Alltag, die nicht erst einsetzen sollten, wenn beide völlig erschöpft sind. „Sprechen Sie sich mit dem Partner oder einer anderen erwachsenen Person verlässlich ab, wer heute wann mit dem Kind vor die Tür geht oder eine Spielrunde allein übernimmt“, rät Bindt. „Wenn die Gereiztheit ansteigt, hilft die Aussicht auf eine sichere Pause.“ Ein Wochenplan könne dafür sorgen, sich daran zu halten.

Kommt es aber doch mal zu Gereiztheit, sollten Eltern darauf achten, dass später am Tag immer eine Versöhnung mit den Kindern stattfinde und es „Wohlfühlzeit“ gebe – etwa bei einem Kakao für alle, sagt Bindt. Das mache deutlich: „Es kann gerade unter Corona-Bedingungen nicht immer harmonisch laufen – trotzdem halten wir als Familie zusammen.“