Hamburg. Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, unsere Mobilität, unsere Kultur, unser Glaube. Der Michel ist gleich doppelt betroffen – als Gotteshaus und als Hamburger Wahrzeichen. Hauptpastor Alexander Röder über Finanzsorgen, Hoffnungsschimmer und Weihnachten in Zeiten der Pandemie.
In Albert Camus’ Buch „Die Pest“ sind nach dem Ausbruch der Pandemie die Gotteshäuser voll – hier wurden sie sofort geschlossen. Ist Corona für die Kirchen eine verpasste Chance?
Alexander Röder: Die meisten Kirchen wurden nicht geschlossen, das ist falsch. Sie waren weitgehend offen, aber staatlicherseits war uns das Feiern von Gottesdiensten verboten. Die Kirchen haben dem schnell zugestimmt, auch weil wir im März so wenig über das Coronavirus wussten. Gerade in den Kirchen sind die Menschen eng beieinander und singen miteinander, da schien die Gefährdung groß. Ich finde es im Nachhinein geradezu visionär, dass wir rasch auf Präsenz-Gottesdienste verzichtet haben. Es ist aber falsch zu sagen, die Kirche habe sich zurückgezogen. Ganz im Gegenteil: Die Kirche hat ganz schnell Modelle entwickelt, wie sie an der Seite ihrer Gemeinde bleiben und Menschen erreichen kann.
Wie denn?
Röder: Wir haben angefangen, eine Liste zu erstellen mit Menschen, die wir täglich angerufen haben. Die Liste wurde immer länger, es waren am Ende Hunderte, vor allem ältere Menschen. Wir haben praktische Hilfe angeboten, beispielsweise für sie einzukaufen. Wir waren erstaunt, dass nur zwei das Angebot angenommen haben. Die Übrigen wurden bereits von ihren Nachbarn oder der Familie versorgt. Das hat gezeigt, wie gut Gemeinschaft in unserer Gesellschaft funktioniert.
Trotzdem haben wir den Eindruck, dass man die Stimme der Kirche kaum vernommen hat in einer Krise, in der viele Menschen Beistand und auch Sinn suchten.
Röder: Das stimmt wohl. Es gab eine Verunsicherung. Die Kirche als Institution musste sich erst einmal selbst sortieren und schauen, wie wir auf die Pandemie reagieren. Auch von der Bundeskanzlerin hat man übrigens erst relativ spät etwas gehört.
Kann man überspitzt sagen: Als die Menschen Beistand und Sinn suchten, war die Kirche mit sich selbst beschäftigt?
Röder: Wer ist denn die Kirche? Viele Menschen haben den Beistand erlebt, weil sich die Gemeinden bei ihnen gemeldet haben. Das ist nicht öffentlich gemacht worden, aber da ist Kirche in ihrer Urform aufgetreten und hat den Menschen vor Ort geholfen. Wir bekommen noch heute Briefe und Anrufe von Leuten, die sich dafür bedanken, dass wir sie so eng begleitet haben. Aber damit gehen wir nicht hausieren.
Wie haben Sie das Osterfest erlebt?
Röder: Das war furchtbar. Fünf Tage zuvor war meine Mutter gestorben. Wir haben zusammen mit Bischöfin Kirsten Fehrs am Karsonnabend einen Ostergottesdienst aufgezeichnet, der am Tag darauf von Hamburg 1 ausgestrahlt wurde. Für uns war es merkwürdig, den Gottesdienst am Tag vor Ostersonntag zu begehen, und es fühlte sich sehr fremd an, Ostern keinen Gottesdienst zu feiern. Wir läuten trotzdem weiterhin die Glocken auch zu allen Gottesdiensten, die nicht stattfinden können. Es mussten in der Osterzeit auch viele Konfirmationen verschoben werden. Am geplanten Konfirmationssonntag hat meine Kollegin in der Kirche die Konfirmationssprüche aller Konfirmanden laut vorgelesen und für sie eine Kerze entzündet, dies aufgenommen und das Video an die Jugendlichen verschickt. Ich habe jeden Sonntag der Osterzeit die biblischen Lesungen laut in der Kirche gelesen. Selbst wenn kein offizieller Gottesdienst stattfinden konnte: Wir waren bei dieser Gelegenheit im Michel nie allein – ob es zwei Zuhörer waren oder manchmal auch fünf, diese Erfahrung war für mich persönlich wichtig.
Da, wo die Öffnung von Kirchen von ehrenamtlichen, oftmals älteren Menschen betreut wird, blieben viele Gotteshäuser geschlossen. Es gab auch die Kritik, dass zu wenig Seelsorge in den Krankenhäusern und Pflegeheimen geleistet wurde.
Röder: Das Problem war: Auch wir durften da nicht hinein. Ich betreue eine Freundin der Familie im Hospital zum Heiligen Geist und konnte sie mehr als zwei Monate lang nicht besuchen. Da gibt es keinen Pastoren-Bonus. Es war schlichtweg untersagt.
Täuscht der Eindruck, dass sich Teile der Kirche mehr mit Seenotrettung im Mittelmeer befassen als mit der Lage des Glaubens in Deutschland?
Röder: Die evangelische Kirche macht viel. Da passiert darum vieles, das manchen gefällt und anderen missfällt. Ich würde nicht gewichten, was wichtiger ist. Entscheidend ist, dass die Kirche in ihrem Auftrag von Gott her bei den Menschen bleibt – und dazu gehört der Nächste, der in meiner Gemeinde wohnt, genauso wie der ertrinkende Flüchtling im Mittelmeer. Mit welchen Mitteln man sich dem zuwendet, kann man in der Tat strittig diskutieren. Aber dass wir da eine Verantwortung als Christen haben, betrachte ich als selbstverständlich
Im Hinblick auf die Nächsten in der Gemeinde: Wie sehr hat die Gemeindearbeit unter der Corona-Pandemie gelitten – Konfirmandenunterricht, Seniorennachmittage, Ferienfreizeiten?
Röder: Das Gemeindeleben hat natürlich gelitten, vieles konnte nicht stattfinden. Der Kirchenkreis Hamburg-Ost hat jeder Gemeinde kostenlos zwei professionelle Zoom-Lizenzen zur Verfügung gestellt. Die wurden sehr schnell etwa für die Konfirmandenarbeit genutzt. Wir haben am Michel ein staatlich unterstütztes Seniorenangebot – den Michel-Treff. Sobald es zulässig war, haben wir den geöffnet. Er wird wieder gut genutzt. Die Senioren treffen sich zum Kaffeetrinken oder machen draußen auf dem Michel-Vorplatz mit Abstand Gymnastik im Freien, ein bemerkenswerter Anblick! Die Freude der Menschen, sich nach dem Lockdown wieder begegnen zu können, war riesig. Mittlerweile kommen auch weit mehr als 100 Menschen zu uns in den Gottesdienst.
Werden wir nach Corona dieselben sein wie vor Corona?
Röder: Nein, wir werden eine veränderte Form von Gesellschaft haben. Und eine andere Art des Umgangs. Die Kirche hat im Laufe weniger Wochen einen enormen Digitalschub bekommen. Wir haben eine wöchentliche Andacht ins Netz gestellt. Das machen wir weiterhin monatlich, selbst wenn wir mittlerweile wieder jeden Tag Gottesdienst im Michel feiern. Ich glaube, das wird bleiben; dafür gibt es eine eigene Gemeinde. Die digitalen Gottesdienste, im Livestream als Notlösung geboren, erweisen sich als sehr beliebt. Unsere Angebote werden digitaler werden. Und wir werden kürzere Formate finden. Am Michel haben wir unsere Gottesdienste um etwa 20 Minuten verkürzt, ohne dass wir auf Wesentliches verzichten, und neue Formate gesucht, um miteinander ins Gespräch zu kommen und zu feiern.
Coronavirus – die Fotos zur Krise
Wie feiern Sie derzeit Abendmahl?
Röder: Auch da mussten wir uns etwas einfallen lassen. Wir sind zur römisch-katholischen Sitte zurückgekehrt, nur die Hostien auszuteilen. Dies tun wir mit einem Silberbesteck, das mir gehört und von dem ich niemals geglaubt hatte, es noch einmal zu benutzen: Es handelt sich um eine Obstzange meiner Urgroßmutter und eine Gebäckzange meiner Großeltern.
Nach einer Studie in fünf evangelischen Landeskirchen wünschen sich 83 Prozent der Befragten auch künftig regelmäßige Online-Gottesdienste. Werden sie also beibehalten?
Röder: Nein. Es ist natürlich beeindruckend, wenn sich 170.000 Menschen in einen digitalen Gottesdienst zuschalten, den wir in der Osterzeit gefeiert haben. Deshalb haben wir überlegt, ob wir auch künftig mit Kameras arbeiten sollten, sind aber schnell davon abgerückt. Es würde eine heftige Diskussion mit dem Denkmalschutzamt darüber geben, wo wir die Kameras anbringen können. Vor allem aber schränkt uns die Aufzeichnung als liturgisch Handelnde während des Gottesdienstes extrem in unserer Bewegungsfreiheit ein. Das würde zu statisch. Wir werden deshalb langfristig keine Livestream-Gottesdienste anbieten, sehr wohl aber weiterhin Online-Andachten oder Musikstücke, die unsere Organisten für YouTube einspielen, Das ist ein sehr beliebtes Format, bis hin zu kleinen Orgelführungen.
Manche Menschen sehen die Corona-Krise als „Strafe Gottes“ oder zumindest als Rache der Natur, weil die Menschen unbedacht mit der Schöpfung umgegangen sind – eine Deutung, die die Kirche ablehnt. Mit welchen Argumenten?
Röder: Die theologische Antwort ist leicht: Warum sollte Gott uns eine Strafe schicken? Er hat uns seinen Sohn gesandt, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist. Mehr braucht es nicht. Luther ist angetreten, den Menschen die Angst vor Gott zu nehmen. Nun wird der strafende Gott plötzlich wieder aus der Mottenkiste geholt. Ich halte Corona eher für ein Warnzeichen: In einer neuaufklärerischen Sicht dachten viele, das könnte uns heute nicht mehr widerfahren. Nun wissen wir: Wir können die Schöpfung nicht beherrschen. Die Pandemie führt uns die Sterblichkeit wieder vor Augen.
Liegt darin der wahre Schock?
Röder: Ich glaube ja, auch wenn es niemand anspricht. Corona befördert das Sterben auch von Menschen, obwohl sie nicht an Corona erkrankt sind, er legt sich bei manchen wie Mehltau über ihr Leben. Die Gefährdung des Lebens rückt jetzt nahe – und sie rückt nahe ausgerechnet in einem Menschen, der uns nahekommt.
Corona-Krise: Gesundheitssenatorin zur Lage in Hamburg
Ist Corona also eine Lehre in Demut?
Röder: Vielleicht. Demut bedeutet Aufrechtgehen im christlichen Dreieck zwischen Gott, dem Nächsten und mir. Wir erleben jetzt eine Rückbesinnung auf christliche Werte. Viele Menschen fragen sich, was wirklich wichtig ist, was benötige ich im Leben, was ist überflüssig? Ich nehme übrigens derzeit eine große Rücksichtnahme der Menschen wahr, eine große Achtsamkeit etwa beim Einkaufen, auf dem Wochenmarkt. Das ist eine positive Auswirkung von Corona.
Kommen wir zu den negativen Auswirkungen – der Kirche drohen auf Jahre Einnahmeverluste, wenn angesichts von Kurzarbeit und steigender Arbeitslosigkeit die Kirchensteuer zurückgeht. Wie wollen die Kirchen darauf reagieren?
Röder: Momentan schauen wir, wo wir Geld einsparen können und wie neue Modelle der Finanzierung aussehen könnten. Mit der Gießkanne zu sparen wäre sicher falsch. Wir müssen entscheiden, was die wichtigen Dinge sind, die Kirche machen muss. Wo liegen ihre Kernaufgaben? Ich bin mir sicher: Da werden wir noch manche Überraschung erleben.
Zum Beispiel?
Röder: Wir haben uns zu lange auf das Kirchensteuermodell verlassen, so wird es nicht weitergehen können. Vielleicht kommen wir verstärkt zu einer Projektfinanzierung. Dieses Standbein gilt es aufzubauen. Ich weiß aber auch, dass das am Michel leichter ist als in einer Gemeinde auf dem Dorf.
Wie laufen denn Ihre Spendenaktionen wie der Rettungsring?
Röder: Derzeit laufen sie sehr gut. Das schöne an unserer Rettungsring-Kampagne ist, wie Spender ihre eigenen Ideen einbringen. Die Menschen sind bereit zu helfen. Aber das Defizit bleibt trotz Lockerungen – derzeit kommen nur ein Drittel der Besucher in den Michel.
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In zweieinhalb Monaten ist Weihnachten. Wie soll das funktionieren?
Röder: Weihnachten ist für viele Menschen das populärste Fest. Es gibt die Idee, beispielsweise ins Stadion auszuweichen. Wir planen am Michel aber anders – wir ziehen auf unseren Vorplatz. Dort können wir singen. Denn Weihnachten ohne Gesang ist undenkbar. Wir werden die Gottesdienste verkürzen und dafür mehr anbieten – wir fangen mittags um 12 Uhr mit einer feierlichen Andacht an und feiern dann ab 13 Uhr im Stundenrhythmus Festgottesdienste –, abwechselnd draußen und drinnen. Los geht’s schon am 1. Advent mit einem Freiluftgottesdienst. Komme, was da wolle.
Blicken wir weiter in die Zukunft: Wie wird sich in zwei, drei Jahren Kirche verändern?
Röder: Wir müssen wieder werben. Es gibt Menschen, die zuletzt auf der Strecke geblieben sind, die sich zurückgezogen haben. Wir müssen unsere Gottesdienstpraxis überdenken. Vielleicht werden wir in Zukunft immer verkürzte Gottesdienste anbieten. Ich denke aber auch, dass viele Menschen der Kirche eine neue Wertschätzung entgegenbringen werden. Die digitale Nachfrage ist schon jetzt enorm. Und Not lehrt beten.
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