Neue Interviewreihe

Corona-Krise – „Das Leben auf dem Land wird attraktiver“

| Lesedauer: 14 Minuten
Insa Gall und Matthias Iken
Prof. Dr. Gesa Ziemer lehrt an der HafenCity Universität und leitet das  City Science Lab.

Prof. Dr. Gesa Ziemer lehrt an der HafenCity Universität und leitet das City Science Lab.

Foto: Marcelo Hernandez

Die Stadtentwicklungsexpertin Gesa Ziemer über die Zukunft der Städte, die Renaissance des Lands und die Rolle des Autos.

Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, unsere Mobilität, unsere Kultur. In der neuen Interviewreihe sprechen wir über den Wandel, über Risiken, aber auch Chancen. Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie an der HafenCity Universität und zudem Direktorin des City Science Labs. Ihr Fokus liegt auf der Digitalisierung der Städte.

Hamburger Abendblatt: Frau Ziemer, wird unser Leben nach Corona wieder so, wie es vor Corona war?

Gesa Ziemer: Das hängt davon ab, wie lange wir noch mit diesem Virus leben müssen. Wenn es bald vorbei ist, werden wir vielleicht in unser altes Leben mit den alten Mustern und den alten Fehlern zurückfallen. Wir haben aber gerade in der Stadtentwicklung aus den vergangenen Monaten wahnsinnig viel gelernt. Corona wirkt wie ein Kontrastmittel, das man der Stadt gespritzt hat. Nun sehen wir in einem großen Realexperiment, was nicht funktioniert. Worüber wir immer in der Theorie gesprochen haben, wurde binnen zwei Wochen verwirklicht.

Zum Beispiel?

Ziemer: Das Verhältnis zwischen Stadt und Land hat sich verändert. Die Metropolen sind leerer geworden, wer einen zweiten Wohnsitz hat, ist aufs Land ausgewichen. Ich habe die letzten Wochen oft auf dem Land verbracht – da war von Corona weniger zu spüren, da gab es keine Panik. Die Städte haben sich in den vergangenen Jahren enorm verdichtet. Das kann sich nun entzerren, was ich gesund finde. In New York stehen aktuell viele Umzugswagen, ein ungewöhnliches Bild. Aufgrund der Folgen von Corona wie Arbeitslosigkeit sind bereits mehr als 400.000 Menschen auf das Land gezogen, weil sie sich die Mieten dort nicht mehr leisten konnten oder die Wohnungen zu klein für die Heimarbeit ganzer Familien sind.

Wird das Land wieder attraktiver?

Ziemer: Daran glaube ich fest. Allein durch die neuen Möglichkeiten der Heimarbeit und weniger Pendelei wird das Leben auf dem Land attraktiver werden. Unsere Art zu arbeiten wird multilokal – ein Teil von zu Hause, ein Teil aus dem Büro und ein Teil von unterwegs. Auch die Infrastruktur von der Internetanbindung bis zum Nahverkehr dürfte sich in dem Maße verbessern, wie mehr Menschen herausziehen. Dörfer und Kleinstädte könnten sich stärker durchmischen, wenn Städter dort hinziehen und innovative Ideen mitbringen und Impulse setzen. Corona bietet uns die Chance, die Gegensätze zwischen Stadt und Land zu mildern: Wir sollten weder von Stadt- noch von Landflucht sprechen, sondern in gut vernetzten Regionen denken.

Für Investoren in der Stadt sind das keine guten Nachrichten …

Ziemer: Wir sehen schon jetzt, dass Büros weniger nachgefragt werden, aber auch Restaurants und Geschäfte leiden, wenn die Menschen von zu Hause aus arbeiten. Die Innenstädte werden sich neu erfinden müssen – aber die Chance haben sie. Die City muss weg von der Monostruktur hin zu gemischten Nutzungen etwa von Gastronomie und Kultur oder Sport und Schule. Darin liegt für die Innenstädte, die heute vor allem abends oft schon sehr tot wirken, eine große Chance. Auch der Wohnungsbau könnte bald in der City wieder realistisch werden. Aber ich will das Problem nicht kleinreden: Wenn an der Mönckebergstraße mit Kaufhof und Karstadt Sport gleich zwei große Warenhäuser schließen, ist das dramatisch.

Wie kann man diese großen Häuser klug nachnutzen?

Ziemer: Das sind Riesengebäude, für die man neue Projekte und Allianzen benötigt - andere Städte machen es vor: Wir brauchen diversifizierte Nutzungen durch Sport, Kultur, innovative Wohnprojekte wie zum Beispiel flexible Mehrgenerationenhäuser oder andere, offene attraktive Erdgeschossnutzungen. Die damals leer stehende Karstadt-Filiale in Altona wurde von Kreativen zwischengenutzt und in einen Co-Working-Raum verwandelt. Der Verein Frappant, der daraus entstanden ist, hat gezeigt, wie lebendig und vielfältig eine Einkaufsstraße plötzlich sein kann und wie sie dann eine alte Kaserne mit dem Projekt fux umgenutzt haben.

Sollte die Politik solche Umwidmungen steuern, oder muss sich das von selbst entwickeln?

Ziemer: Einiges wird sich über den Preis regulieren: Wenn die Mieten sinken, können sich andere Akteure die Nutzung leisten. Wir wurden auch daran erinnert, dass Politik wichtig ist, und natürlich muss diese auch die Nutzungen steuern. Verkehr- oder Kulturpolitik kann Voraussetzungen schaffen, um Areale attraktiver zu machen. Ein Problem in Hamburg ist immer noch die Verbindung zwischen Innenstadt und HafenCity, wo die Speicherstadt – so schön sie auch ist – trotzdem baulich wie ein Riegel wirkt. Initiativen und kluge Nutzungen könnten hier Verbindungen schaffen.

Werden wir in Zukunft noch so viele Büroflächen benötigen? In Hamburg werden weiter Großprojekte wie der Elbtower oder das Überseezentrum gebaut – sind das Dinosaurier?

Ziemer: Ja. Eigentlich ist das etwas, was wir in Zukunft zumindest nicht mehr in der Menge brauchen. Vielerorts beginnt man, Büroflächen in Wohnungen umzubauen, was aber oft nicht ganz einfach ist. Statt Monokulturen mit Einkaufsmeilen benötigen wir mehr Mischflächen aus Arbeit, Wohnen, Sport und Kultur. Corona hat uns trotz wachsendem Onlinehandel auch gezeigt, wie wichtig die kleinen originellen inhabergeführten Läden sind. Diese machen den Charme eines Stadtzentrums aus.

Wird der Elbtower kommen?

Ziemer: Ich habe nichts Gegenteiliges gehört. Aber wir sehen in der HafenCity derzeit noch Pläne, die schon vor Corona fraglich waren. Ich habe Zweifel, ob wir wirklich noch ein großes Einkaufszentrum und immer neue Büros benötigen. Generell wird unsere Verkehrspolitik und die zunehmende Heimarbeit dafür sorgen, dass weniger private Autos in den Städten fahren und sich alle Verkehrsteilnehmenden gleichberechtigter fortbewegen können – auch die Fußgänger und Fahrradfahrer. Wir werden also weniger Parkplätze brauchen, und es werden enorm viele Flächen frei. Wir werden ganz viel öffentlichen Raum gewinnen, nicht nur in der Innenstadt, sondern auch beispielsweise auf der Uhlenhorst, in Eppendorf oder Altona. Corona hat uns endlich die Augen für diese Räume geöffnet, weil plötzlich deutlich weniger Autoverkehr in der Stadt war. Daraus können Spiel-, Markt-, Gastroflächen werden oder Fahrradwege.

AKK: Gibt es eine zweite Corona-Welle?

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Andere Städte wie Brüssel, Berlin oder Paris waren mutiger, neue Nutzungen zu erlauben ...

Ziemer: Ja, da ist in Hamburg in dieser Zeit zu wenig passiert. Berlin hat an einem neuen Fahrradgefühl gearbeitet und Paris seine ehrgeizigen Ziele zur Verkehrsberuhigung beschleunigt. Andererseits haben die beiden Hamburger Pilotprojekte zur Verkehrsberuhigung in der Altstadt und in Ottensen vor Corona ja bereits bewiesen, welche Chancen in neuen Mobilitätskonzepten liegen. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig öffentliche Räume und Grünflächen in einer Stadt sind. Wir brauchen diese Treffpunkte für den informellen Austausch – wir müssen aber an der Qualität dieser Räume arbeiten.

Wird sich auch das Wohnen verändern?

Ziemer: Davon gehe ich fest aus – wenn wir alle zwei Tage zu Hause arbeiten, benötigen wir andere Grundrisse. Da müssen wir Wohnungen neu denken, viel flexibler werden, temporäre Arbeitszimmer schaffen. Auch Nachbarschaft und soziale Qualität werden wichtiger. In funktionierenden Nachbarschaften kommt man besser durch die Pandemie. Dafür bedarf es Räume, in denen die Menschen sich in den Quartieren begegnen können. In Baugenossenschaften waren die Mieter heilfroh, wenn es Gemeinschaftsräume für die Kinder gab. Architekten fordern das seit Jahren; vielleicht bewegt sich jetzt etwas.

Werden Stadtteilzentren wichtiger?

Ziemer: Das denke ich schon – lokale Ökonomie mit Nahversorgung, kleinen Läden und Cafés in der Umgebung werden wichtiger, aber auch eine dezentrale Gesundheitsversorgung. Quartierszentren bieten oft vor allem Kindern und Jugendlichen, die stark von Corona betroffen waren, tolle Programme, die wichtig, aber leider notorisch unterfinanziert sind.

Wenn die Menschen nach draußen ziehen, dürfte die Preisexplosion in den Städten vorbei sein.

Ziemer: Ja, darauf deutet schon manches hin. Es war ja schon vorher so, dass innerstädtisches Wohnen für viele zu teuer war. In Manhattan sind die Mieten schon deutlich gefallen, dort gibt es bereits Leerstand nicht nur bei Büros, sondern auch bei Wohnungen. In Paris kehren viele Menschen, die wegen Corona aufs Land gezogen sind, nicht in die Stadt zurück.

Das erinnert an die Situation vor 50 Jahren. Anfang der Siebzigerjahre sprach man von der Unregierbarkeit der Städte, weil junge, wohlhabende Menschen ins Umland wegzogen.

Ziemer: Damals galt schon eine Millionenstadt als unübersichtlich. Die Vereinten Nationen zählen heute weltweit an die zwanzig Megastädte, in denen mehr als zehn Millionen Menschen leben. Das sind ganz andere Dimensionen. Das Wachstum in den Städten ist begrenzt – wir diskutieren auch in Hamburg, einer eigentlich noch nicht sehr verdichteten Stadt, jedes Bauprojekt.

Hat Corona die Vorteile der Städte also in Nachteile verkehrt?

Ziemer: Eine liberale Gesellschaft, Innovation, Technologieoffenheit sind Erfolgsfaktoren einer Stadt – die werden bleiben. Corona hat uns ja gerade gezeigt, wie wichtig Daten und Digitalisierung sind. Hamburg muss deshalb digitaler werden. In der Forschung sprechen wir über die hybride Stadt, einer Stadt also, in der man analog und digital zugleich arbeitet und lebt. Der analoge Raum bleibt auch wichtig. Das klingt paradox, aber wenn wir ständig in Digitalkonferenzen sitzen, wächst die Sehnsucht danach, Menschen persönlich zu treffen, enorm.

Droht den Städten die Innovationskraft verloren zu gehen, wenn das Land lockt?

Ziemer: Interessant wäre es, wenn wir zu einer besseren sozialen und kulturellen Durchmischung kämen. Das Land könnte profitieren, weil neue Köpfe, neue Ideen und neue Technologien dort heimisch werden. Die Städter könnten von mehr Platz mit besseren Wohnmöglichkeiten und guten Nachbarschaften profitieren.

Das Land zählt seit Corona auf jeden Fall zu den Gewinnern, bei der Stadt ist es also fraglich?

Ziemer: Ja, die Städte müssen die Herausforderungen meistern – den Umbau der Innenstädte, flexible Architekturen im Wohnungsbau, eine neue Mobilität, digitale Bildung. Wenn das gelingt, wird auch die Stadt zu den Gewinnern gehören. Corona hat auch soziale Ungleichheit verdeutlicht. Wer zu Hause keinen Laptop hatte, konnte schlechter am digitalen Unterricht teilnehmen.

Muss sich Hamburg von seinem Zwei-Millionen-Ziel für Mitte der Dreißigerjahre verabschieden?

Ziemer: Nein, daran glaube ich trotzdem. Städte bleiben attraktiv. Und wenn wir in einem Jahr einen Impfstoff haben, wird sich manches relativieren.

Blicken wir ins Jahr 2025 – wie muss Hamburg dann sein?

Ziemer: Schlauer, noch schlauer. Wir müssen weiterhin an guter digitaler Infrastruktur bauen. Eine gute Datenlage ist in Krisen sehr wichtig, um die Bevölkerung zu informieren. Wir brauchen viel inklusiven öffentlichen Raum, den wir gewinnen, wenn wir die Autos eindämmen. Hamburg muss grün bleiben und schauen, dass nicht noch mehr Flächen versiegelt werden. Corona hat uns gezeigt, wie wichtig gute Nachbarschaft über Kulturen und Altersgrenzen hinaus ist. Das sollten wir gut in Erinnerung behalten.

Stichwort Verkehrswende. Im Augenblick wechseln wieder viele Hamburger von der U-Bahn ins Auto ...

Ziemer: Das mag vorübergehend so sein, ändert aber nichts an dem großen Ziel. Die Richtung ist klar: Nun wird auch der Jungfernstieg autofrei.

Wenn Städte an Attraktivität einbüßen, dürfte sich der Wettbewerb zwischen den Metropolen verschärfen ...

Ziemer: Regionen konkurrieren oder besser kooperieren mit Regionen. Städte, die ein attraktives, grünes Umfeld haben, das gut angeschlossen ist, profitieren.

Hat Hamburg dieses attraktive Umfeld?

Ziemer: Ja, die Metropolregion ist wirklich abwechslungsreich – die Küsten gehören dazu, die Seen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Wichtig ist nur, dass sich diese bizarren Streitigkeiten und Einreiseverbote zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg zu Beginn von Corona nicht wiederholen.

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Welche Städte sind Hamburg voraus?

Ziemer: Helsinki ist meine Modellstadt – dort gibt es offene Datenplattformen für die Bürger, mit denen sich die Menschen vernetzen können, und auch gut funktionierende Mobilität, die auf Teilen und nicht auf dem Besitz von eigenen Autos basiert. Auch Barcelona fördert die Demokratie durch ein offenes Datenangebot. Dort können Bürger sogar strategisch mitplanen oder mit eigenen Bürgerbudgets die Stadt mitgestalten. Hamburg ist im Vergleich zu anderen deutschen Städten auch schon ganz gut.

Ist das geplante Haus der digitalen Welt als Schaufenster der Digitalisierung eine gute Idee für Hamburg?

Ziemer: Ja. Wir haben uns damals in Helsinki die Zentralbibliothek namens Oodi angeschaut – das ist ein beeindruckender Bau und ein offener Raum, wo sich Menschen treffen. So etwas wäre auch für die Innenstadt denkbar, da gehört es hin. Bislang fehlt es in der Hamburger City an solchen Orten. Die City erinnert immer noch an die funktionale, autogerechte Stadt der Nach­kriegsmoderne. Das funktioniert heute nicht mehr.

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