Hamburg. Nach einem schweren Eingriff wollte die Familie nach Hause fahren. Doch ihr VW-Bus wurde vor dem Altonaer Kinderkrankenhaus gestohlen.

Auf Facebook hat Andrea Reich ein Foto von „Busje“ veröffentlicht. So haben Freunde und Nachbarn, zu Hause im Saarland, den VW-Bus ihrer Familie getauft. Das Foto zeigt einen silberfarbenen, gut gepflegten California T4 Freestyle. 16 Jahre hat der Bulli sie, ihren Partner Oliver Clemens und die Töchter Emma und Lilli begleitet. Mit ihm sind sie durch Deutschland und quer durch Europa getingelt. Nun ist er weg.

Bisher unbekannte Täter haben das Auto mitsamt ihrer Habe im Wert von rund 3500 Euro von einem Parkplatz vor dem Altonaer Kinderkrankenhaus gestohlen, irgendwann zwischen dem 9. und 10. Juli. Besonders perfide: In diesem Zeitraum erholte sich ihre Tochter Lilli in der Klinik von einer lebens­bedrohlichen Operation.

Der Facebook-Beitrag ist mehr als 300-mal geteilt worden, die Anteilnahme groß. Allzu viel Hoffnung, den Bulli wiederzusehen, machen sich die Saarländer zwar nicht. Aber verloren geben wollen sie ihn auch nicht. Zumindest noch nicht. „Für uns ist er wie ein Familienmitglied“, sagt Oliver Clemens.

VW-Bus geklaut: Der Bulli war eine Art rollendes Zuhause

Ein ungemein nützliches dazu: Musste ihre Tochter Lilli mal wieder irgendwo in Deutschland operiert werden, reiste die Familie im Bulli an. Lilli, zwölf Jahre alt, leidet unter einer seltenen angeborenen Herzfehlbildung. In seinem jungen Leben hat das schwer kranke Mädchen bereits fünf große Operationen, 13 Herzkatheter-Eingriffe und eine halbseitige Zwerchfelllähmung überstehen müssen. Immer dabei: der Bus.

Den Bulli habe seine Lebensgefährtin Andrea als eine Art Bedingung für das Zusammenleben gefordert, „erst den Bus und dann Kinder, in dieser Reihenfolge“, erzählt Oliver Clemens. 2004 kaufte die Familie den Van für 43.000 Euro, dann kamen die Kinder: Emma 2005, Lilli drei Jahre später. Im Alter von zehn Wochen musste das Mädchen erstmals am Herzen operiert werden, beim nächsten schweren Eingriff war es drei Jahre alt. Weil die Klappen-Implantate ersetzt werden müssen, steht die nächste große Herz-OP in naher Zukunft an.

Der gestohlene VW-Bus der Familie Reich-Clemens
Der gestohlene VW-Bus der Familie Reich-Clemens © Clemens | Clemens

Nicht nur Lillis schweres Schicksal, sondern auch die Reisen mit dem Bus schweißten die Familie zusammen. „Busje“ war kein Gegenstand, „Busje“ war mit seinen vier Schlafplätzen, der Küche und dem Kühlschrank eine Art rollendes Zuhause. Mit ihm erfüllte sich die Familie ihre Sehnsucht nach Freiheit und nach Reisen ohne Verpflichtungen. Und nach jeder Tour, egal ob nach Irland, Großbritannien oder Frankreich, roch die Fahrt mit „Busje“ immer auch ein bisschen nach Abenteuer. Doch die Tour nach Hamburg, zu der die Familie Ende Juni aufbricht, hat einen ernsten Anlass: Am 1. Juli soll Lilli im Altonaer Kinderkrankenhaus operiert werden. Es ist der dritte Termin in der Sache. Zweimal war die akribisch geplante Hochrisiko-Operation bereits verschoben worden – wegen Corona.

VW-Bus war auf dem Parkplatz vor dem Altonaer Kinderkrankenhaus geparkt

Lilli ging es zuvor schlecht. Sie lief wie eine alte Frau mit kaputtem Rücken, vornübergebeugt und unter Schmerzen. Die starke Skoliose sei vermutlich auch eine Folge ihrer Zwerchfelllähmung, sagt Oliver Clemens. Weil sich die Beschwerden verschlimmerten, sei eine Operation unausweichlich geworden. Bei dem Eingriff werden unter anderem Titanstäbe in die Wirbelsäule eingesetzt. Dass er im Altonaer Kinderkrankenhaus vorgenommen werden sollte, stand von Anfang an fest. „Hier sitzen die besten Spezialisten“, sagt Clemens.

Ankunft am 28. Juni, das Auto vollgepackt bis unters Dach, mit Spielen und Klamotten. Mutter Andrea Reich ist mit Lilli im Krankenhaus untergebracht; Oliver Clemens und Tochter Emma finden eine Bleibe im Ronald-McDonald-Haus für Angehörige schwer kranker Patienten auf dem Gelände der Kinderklinik. „Busje“ steht auf einem Parkplatz vor der Klinik – vermeintlich sicher.

Kurz nach der fast siebenstündigen Operation am 1. Juli setzt sich der Vater noch einmal hinters Steuer, um für seine Lilli Krabbenbrötchen zu besorgen. Sie hat es sich gewünscht, die Delikatesse gibt es in ihrer Heimat Niederwürzbach nicht. Lilli hat zwar starke Schmerzen, aber ihre Füße kann sie bewegen – und das ist ein gutes Zeichen, zumal eine Querschnittslähmung zu den Risiken des Eingriffs zählt. Doch wie reagiert ihr schwaches Herz auf die Belastung? Erstaunlich gut.

Kleinbusse wie der VW T4 sind bei Autodieben begehrt

Nachdem Lilli eine Nacht ohne zusätzlichen Sauerstoff überstanden hat – Voraussetzung für ihre Entlassung – will die Familie am 10. Juli abreisen. Doch auf dem Parkplatz steht ein anderer Wagen. „Busje“ ist weg. „Ich war total geschockt“, sagt Oliver Clemens. Noch härter habe die Familie Lillis emotionale Reaktion getroffen. Sie sei völlig aufgelöst gewesen, habe bitterlich geweint und sich die Schuld für den Diebstahl gegeben, so der Gymnasiallehrer. „Sie sagte: Wenn ich nicht operiert worden wäre, wäre der Bus noch da.“

Kleinbusse wie der VW T4 sind bei Autodieben begehrt. In Hamburg sieht man sie häufig nur mit einer Kralle am Reifen oder einem Lenkradschloss. An einen derartigen Schutz hatte Oliver Clemens nie gedacht. Warum auch? Zu Hause im Saarland stand der Bus immer in der verschlossenen Garage, und in ihrem Dorf ist Kriminalität so etwas wie ein Krabbenbrötchen: Es gibt sie praktisch nicht. „Der Hamburger Polizeibeamte machte uns wenig Hoffnung“, so Clemens. Vermutlich sei der Bus schon in Dänemark – oder wo auch immer.

In den kommenden sechs Jahren muss die Familie für Folgeoperationen noch gut ein Dutzend Mal nach Hamburg reisen. Die Titanstäbe in Lillis Rücken müssen ihrem Wachstum angepasst werden. Nur zu gern würde die Familie mit „Busje“ in die Hansestadt fahren und hofft deshalb jetzt auf Zeugenhinweise. „Lilli geht es zwar besser“, sagt Oliver Clemens. „Aber wir sind sehr traurig und vermissen unseren Bus.“

Wer hat den Diebstahl zwischen dem 9. und 10. Juli beobachtet? Der Bus, Kennzeichen HOM-L-2804, hat eine Delle an der Heckklappe. Hinweise bitte an die Polizei, Telefon 040/428 65 67 89.