Pandemie

Reisen in Corona-Zeiten: „Wie ein Science-Fiction-Film!“

| Lesedauer: 13 Minuten
Die Züge kommen, die Passagiere (noch) nicht: Bahnhofsmanager Michael Dominidiato hat viel Platz am Bahnsteig im Hauptbahnhof.

Die Züge kommen, die Passagiere (noch) nicht: Bahnhofsmanager Michael Dominidiato hat viel Platz am Bahnsteig im Hauptbahnhof.

Foto: Roland Magunia

Wer fährt jetzt eigentlich noch mit der Bahn? Wir haben mit Reisenden in einem ICE über Ansteckungsängste gesprochen.

Hamburg. Stell dir vor, es ist Alltag, und keiner geht hin. Ja, ab und zu fühle sie sich schon ein wenig einsam, sagt die nette Dame vom Zeitungskiosk am Dammtor. Sie hält hier seit Wochen die Stellung an einem nun verwaisten Knotenpunkt. Corona hat unseren alten Alltag mit üblichen Aufgaben wie „zur Arbeit fahren“ abgeschafft. Die Leute sollen zu Hause bleiben und reisen möglichst sowieso nicht, nicht mal an einem Feiertag. Wenig los also an Orten, an denen normalerweise alle vorbeikommen.

Es ist 10.15 Uhr an einem Wochentag, eigentlich beste Reise- und Pendlerzeit. Doch ich stehe fast alleine an Gleis 4. Ganz hinten in Abschnitt F meine ich eine weitere Person zu entdecken. So weit in die Ferne konnte ich beim Einsteigen in einen Zug noch nie gucken. Der Bahnhof als Gipfel. Der ICE 909 nach Berlin fährt ein. Das war sonst immer der Moment, in dem die allgemeine Unruhe unter den Reisenden einsetzte: Bloß direkt vor einer Tür stehen, um dann drinnen noch einen guten Platz zu ergattern. Stress. Doch heute: Entspannung. Stille. Das war wohl gar nicht die einfahrende Lok, die immer so laut war, den Lärm machten wir Menschen.

Irgendwie schön, diese Stille, aber soll man in einen Zug steigen, mit dem anscheinend niemand fahren will? Ich schubse mich selbst ein bisschen nur so zur Beruhigung und aus Nostalgie und betrete einen komplett leeren Waggon. „Hallo? Ist da jemand?“ Keine Antwort, kein Echo. Also doch kein Gipfelerlebnis hier. Dafür ein wunderschöner Anblick: saubere Sitze, saubere Tische, nirgendwo Müll oder Rollkoffer oder Gesichter mit schlechter Laune. Erster Eindruck: Ein ICE ist sicherer als ein Supermarkt. Wo soll man sich hier anstecken?

Beim Niesen zusammenzucken und bloß nichts anfassen

Im Hauptbahnhof steigen dann doch ein paar Leute ein. Die Mutigen! Tapferkeit und Unerschrockenheit flutet die Wagen. „Na ja, ich habe eine ganze Flasche Sagrotan dabei“, sagt Torben Neumann aus Sülldorf. Wochenlang konnte er von zu Hause arbeiten, das sei auch eine schöne Zeit gewesen mit seinen Kindern, doch jetzt muss der Immobilienmanager wieder los: „Ein skurriles Gefühl“. Wieder aufstehen nach dem Lockdown.

Der Geschäftsmann glaubt, die Arbeitswelt werde sich in Zukunft verändern: „Weniger Dienstreisen, positive Effekte für die Umwelt.“ Neumann sorgt sich kaum, in dem leeren Zug infiziert zu werden, vor dem Virus allerdings hat er größten Respekt. Eine Nachbarin aus den Elbvororten musste mit Covid-19 ins Krankenhaus. Zwei Wochen lang. Es sei das Schlimmste gewesen, was die Frau in ihrem Leben erlebt habe. „Und die war noch jung!“

Ein paar Meter weiter sitzt Alex Kaiser mit zwei Kollegen. Der Hamburger bietet das an, was zurzeit alle wollen: Konferenzsysteme. „Die Akzeptanz ist durch die Notwendigkeit gestiegen, die Digitalisierung bekommt gerade einen richtigen Schub“, sagt Kaiser. Der CEO von We-Stream bringt seit Jahren schon beispielsweise Livestreams von Pressekonferenzen zu den jeweiligen Ansprechpartnern. Kaiser glaubt an Kommunikation auf Distanz. „Ich war ohnehin schon immer ein großer Freund von Abstand. Wenn neben mir einer niest, dann zucke ich zurück.“ Er hat die aktuellen Hygieneregeln bereits gelebt, als es noch Desinfektionsmittel zu kaufen gab. Insofern wirkt der Kommunikationsexperte auch bei dieser Zugfahrt sehr entspannt.

Wissenschaftlich fundierte Furcht

Ein Abteil weiter allerdings treffe ich auf Furcht. Auf wissenschaftliche fundierte Furcht. „Ich fühle mich keineswegs sicher“, sagt ein 42-Jähriger, der von Bremen in die Hauptstadt muss. Geht nicht anders, seine Arbeitsstelle ist das Helmholtz-Zentrum Berlin, und Laborarbeit funktioniert schlecht im Homeoffice. Woran er forscht? An einem Corona-Wirkstoff. Die Leute sollten nicht vor Anfang nächsten Jahres mit einem Impfstoff rechnen, schätzt der Biochemiker. Und selbst dann sei die Gefahr nicht vorüber: „Ein Virus ist dazu gemacht, sich zu verändern, schon jetzt sieht man leichte regionale Abweichungen. Wir befinden uns in einem ständigen Wettlauf.“ Der Wissenschaftler wundert sich über Mitreisende, die nicht aus dringenden beruflichen Gründen in den Zug steigen. Er habe gesehen, welche Schäden Corona selbst bei jungen Menschen schon anrichtet. „Ich bin gegen die Lockerungen, wir werden das Ding sonst nicht los!“

Auf den Schreck erst mal ordentlich die Hände waschen. Die Zugtoilette. Vor Corona ein Ort des Wettstreits. Nase und Blase rangen häufig minutenlang um eine Entscheidung, ob das stille Örtchen wirklich aufzusuchen sei. Doch nun duftet es hier besser als in jeder Parfümabteilung. Die Deutsche Bahn hat im Fernverkehr die Zahl der mobilen Reinigungen verdoppelt. Die ICE-Züge (insbesondere die WC-Räume) werden alle zwei Stunden unterwegs gereinigt. Sollte es überhaupt Krisengewinnler in dieser ganzen Misere geben: die Zugtoiletten gehören definitiv dazu.

Und die Maskenhersteller. Beim Gang durch den ICE sieht man ein paar schöne Näharbeiten. Die von Hannah Espenschied etwa wurde von ihrer Mutter hergestellt. Die Studentin, die früher häufig keinen Sitzplatz mehr fand, genießt den Raum um sich herum, gleichzeitig kommt sie sich vor „wie in einem Science-Fiction-Film. Alle in Masken, und kaum jemand spricht noch.“ Die 24-Jährige glaubt nicht an ein verändertes Reiseverhalten der Deutschen: „Im Gegenteil. Alle werden alles nachholen wollen.“ Sie denke oft an ihre Großeltern, da die sich nicht „so gut benehmen“ und immer noch einkaufen gehen. Auch sie selbst zweifelt, ob sie wirklich diese Fahrt nach Leipzig hätte antreten sollen: „Ich fühle mich schlecht, weil ich das Haus verlassen habe.“

Kollektive Entschleunigung bei 200 Kilometern pro Stunde

Der Zugbegleiter kommt. Er ist ausgestattet mit Desinfektionsmittel und bittet einen Reisenden, der sich am Gang platziert hat, ans Fenster zu rücken wegen des größeren Sicherheitsabstands. Die Tickets kontrolliert er zurzeit nur auf Sicht. Angst vor Ansteckung habe er keine, sein Immunsystem sei gestärkt durch seinen Job. Er müsse ja seit Jahren alles anfassen, Fahrkarten, Klinken usw. Sein Kollege im Bordrestaurant genießt die Ruhe nicht wirklich. Es fehlt an Kunden und somit an Trinkgeld.

Dann düsen wir durch die Landschaft. Kollektive Entschleunigung bei 200 Kilometern pro Stunde. Mehrere Bundesländer wird der ICE an diesem Tag durchqueren, überall unterschiedliche Maskentragepflichten, da muss man sich erst mal informieren, bevor man aussteigt. Achtung ist ohnehin beim Ausstieg geboten, denn es geht viel schneller. Normalerweise reichte es, seine Tasche erst beim Einfahren in den Bahnhof zu packen, weil ja noch 50 andere Reisende sich im Gang drängen. Jetzt erschrickt man. Huch! Schon da, Tür auf, raus!

Auf dem Rückweg der gleiche trostlose Anblick eines verlassenen Gleises. Im Fernverkehr liegt das Reisendenaufkommen derzeit bei etwa 10 bis 15 Prozent des Normalniveaus. Doch da kommen eine Mutter und ihre Tochter! Wir begrüßen uns unweigerlich. „Das ist ja schön, dass noch jemand da ist. Letztens saß ich ganz alleine mit einem sehr seltsamen Typen im Waggon, da hatte ich ein bisschen Angst,“ sagt Lilli Gross. Die 16 Jahre alte Berlinerin möchte zu ihrem Freund nach Hamburg, sie nutzt diese Verbindung regelmäßig. Ihre Mama bringt sie stets zum Gleis und gibt dem Vater ihres Freundes dann die Waggon-nummer durch (am liebsten Wagen 6), damit er sie in Hamburg einsammeln kann. Profis im Pendeln für die Liebe.

Mit uns reist noch ein Paar mit Hund und eine Ingenieurin. Der Hundehalter ist Lehrer an einer Gesamtschule in Osnabrück: „Es wird Zeit, dass der Unterricht für alle Stufen losgeht. Ich halte über das Handy Kontakt mit meinen Klassen, aber dieser Zwangsurlaub gefällt mir gar nicht.“ Die Ingenieurin aus Eimsbüttel wiederum hofft darauf, dass die Kita ihrer kleinen Tochter öffnet: „Das Reisen gruselt mich nicht, aber das ständige Warten. Wann öffnet die Kita, wann dürfen wir Oma und Opa wieder besuchen, wann ist das alles vorbei?“ Corona bedeutet Geduld.

„Leere hinterlässt ein komisches Gefühl“

Nach der Zugfahrt gehen wir mit dem Leiter des Bahnhofsmanagements durch den Hauptbahnhof. Für Michael Dominidiato ist hier wenig wie zuvor. An einem normalen Tag laufen 90.000 Leute über den Südsteg. Jetzt könnte man jeden Passanten einzeln begrüßen, obwohl ein paar Läden in der Wandelhalle sowie die Geschäfte in der Innenstadt schon wieder geöffnet sind. „Auch wenn es langsam wieder voller wird, haben wir immer noch eine geringere Anzahl von Reisenden. Die Leere hinterlässt ein komisches Gefühl“, sagt der Bahnhofsmanager. Wurden die Richtungspfeile auf dem Boden aufgrund der Pandemie eingeführt? „Das fragen mich viele“, sagt Michael Dominidiato lachend. Tatsächlich gibt es sie seit Jahren, man sieht die Pfeile für die bessere Lenkung der Reisenden allerdings deutlicher, weil viel zu viele Füße sie bislang verdeckten.

An der DB Info sitzt jetzt nur noch eine Kollegin, sie wird mit einem Spuckschutz geschützt sowie Absperrband. Davon werde er jetzt noch mehr besorgen, erzählt der 56-Jährige und deutet auf die Fahrkartenautomaten. Die stehen dicht an dicht. Sollten bald wie erwartet wieder mehr Kunden reisen, dann muss er hier für Abstand sorgen.

Die Fundstelle hat nur noch an drei Tagen geöffnet, und wer etwas vermisst, kann die Dinge nicht mehr abholen, sondern bekommt sie nach Hause geschickt. „Kontaktminimierung“ lautet die größte Aufgabe des Managers. Trotz verminderter Gästeanzahl ist genauso viel zu tun wie sonst. „Das System muss ja weiterlaufen. Egal, ob hier vier oder 10.000 Leute sind,“ erklärt Dominidiato. Die Technik, die Anzeigetafeln, die Uhren, die Rolltreppen, die Fahrstühle, die Lüftungen. Auch Einstellungsgespräche führt der Leiter des meistgenutzten Bahnhofs Deutschlands weiterhin: „Das funktioniert sehr gut digital.“

Kriminelle können nicht vom Homeoffice aus arbeiten

Im Reisezentrum sind vier von 18 Schaltern geöffnet, es ist so wenig los, wir hören die Klimaanlage summen. Bei McDonald‘s darf man sich nicht hinsetzen, Schweinske hat noch ganz zu, zumindest der Blumenladen verbreitet etwas Farbe. Tauben fliegen herum. Wer dachte, durch weniger Abfälle würde sich diese Plage minimieren, der sieht sich getäuscht. Dennoch wirkt der Bahnhof ex­trem sauber. „Wir können viele Sonderreinigungen durchführen“, sagt der Bahnmitarbeiter. Was bislang nur nachts ging, das kann bei weniger Publikumsverkehr tagsüber erledigt werden. Das Vordach wurde gesäubert, die Graffitis an den Außenwänden entfernt.

Grote: Maskenpflicht trifft auf "sehr hohe Akzeptanz"
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Die Anzeigentafel glänzt und zeigt überraschend viele Abfahrten an. 75 Prozent der Verbindungen im Fernverkehr existieren nach wie vor. Warum bei so wenig Nachfrage? „Wir sind ein Teil der Daseinsvorsorge. Die Mobilität muss erhalten bleiben. Nicht jeder besitzt ein Auto“, sagt Michael Dominidiato. Manchmal fragen ihn Gäste, ob sie doch nach Sylt oder Rostock fahren dürfen, schließlich gingen da ja noch Züge. Aber das entscheidet die Politik, nicht die Bahn. Sie stellt nur die Mobilitätsangebote.

Es ist spät geworden. Im Bahnhof scheint nur noch ein bestimmtes Klientel unterwegs. Corona kristallisiert Leid heraus. Wenn die fehlen, die zu Hause bleiben, dann werden die, die kein Zuhause haben, sichtbarer. Genau wie die, die Drogen verkaufen, und es nun nicht mehr im Schutz der Masse tun können. Die fehlende Deckung scheint ihnen aber nichts auszumachen, so hat es auch der Bahnhofsmanager beobachtet. „No risk, no fun“ scheint das Motto der Kriminellen zu sein. Aber was bleibt ihnen auch übrig. Dealen funktioniert nicht vom Homeoffice aus.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

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