Hamburg. In ihre neue Karriere startete Meike Brunk mit einem Schnaps. Bei der Weihnachtsfeier ihrer Software-Firma im Dezember 2006 auf einem Schiff schenkte der Kapitän als Gastgeber einen selbstgebrannten Tropfen aus und berichtete von seinem Plan, Touren in die entlegenen Winkel des Hamburger Hafens anzubieten. Ihm fehle nur noch ein kundiger Reiseführer.
„In diesem Moment machte es klick“, sagt Meike Brunk heute. Seit 2007 bietet sie nun mit ihrer Firma Elbinsel-Tour individuelle Stadt- und Hafenrundfahrten an. Zu ihren mittlerweile 50.000 Gästen gehörten auch Kanzlerin-Gatte Joachim Sauer sowie Philip May, der Ehemann der früheren britischen Premierministerin. Beide schipperten mit Meike Brunk beim Begleitprogramm des G-20-Gipfels durch den Hamburger Hafen.
Die Geschichte über die gelernte IT-Vertriebsmitarbeiterin steht im Buch „Plan B“ der Autorin Nicola Sieverling (54). Solche „Mutmacher-Portraits“ gibt es auch über eine Lektorin, die heute ein eigenes Café betreibt, einen ehemaligen Postfilialleiter, der jetzt zwölf Alpakas als Therapietiere hält und eine Journalistin, die nun in Kiel Wolle verkauft. Alle haben sich entschieden, in ihrem Leben etwas völlig Neues zu wagen.
Jeder achte Deutsche frustriert der eigene Job
Man kann sagen, dass „Plan B“ den Nerv unserer Zeit trifft. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist jeder achte Erwerbstätige in Deutschland mit seinem Job unzufrieden. Fast jeder dritte Arbeitnehmer fühlt sich laut AOK-Fehlzeiten-Report ausgebrannt, 52 Prozent der Arbeitnehmer berichten von Rücken- und Gelenkschmerzen, 31 Prozent von Schlafstörungen. Die Mehrheit macht für ihre gesundheitlichen Probleme ihre Arbeit verantwortlich. Und dennoch schrecken die meisten vor einem Aus- oder Umstieg zurück. Dabei geht es vor allem um Existenzängste. Wie soll ich meine Miete noch finanzieren? Was wird aus der Ausbildung der Kinder, wenn ich kündige?
Genau für diese Menschen hat Nicola Sieverling das Buch geschrieben. „Trauen Sie sich und breiten Sie Ihre Flügel aus“, schreibt sie im Vorwort ihres Ratgebers. Wer die 250 Seiten liest, spürt ihre Leidenschaft für dieses Projekt. Aus gutem Grund: Denn Nicola Sieverling hat selbst zweimal die Neustart-Taste in ihrem Leben gedrückt.
Sieverling wollte aus Hamsterrad ausbrechen
2004 spürt die gelernte Verlagskauffrau das erste Mal, dass sie etwas ändern muss. Ein schwerer Hörsturz setzt die damals 39 Jahre alte Redakteurin einer großen Wochenzeitung sechs Wochen außer Gefecht. Nicola Sieverling löst ihren Arbeitsvertrag auf, gönnt sich eine einjährige Auszeit, um für sich nach neuen Wegen zu suchen. Am Ende entscheidet sie nach langen Gesprächen mit einem Coach für die Selbstständigkeit, gründet eine PR-Agentur mit zwei Mitarbeiterinnen.
„Ich dachte, ich bin am Ziel“, sagt Nicola Sieverling heute. Erst spät merkt sie, dass sie nur von einem Hamsterrad in ein anderes gestiegen ist. Äußerlich scheint alles bestens: Die Agentur in einem schönen Büro an der Alster läuft exzellent, die Kunden zahlen gut dafür, dass Medien dank Nicola Sieverling positiv berichten. Doch der Stress setzt ihr zu: Weitere Hörstürze folgen, bis die Diagnose Brustkrebs alles verändert.
"Plan B" eröffnet Möglichkeiten, um Frust abzuschütteln
Nicola Sieverling steigt erneut um. Sie zieht 2018 dorthin, wo sie schon immer leben wollte. An die Ostsee, in eine Gemeinde mit 236 Seelen in der Nähe von Travemünde. Zuvor entrümpelt sie ihr Leben, verschenkt einen großen Teil ihrer Kleidung und ihrer Bücher. In dem gemieteten alten Bauernhaus, Typ Pippi-Langstrumpf-Bullerbü, ist auch „Plan B“ entstanden.
Die Stärke ihres Ratgebers liegt darin, dass er sich auch mit den Schattenseiten des Wechsels der Lebensspur beschäftigt. Mit Existenzängsten, mit dem Unverständnis von Verwandten und Freunden („Wie kannst du noch so blöd sein, in diesen Zeiten einen sicheren Job zu kündigen“), mit Blockaden und unvorhergesehenen Hindernissen. Marco Holter, der in Mecklenburg-Vorpommern Alpakas zu Therapietieren ausbildet, musste einen neunmonatigen Antragsmarathon absolvieren. Erst dann durfte er mit den Alpakas in Kindergärten und Pflegeheime, um kleinen und großen Menschen Glücksmomente zu bescheren.
Die drei großen Fallen der Selbstständigkeit
Nicola Sieverling skizziert zudem die drei großen Fallen der Selbstständigkeit: Dumpingpreise, die dazu führen, dass sich das eigene neue Unternehmen nicht rechnen kann. Selbst und ständig, also der eigene Erwartungsdruck, rund um die Uhr für Kunden da sein zu müssen. Und schlechte Zahlungsmoral akzeptieren: „Die Angabe einer Zahlungsfrist ist die wichtigste Zeile auf der Rechnung.“ Ergänzt wird der Ratgeber durch viele Praxistipps zum Aufbau einer neuen Existenz. Da geht es um wichtige Versicherungen, um Finanzspritzen – etwa durch Crowdfunding – und um gutes Marketing.
Die Autorin, die sich in der Umgebung von Lübeck als Moderatorin, Texterin und PR-Beraterin einen neuen Kundenstamm erschlossen hat, will ihr Wissen nun auch als Coach (www.nicola-sieverling.de) weitergeben, Seminare in ihrem Bauernhaus sind geplant. Und sie hat schon die Idee für ein neues Buch: „Plan C“ soll es heißen, geschrieben für die Generation Ü60, die sich im Ruhestand einer neuen Aufgabe widmen will. Vor allem aber will Nicola Sieverling nie wieder zurück in ein Hamsterrad: „Sich morgens mit einer Tasse Kaffee in den Garten zu setzen ist das schönste Geschenk.“
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