Antarktis

Extremsportlerin verbringt Weihnachten allein im ewigen Eis

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Björn Jensen
Anja Blacha am Startpunkt ihrer Antarktis- Expedition auf der           Berkner-Insel.

Anja Blacha am Startpunkt ihrer Antarktis- Expedition auf der Berkner-Insel.

Foto: Jung von Matt

Anja Blacha ist seit dem 12. November auf Skiern unterwegs zum Südpol. In Hamburg fiebert ihre Schwester mit.

Hamburg. Jeden Morgen, wenn Kirsten Blacha aufwacht in ihrer Wohnung in Eimsbüttel, findet sie eine Nachricht auf ihrem Mobiltelefon. Fände sie sie nicht, müsste sie sich Sorgen machen. Denn das würde bedeuten, dass ihre Schwester keine Gelegenheit hatte, ihr zu schreiben, und dass Kirsten Blacha mit dem Schlimmsten rechnen müsste. Schließlich schreibt ihre Schwester nicht aus Zürich, wo sie lebt. Sondern aus der Antarktis, von irgendwo auf dem Weg zwischen Berkner-Insel und Südpol.

Anja Blacha, 29 Jahre alt und im normalen Leben beim Telekommunikationsunternehmen Swisscom angestellt, erlebt derzeit das wohl härteste Abenteuer, das ein Mensch bestehen kann. Als erste Frau der Welt will sie unbegleitet und ohne Hilfsmittel wie Motor oder Gleitschirm innerhalb von 60 Tagen eine Distanz von 1400 Kilometern zum Südpol zurücklegen. Auf Langlaufskiern zieht sie ihren Proviant und ihre Ausrüstung per Schlitten, der zum Start der Tour am 12. November ein Gewicht von 110 Kilogramm hatte. Das Abendblatt berichtete Anfang November ausführlich über das Projekt, das von der Hamburger Agentur Jung von Matt und dem Sportartikelhändler Intersport unter dem Motto „Not bad for a girl“ (Nicht schlecht für ein Mädchen) begleitet wird.

Zwei gefährliche Dinge

Kirsten Blacha (31) sitzt an diesem milden Vorweihnachtstag in einem Hamburger Café und versucht zu erklären, warum sie sich um ihre zwei Jahre jüngere Schwester keine Sorgen macht. „Es gibt zwei Dinge, die richtig gefährlich wären. Das eine wäre eine Kohlenmonoxidvergiftung, weil Anja nach der Benutzung ihres Kochers ihr Zelt nicht ordentlich lüftet. Das andere wäre ein Sturz in eine Gletscherspalte. Aber da sie beides mit umsichtigem Handeln vermeiden kann, bin ich überzeugt davon, dass das Risiko kontrollierbar ist“, sagt sie.

Man mag das als Versuch abtun, sich die Gefahren kleinzureden, um nicht in ständiger Angst um die einzige Schwester leben zu müssen. Aber Kirsten Blacha, die in Betriebswirtschaftslehre promovierte und für den Energie- und Chemiekonzern Sasol Bereichsleiterin des Digital Studios ist, ist tatsächlich so entspannt, wie sie klingt. Und das hat einen Grund. „Anja liebt Herausforderungen, aber minimiert Risiken durch akribische Planung“, sagt sie.

Monatelange Vorbereitungen

Tatsächlich hat sich Anja Blacha über Monate auf die Herausforderungen vorbereitet – die Kälte von bis zu 35 Grad minus und die täglich bis zu zwölf Stunden auf Skiern. Davon profitiert sie jetzt. Obwohl sie fast eine Woche unter schweren Schneestürmen mit „Whiteouts“ – totaler Einschränkung der Sicht – litt, hatte sie am 15. Dezember, dem 33. Tag ihrer Expedition, die Hälfte der Distanz hinter sich gebracht, liegt also gut im Zeitplan. Ihre Bestleistung: 28 Kilometer an einem Tag.

„Körperlich hat Anja keine Probleme. Ihre Beine sind manchmal müde, ansonsten geht es ihr sehr gut“, sagt Kirsten, die als Verbindungsfrau zwischen ihrer Schwester und den in der Heimat Mitfiebernden fungiert. „Es mag komisch klingen, aber ich fühle mich Anja aktuell näher als sonst, weil wir normalerweise nie jeden Tag Kontakt haben“, sagt sie. Sie pflegt den Instagram-Account, auf dem die Tour nachzuverfolgen ist, hält Kontakt zu Jung von Matt. Und sie versorgt die in Bielefeld lebenden Eltern, die anfangs sehr skeptisch waren, mittlerweile aber Vertrauen in die Vernunft und Disziplin ihrer Tochter gefasst haben, mit privaten Nachrichten.

Nicht ihre erste Grenzerfahrung

Anja schreibt über einen GPS-Messenger, Fotos verschickt sie mittels eines Satellitentelefons, mit dem sie auch die Verbindung zur Basisstation der Antarctic Logistics Expeditions (ALE) hält, die als Monopolist die Touren durch die Antarktis koordiniert. Von dort käme im Notfall auch Hilfe, sofern Anja Blacha in der Lage ist, einen Notruf abzusetzen.

An den Moment, als ihre Schwester ihr von dem Vorhaben erzählte, erinnert sich Kirsten Blacha gut. „Mein erster Gedanke war: Warum? Aber ich merkte schnell, dass es ihr ernst war. Also haben wir sofort darüber gesprochen, wie ich ihr bestmöglich helfen könnte“, sagt sie. Es ist ja auch nicht so, dass der Südpol-Trip Anja Blachas erste Grenzerfahrung wäre. Sie hat als jüngste Deutsche die „Seven Summits“ bezwungen, die jeweils höchsten Gipfel auf allen sieben Kontinenten.

„Da ist die Antarktis eigentlich der logische nächste Schritt“, sagt Kirsten Blacha. Sie war es, die ihrer Schwester die Welt der Berge nahebrachte. 2013 war sie drei Monate auf Südamerika-Tour, es war ihre erste längere Fernreise, nachdem die Familie meist Strandurlaube in Spanien gemacht hatte. Anja kam für zwei Wochen dazu, gemeinsam besuchten sie Machu Picchu in den peruanischen Anden. „Für Anja war das wie ein Erweckungserlebnis, seitdem wusste sie, wo sie ihre Herausforderungen finden würde.“

Im Frühjahr ist der nächste Trip geplant – zum Nordpol

Sie selbst habe nie den Antrieb verspürt, Extremtouren auf sich nehmen zu wollen. „Wir sind beide sehr rational, ich habe aber weniger Risikobereitschaft. Ich bin kein Abenteuermensch, bringe mich gar nicht erst in Situationen, die gefährlich werden könnten, während Anja Gefahren zwar sieht, aber diese nicht auf der emotionalen Ebene wahrnimmt. Sie versteht, wie andere empfinden, aber es berührt sie nicht in der gleichen Weise.“

Dass es gemeinsame Reisen auf längere Sicht nicht geben wird, hat Kirsten akzeptiert. Im Frühjahr 2020 plant Anja einen Zweiwochentrip zum Nordpol. „Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen fühlt sich das nicht mehr ganz so absurd an, aber es ist einfach nicht meine Art von Urlaub, und ich mag auch die Kälte nicht“, sagt sie. Weihnachten wird Kirsten in der Wärme Sri Lankas verbringen.

Die Familie hat beschlossen, das Fest nachzuholen, wenn Anja gesund zurückgekehrt ist. „Es ist auch nicht das erste Weihnachten, das wir getrennt feiern. 2010 war Anja für ein Auslandssemester in Korea, vor zwei Jahren war sie schon einmal für eine kleinere Tour in der Antarktis.“ Dass ihre Schwester den Heiligen Abend verpasst, weil der eisige Wind am Südpol auch ihr Zeitgefühl verweht, kann nicht passieren. Sie hat in ihrem exakt abgestimmten Proviantplan für den 24. Dezember eine Tafel Lindt-Weihnachtsschokolade vorgesehen.

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Ein wenig Genuss muss auch im ewigen Eis möglich sein. „Auch wenn viele das nicht verstehen: Anja hat Spaß bei dem, was sie tut, und sie jammert nie. Sie würde niemals sagen, dass sie keine Lust mehr hat, auch wenn die Tage noch so hart sind“, sagt Kirsten. Die Frage, wie 60 Tage Einsamkeit unter Extrembedingungen einen Menschen verändern, hat Anja Blacha vor ihrer Abreise manches Mal gehört, und auch Kirsten Blacha hat sie sich gestellt. Aber sie glaubt, dass ihre Schwester genauso zurückkommen wird, wie sie immer war. Wahrscheinlich ist es das, was sie so gelassen bleiben lässt.

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