Hamburg. Das Thema ist sperrig, schwer zu greifen, und es gibt viele Menschen, denen es Angst macht: Psychische Erkrankung. Doch gerade weil die Berührungsängste bisweilen groß sind, hat sich die Pestalozzi-Stiftung Hamburg dazu entschlossen, zu dem Thema ein Buch herauszubringen.
Als Autorin konnte sie die Hamburgerin Wiebe Bökemeier gewinnen, die in einfühlsamen Porträts die Gedankenwelt von 14 psychisch kranken Menschen in Worte fasst. Da ist zum Beispiel einer, der sich selbst „Kinski“ nennt und der wie alle Protagonisten des Buches die ambulante Sozialpsychiatrie der Stiftung in Anspruch nimmt, die er liebevoll als „Bematschten Club“ bezeichnet. „Kinski“, der nach eigenen Angaben zu Hause „gegen einen Hund“ ausgetauscht worden sei, kam mit elf Jahren ins Heim. Dort erlebt er jahrelang Erniedrigungen, die ihn noch immer prägen. Der heute 43-Jährige leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und sieht sich selbst „am Ende der Nahrungskette, an der er perspektivlos baumele“.
Plötzlich Stimmen im Kopf
Oder da ist Anna, die mit 32 plötzlich Stimmen in ihrem Kopf hört. „Erst eine, dann ganz viele. Anna, die sich dennoch nicht krank fühlt, landet immer wieder im Krankenhaus, wird eingestellt, kommt wieder raus, setzt die Medikamente wieder ab, weil sie „die Watte um ihre Seele nicht ertrage“, wie Wiebe Bökemeier schreibt. Heute bekommt Anne alle 14 Tage Psychopharmaka, die ihr zwar ermöglichen, alleine zu Hause zu leben, aber die ihre Gedanken und Gefühle auch einsperren würden.
Bökemeier hat sich, wie sie bei der Buchpräsentation von „Wir, ,Kinski‘ und ich – Alltag im Ausnahmezustand“ am Montag in der HafenCity erzählt, vor den Interviews bewusst nicht mit den jeweiligen Krankheitsbildern beschäftigt. „Ich wollte unvoreingenommen und neugierig an die Menschen herangehen.“ Die Begegnungen mit den Menschen hätten sie in vielerlei Hinsicht beeindruckt: „Ich durfte sieben Frauen und Männer treffen, die mich überraschten, begeisterten, zum Nachdenken, Lachen und Weinen brachten“, so die 39 Jahre alte Autorin.
Fast 18 Millionen Menschen betroffen
Nach Angaben der Pestalozzi-Stiftung sind fast 18 Millionen Menschen in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen, die wiederum ein Fünftel der Krankmeldungen ausmachen. „Das Buch legt den Fokus auf die Menschen, die oft als am Rand lebend bezeichnet werden, obwohl das Gegenteil der Fall ist, denn sie leben in unserer Mitte“, sagt Christian Violka, Vorstand der Pestalozzi-Stiftung. „Wir wünschen uns, dass die Geschichten bei den Leserinnen und Lesern die Bereitschaft auslösen, Gedanken, Emotionen und Motive einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“
Die Schirmherrschaft für das Projekt der Stiftung hat die Hamburger Autorin Petra Oelker übernommen („Die Brücke zwischen den Welten“). „Seelische Krankheiten erscheinen uns oft fremd und unheimlich“, sagt die 72-Jährige. „Aber sie können jeden treffen. Umso wichtiger ist dieses großartige Buch. Wie nebenbei zeigen diese Geschichten auch, wie eng das ,Normale‘ und das ,Kranke‘ verschwistert und häufig nur wenig voneinander zu trennen sind.“ Das habe auch die Autorin Wiebe Bökemeier gelernt. „Viele Menschen dachten, ich würde für das Projekt lauter Verrückte treffen. Aber total verrückt war keiner, es war einfach nur vielfältig.“
Wir, ,Kinski‘ und ich – Alltag im Ausnahmezustand“ ist direkt bei der Pestalozzi-Stiftung Hamburg für 12,90 Euro erhältlich. Tel: 040/ 639014-0, Email: info@pestalozzi-hamburg.de
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