Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi trägt aus Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ vor.

Das Grundgesetz ist ein sehr stabiles Fundament. Es wurde vielleicht in Einzelheiten zu oft ergänzt, aber als Verfassung ist es eine sehr zuverlässige Grundlage unserer gesellschaftlichen Existenz. Allerdings neigen wir in unserem Perfektionismus dazu, zu viele Dinge festzuschreiben und uns Fesseln anzulegen. Dadurch wird der Politik zu wenig Gelegenheit für neue Wege gegeben.

Das Grundgesetz wurde von Männern und Frauen erarbeitet, die die Erfahrungen der Nazizeit noch in den Knochen hatten. Es waren auch Leute aus dem Widerstand mit konkreten Erfahrungen eines Lebens in einer Diktatur. Es wurde also auch gelernt aus den Fehlern der Weimarer Verfassung; denn diese war offenbar nicht geeignet für harte, schwierige Zeiten. Das wird schon daran deutlich, dass es in den 14 Jahren der Weimarer Republik 20 Regierungen gab.

"Bin erst mit dem Grundgesetz politisch erwachsen geworden"

Die Verfasser des Grundgesetzes haben zwei sehr wichtige Überlegungen angestellt: das Wiederverankern des Föderalismus, der historisch das Fundament des deutschen Erfolges war, denn Dezentralisierung fördert Eigenverantwortung. Die zweite war das konstruktive Misstrauensvotum, damit eine Regierung erst fällt, wenn eine andere Regierung gewählt werden kann.

Politisch erwachsen bin ich erst mit dem Grundgesetz geworden. Ich weiß, was die Demokratie und die Stabilität, die das Grundgesetz garantiert, bedeuten – obwohl diese Stabilität durch die neuen Medien schon wieder in Gefahr gerät. Denn sie sind ein wesentlicher Teil der schnellen Verbreitung von unrichtigen Behauptungen, von Fake News. Wenn man sich aber nicht mehr darauf verlassen kann, ob etwas stimmt oder nicht, ist das für die Demokratie gefährlich.

Es geht auch um den Schutz der Meinungsfreiheit

Mit diesem ersten Artikel des Grundgesetzes hängt ja auch der Schutz der Meinungsfreiheit zusammen. Denn auch wenn man jemanden zwingt zu schweigen, nimmt man ihm seine Menschenwürde.

Der erste Satz des ersten Artikels ist also gewissermaßen der Schirm, das Dach über dem ganzen Grundgesetz, Dach und Fundament zugleich.

Aber wir müssen das Grundgesetz auch leben. Wir alle wissen um die Unvollkommenheit des Menschen; wir alle halten uns nicht immer an die Grundsätze dieses ersten Artikels. Das ändert aber nichts daran, dass er ein entscheidender Maßstab auch für das tägliche Leben und die Politik ist. Der Satz hat wohl eine tiefe christliche Komponente. Man könnte an seine Stelle fast die Worte „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ setzen – oder eben auch: „Achte deinen Nächsten wie dich selbst.“