Hamburg. Heute Thema der Serie: ein Gespräch über die Abgründe im Menschen und die Hoffnung, dass am Ende das Gute siegt.

Böse – das sind immer die anderen. Mit dieser Kategorie zieht die aufgeklärte Gesellschaft gern eine Grenze zwischen den „Zivilisierten“ und den „Barbaren“. Dennoch löst das „Böse“ bei vielen Menschen eine Faszination aus. Wie es dazu kommt, darüber diskutieren die Kriminologin Christine Hentschel und die Bildungsforscherin Sylvia Kesper-Biermann mit dem Abendblatt.

Er bezeichnet die EU als Feind: Ist US-Präsident Donald Trump ein böser Mensch?

Sylvia Kesper -Biermann: Ich finde die Kategorie des Bösen schwierig. Aber viele seiner Handlungen sind für mich nicht nachvollziehbar.

Trump wirkt auf manchen Fotos unvorteilhaft und irgendwie auch böse. Vielleicht ist er gar nicht so schlecht?

Christine Hentschel: Die Frage ist natürlich verlockend, ob Trump narzisstisch, verrückt, nicht so klug oder sogar böse ist. Als Sozialwissenschaftlerin frage ich aber lieber: Was für ein Regime schafft er, was setzt er in Gang? Das ist tatsächlich verheerend. Es wäre also verkürzt, nur auf seine Person zu schauen.

Fernsehanstalten tragen zur ständigen medialen Präsenz böser Menschen bei, denken wir nur an die historischen Dokumentationen über Adolf Hitler. Was fasziniert denn die Zuschauer am Bösen?

Kesper-Biermann: Die Faszination des Bösen hat eine lange Tradition. Ich habe mich wissenschaftlich mit Foltermuseen beschäftigt. Da spielt der Aspekt der Faszination des Bösen in Gestalt der Folter und die museale Präsentation eine große Rolle. Die Zuschauer können in diesen Museen dem Bösen begegnen, ohne dass es sie selbst betrifft. Diese Distanz erzeugt beim Betrachter eine Mischung aus Abscheu und Vergnügen.

Wieso?

Kesper-Biermann: Ich würde mit der Emotionsforschung argumentieren: Ekel, Abscheu als Emotion spielt eine Rolle, aber auch Lust. Gerade dann, wenn moralische Grenzen überschritten werden.

Empfindet jeder Mensch Abscheu, Ekel und Lust, wenn er sich zum Beispiel Gewaltdarstellungen im Film anschaut?

Hentschel: Wir alle können diese Emotionen mobilisieren, und oft sind verschiedene, scheinbar widersprüchliche Emotionen gleichzeitig am Werk. Zum Beispiel: Viele, die von Trump gar nichts halten, lassen sich von seinen Tweets und Skandalen immer wieder hinreißen. Mit dem Unterhaltungswert dieses dramatischen politischen Agierens müssen wir uns auseinandersetzen.

Welche kulturellen Techniken sollte man entwickeln, um sich diesem Unterhaltungswert zu entziehen?

Hentschel: Sich zu entziehen ist tatsächlich eine interessante Variante: den atemberaubenden Rhythmus der Absurditäten nicht einfach mitzumachen. Dann lässt sich der Blick schärfen für die eigentlichen Ungeheuerlichkeiten. Eine andere Möglichkeit verfolgt die politische Satire, vor allem in den Late Night Shows: In der leichtfüßigen wie unverschämten Auseinandersetzung mit der Regierung Trump findet gegenwärtig eine interessante und erfrischende Form der Kritik statt.

Kesper-Biermann : Indem wir darüber sprechen, verhandeln wir darüber, was böses und gutes Verhalten ist. Am Beispiel der Folter und ihrer Darstellung in den Museen wird deutlich: Längst ist die Ablehnung der Folter in unserer Gegenwart zur gesellschaftlichen Norm geworden. Früher dagegen war sie fester und nicht hinterfragter Bestandteil des Strafverfahrens.

Welches Foltermuseum in Deutschland können Sie denn empfehlen?

Kesper-Biermann : Ich kann Ihnen leichter die Frage beantworten, welches ich nicht empfehlen kann. Es gibt viele Foltermuseen, in denen Dinge so ausgestellt werden, dass Emotionen und Sensationen im Mittelpunkt stehen, was häufig zulasten wissenschaftlicher Geschichtsbilder geht. Es sind hauptsächlich private, kommerzielle Unternehmen, die nach diesem Konzept arbeiten.

Auch das Hamburg Dungeon?

Kesper-Biermann: Das funktioniert im Prinzip genauso.

Verstehen Sie jene Menschen, die sich das anschauen?

Kesper-Biermann: Ja, weil es für sie eine Form der Selbstvergewisserung ist – nach dem Motto: Das war früher, damit haben wir heute nichts mehr zu tun.

Ist die zivilisatorische Decke in unserer Gesellschaft wirklich so stark?

Hentschel: Sicher nicht. Wir können eine Nervosität im öffentlichen Diskurs darüber vernehmen, dass die Demokratie nicht so stabil ist, wie wir bisher vielleicht geglaubt haben. Denken wir nur an die rechtspopulistischen Herausforderungen.

Wer sind denn die Garanten des Guten?

Hentschel: Das Gute muss immer wieder erkämpft und gesellschaftlich ausgehandelt werden.

Und was ist das Böse?

Kesper-Biermann: Was als böse angesehen wird, wandelt sich im Verlauf der Geschichte. Grundsätzlich gilt: Was in jeder Epoche als Böses angesehen wird, wird gesellschaftlich sanktioniert. Bis zu einem gewissen Grade spiegeln die jeweils geltenden rechtlichen Normen über Gut und Böse gesellschaftliche Vorstellungen wider.

Machen der Staat, der Fürst, die Kirchen dafür normative Vorgaben?

Kesper-Biermann: Ja, die Religion hat früher großen Einfluss gehabt auf Vorstellungen über gutes und richtiges Verhalten.

In der NS-Zeit galt die Tötung sogenannten lebensunwerten Lebens als „gut“ - die Euthanasie.

Kesper-Biermann : Sie wurde tatsächlich von Teilen der Gesellschaft unterstützt. Die Euthanasie ist aber auch ein Beispiel dafür, wie wachsender Widerstand in der Bevölkerung dazu geführt hat, dass sie zumindest offiziell nicht mehr vollzogen wurde.

Noch einmal nachgehakt: Was ist denn nun das „Böse“?

Hentschel: Das Böse ist eine Konstruktion, mit der wir eine Grenze zwischen „uns“ und „dem anderen“, dem „Zivilisierten“ und dem „Barbarischen“ ziehen. Wir lokalisieren das Böse gern außerhalb von uns selbst, im Terroristen oder Kinderschänder, und definieren damit, was wir nicht sind und wen es zu bestrafen, auszuschließen oder zu verändern gilt. Als Sozialwissenschaftlerin erklärt mir die Kategorie jedoch nicht viel. Wenn man sagt, er oder sie war ganz böse, braucht man nicht die Frage nach gesellschaftspolitischen Bedingungen zu stellen. Aber diese Frage ist wichtig.

Wie hat sich das Böse in der Geschichte gewandelt?

Kesper-Biermann: Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde es oft mit dem Übernatürlichen verknüpft, etwa dem Teufel als Person.

Die Leidtragenden waren damals zum Beispiel die „Hexen“.

Kesper-Biermann: Sie wurden als mit dem Bösen verbündet angesehen. Aus Sicht der Zeitgenossen galten sie als eine reale Gefahr.

Könnte man sagen: Das heute Gute wird in 100 Jahren womöglich als das Böse bewertet?

Hentschel: Das ist eine interessante, eine schwere Frage. Wir müssen sie uns vor allem als politisch interessierte Menschen stellen. Welche verheerenden Effekte entstehen aus gedankenlosen, unkoordinierten Handlungsweisen und der Weigerung, Verantwortung zu übernehmen? Ich denke an die Klimakatastrophe, das Infragestellen von Menschenrechten und den wachsenden Autoritarismus. Das sind besorgniserregende Entwicklungen, für die wir so ein Gedankenexperiment – wie sieht das aus der Zukunft aus? – sehr gut gebrauchen können, um uns klarzumachen, auf welchem Weg wir sind.

Kesper-Biermann : Die Folter ist das beste Beispiel für einen Wandel der Wahrnehmung, was gut oder böse ist. Über Jahrhunderte ist gefoltert worden, ohne dass das problematisch war. Folter war ein normaler Bestandteil des Strafverfahrens, den kaum jemand für verwerflich hielt. Um 1800 vollzog sich aber ein Wandel in der Wahrnehmung. Da hat man gesagt: Folter ist die Inkarnation des Bösen. Es kann sein, dass wir in 100 Jahren Ähnliches über das heute vermeintlich Gute sagen.

Menschen lesen heute gern Krimis, sehen den „Tatort“ und Spielfilme über Massenmörder. Wie haben sich die einzelnen Genres entwickelt, die das Böse thematisieren?

Hentschel: Interessant ist, wie viele gegenwärtige Filme, Serien und Computerspiele in einem wahrhaft apokalyptischen Setting spielen: Hier, am Ende der Welt, mit all den Zombies und archaischen Freund-Feind-Beziehungen, können wir jede Menge über Gesellschaft erfahren – nicht nur über Ängste und Zukunftsvisionen, sondern auch über den Unterschied zwischen purem Überleben und gesellschaftlichem Zusammenleben.

Wie würde ein apokalyptischer Film über Hamburg aussehen?

Hentschel: Wow! Also, die Stadt ist in Ruinen. Keine Infrastruktur funktioniert mehr: kein Gas, kein Wasser. Es bleiben eine Handvoll Leute mit Verletzungen übrig, im puren Überlebensmodus, die Aushandlungsprozesse sind brutal: Wer mit und wer gegen wen, wer kann geopfert werden, wer bekommt das letzte Stück Brot?

Wie endet das? Siegt das Gute?

Hentschel: Die Antwort verrate ich erst am Ende des Interviews.

Kesper-Biermann: Ein Rolle spielt auch, dass die Menschen wissen wollen, woher das Böse kommt. Anhand von berühmten Verbrechergeschichten kann das medial dokumentiert werden.

Welche Figur zum Beispiel meinen Sie?

Kesper-Biermann: Den Serienmörder Fritz Haarmann, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Hannover 24 Jungen und junge Männer zerstückelt hat. Er wurde 1924 zum Tode verurteilt. Oder die Bremer Giftmörderin Gesche Gottfried. Sie hat im 19. Jahrhundert 15 Personen aus ihrer Familie über einen längeren Zeitraum mit Arsen vergiftet. Das ist auch so ein Fall, der die Menschen fasziniert.

Wollen die Zuschauer inzwischen immer neue Grausamkeiten sehen?

Kesper-Biermann: Durch die technischen Möglichkeiten entsteht eine Eigendynamik. Es ist eine mediale Spirale der Gewalt in Gang gesetzt.

Lösen Gewaltvideos und gewaltverherrlichende Computerspiele bei den Usern und Zuschauern gewalttätige Handlungen aus?

Kesper-Biermann: Neuere Studien, beispielsweise des Universitätsklinikums Eppendorf, sehen keinen direkten Zusammenhang. Der erhöhte Konsum von Computerspielen mit Gewalt führt nicht automatisch zu Gewalt. Heute lächelt man über die Debatte in den 1950er-Jahren. Damals wurde darüber diskutiert, ob Comics bei Kindern und Jugendlichen Gewalt auslösen.

Tragen Religionen dazu bei, das Böse auf der Welt einzudämmen?

Kesper-Biermann: Die Idee des Christentums ist es, Gewalt zu minimieren. Das Problem ist nur, dass die Menschen sich nicht danach verhalten.

Hentschel: Die Rolle von Religion ist zwiespältig. Zum einen haben Menschen wie Martin Luther King aus ihrem Glauben Mut und Kraft zur Veränderung geschöpft, zum anderen kann Religion zu Selbstgerechtigkeit und Moralisierung führen, und die Zuschreibung des Bösen ist dabei ein zentraler Bestandteil.

Jeder von uns ist also böse?

Hentschel: Jeder hat das Potenzial zu ganz gemeinen Handlungen.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten als Bildungsministerin über Bildungsinhalte zum Thema „Das Böse“ mitentscheiden. Was würden Sie den Schülern vermitteln?

Hentschel: Zunächst müssten sich die Schüler mit Stereotypen und wirkmächtigen Bildern über das Böse auseinandersetzen, zum Beispiel in der Kunst und Literatur. Dann kämen die Zuschreibungen und Begründungen unter die Lupe, zum Beispiel in Geschichte: Mit welcher Begründung ist jemand auf dem Scheiterhaufen gelandet? Aber auch: Wo lässt uns Unrecht und Gewalt völlig kalt? Neben der Faszination mit dem Bösen gibt es ja auch die andere Seite der erstaunlichen Gleichgültigkeit.

Kesper-Biermann: Ich würde die Darstellung des Bösen in der bildenden Kunst im Unterricht thematisieren.

Wie sollten junge wie ältere Mediennutzer mit der Faszination des Bösen umgehen?

Kesper-Biermann: Sie sollten akzeptieren, dass man diese Seite hat. Darüber zu reflektieren – das ist ein sinnvoller erster Schritt. Wir sollten uns bewusst machen, was genau uns am Bösen fasziniert.

Hentschel: Das Böse und seine Faszination wegzudrängen ist genau das Falsche. Dann sind wir überrascht, wenn sich ein Terrorist mitten in einer „unserer“ Großstädte in die Luft sprengt.

Eltern sollten ihren Kindern in erster Linie nicht das Böse auf der Welt zeigen, sondern das Gute. Gibt es positive Vorbilder?

Kesper-Biermann: Martin Luther King fällt mir dazu ein. Noch wichtiger als der Hinweis auf große Persönlichkeiten ist die stete Vermittlung von Werten und Menschenrechten.

Frau Hentschel, wie endet Ihr Drehbuch über die Hamburg-Apokalypse?

Hentschel: Ich entscheide mich heute für das Gute. Vielleicht finden sich die Überlebenden in einer Art Endzeitforum zusammen und versuchen, einigermaßen kluge und gerechte Entscheidungen auszuloten: Was lässt sich aufbauen, gibt es überhaupt eine Zukunft für die Stadt?

Und die Elbphilharmonie?

Hentschel: Leider zerstört ... Aber hier und da hört man ganz eigene musikähnliche Laute. Es gibt also Hoffnung!