Jeden Sonnabend im Hamburger Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es um Nachrichten und wichtige Denkprozesse

Dieser Text kann vielleicht Ihr Leben verändern: Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. André Zimpel und die Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Katharina Kleinen-von Königslöw erklären, wie wir Informationen aufnehmen und wie viele wir brauchen.

Was sind eigentlich Informationen?

Kleinen-von Königslöw : Was jemand als Information empfindet, entscheidet er sehr individuell und nicht besonders bewusst.

Wie steuern wir das?

KvK: Wir nehmen vor allem Informationen auf, die unser Weltbild unterstützen oder bestätigen. Das ist eine Strategie, die aus Sicht des Einzelnen praktisch ist, weil er auf Wissen aufbauen kann. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist dieses Verhalten schwierig, weil die Menschen kaum in der Lage sind, einen anderen Blick auf die Welt zu wagen.

Zimpel: Unsere Forschungen haben ergeben, dass ein menschliches Gehirn eine Nachricht besonders dann gut verarbeitet, wenn zwei Drittel der Informationen mit etwas Bekanntem zu tun haben. Nur ein Drittel der Informationen einer Nachricht sind dann neu und können gut im Gehirn verankert werden.

Früher gab es viel weniger Informationsquellen als heute. Hatten die Menschen es deswegen einfacher, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten?

Zimpel: Ich bin in der DDR aufgewachsen, in der wir permanent von Informationen abgeschirmt wurden. Viele Nachrichten sind uns entgangen. Das hatte viele Nachteile, aber auch den Vorteil, dass man die wenigen Nachrichten, die man kannte, schnell einordnen konnte. Für viele Menschen war es nach der Wiedervereinigung ein Schock, auf einmal auf so viele sich widersprechende Meinungen und Informationen zu treffen und dazwischen auswählen zu müssen. Das ist wie mit einer Speisekarte, auf der zu viele Gerichte angeboten werden, da dauert die Entscheidung länger und ist schwieriger.

War das, was für die Ostdeutschen die Wiedervereinigung war, für alle anderen dann die Erfindung des Internets mit seinen unendlichen Informationsquellen?

KvK: Das kann man so sagen. Immer mehr Menschen kommen im Internet mit Informationsquellen in Kontakt, deren Qualität sie überhaupt nicht einschätzen können. Und die Smartphones machen es schwierig, überhaupt zu erschließen, um welche Quelle es sich handelt. Das kann schnell zu einer Überforderung führen.

Zimpel: Deshalb wird die Bedeutung der klassischen Medien auch wieder steigen, weil sie die Informationen sichten und eine Vorauswahl treffen. Und weil man als Nutzer oder Leser weiß, wer für die Richtigkeit bürgt.

Sag ich doch: Was kann es Schöneres als eine Zeitung geben, die einem die Welt übersichtlich und relativ schnell erklärt. Warum beklagen sich Menschen über die Informationsflut, obwohl es doch so ein einfaches Mittel dagegen gibt – zum Beispiel das Hamburger Abendblatt?

KvK: In allen Studien stellen wir fest, dass Menschen sich von den Informationen überfordert fühlen. Trotzdem erzeugt allein das Vorhandensein von so vielen kostenlosen Informationen im Netz den Druck, diese auch zu nutzen. Und weil immer mehr Informationen reinkommen, fällt es den Nutzern noch schwerer als bisher, die auszuwählen, die für sie relevant sind. Ich gehe davon aus, dass die Menschen früher oder später zu den Medienmarken, die sie kennen, zurückkehren werden.

Ist es klug, sich am Tag vielleicht nur einmal oder zweimal mit Nachrichten zu beschäftigen, als zu versuchen, ständig am Informationsfluss dranzubleiben?

KvK: Das kann gegen eine Informationsüberflutung helfen. Was mir als Kommunikationswissenschaftlerin mehr Sorge macht, ist die Zunahme der sogenannten News-find-me-Einstellung durch die Informationsüberflutung. Soll heißen: Ich muss gar nichts mehr dafür tun, um mich zu informieren.

Mein Nachbar sagt immer: Was ich wissen muss, erreicht mich schon irgendwie.

Zimpel: Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Nachbar recht hat.

KvK: Das Problem der News-finds-me-Einstellung ist: Je länger ich mich nur darauf verlasse, dass ich von allen wichtigen Ereignissen schon etwas hören werde, desto mehr fehlen mir Informationen über Zusammenhänge. Ich verlerne, diese Ereignisse einzuordnen. Das wiederum führt dazu, dass mich bestimmte Ereignisse vor allem emotional berühren und ich mich darüber aufrege, weil ich nicht weiß, wie es genau dazu gekommen ist.

Soll heißen: Wer nur ganz schnell viele kurze Nachrichtenhäppchen konsumiert, versteht irgendwann die Welt nicht mehr.

Zimpel: Es ist wie auf einem Schreibtisch, auf dem sich immer mehr Zettel stapeln. Mit steigender Unordnung wächst die Zahl an Informationen, die ich benötige, um etwas zu finden – und es wird immer schwieriger, den Durch- beziehungsweise Überblick zu behalten. Dazu kommt, dass wir Menschen zwei Denksysteme haben. Ein schnelles und ein langsames.

Die wie funktionieren?

Zimpel: Im Inneren des Gehirns haben wir zum einen ein System, das in Sekundenschnelle Vorurteile und Meinungen bildet. Dieses System sagt mir sofort, was ich sympathisch und unsympathisch finde, was gut oder böse. Was Kinder mühsam lernen müssen, ist, diese schnellen Entscheidungen zu unterdrücken – das meinen wir, wenn wir von der sogenannten Impulskontrolle sprechen. Wir müssen lernen, Vorurteile zu überprüfen. Dafür haben wir nämlich das Stirnhirn, das sehr viel Energie genau darauf verwendet.

KvK: Leider sind Smartphones und soziale Medien so konstruiert, dass sie vor allem das erste System, also die oberflächliche Informationsverarbeitung, stimulieren. Das zweite System, das uns bei der Einordnung von Informationen hilft, wird gar nicht erst eingeschaltet. Das ist das zentrale Problem: Wie bekommen wir Leute dazu, diesen Modus zu verlassen, wenn es wichtig wird?

Zimpel: Das ist der eigentliche Sinn von Bildung. An Schulen und Universitäten geht es gar nicht mehr vorrangig um Wissensvermittlung. Heute lernen die Studierenden, das Stirnhirn einzuschalten, sich Zeit zu nehmen, um Informationen bewerten zu können. Das wird immer wichtiger. Es wird nicht mehr um einen Wissenskanon gehen, sondern darum, die oben beschriebenen Impulse zu kontrollieren.

Ich halte fest: Wer sich von Informationen erschlagen fühlt, muss mehr mit dem Stirnhirn denken. Was hilft noch, darunter die richtigen zu finden?

Zimpel: Informationen bleiben nur dann im Gedächtnis, wenn eine Emotion dazu kommt. Ohne Emotionen bleibt keine Information im Gedächtnis.

Deshalb war das Interesse an der Rettung der Fußballmannschaft aus der Höhle in Thailand so groß.

Zimpel: Genau. Bei dieser Geschichte kommt dazu, dass sich ein Leser eine Höhle, Hochwasser und eine eingeschlossene Fußballmannschaft eher vorstellen kann als Menschen, die in Syrien den Krieg erleben.

So eine Geschichte wie die in der Höhle hatte es bis zu diesem Zeitpunkt aber auch noch nicht gegeben. Würde das Gleiche in ein paar Wochen noch einmal passieren, wäre das Interesse geringer, oder?

KvK: Auf jeden Fall. Eine Information weckt vor allem dann Interesse, wenn sie neu und überraschend ist, wenn man von so etwas noch nie gehört hat. Gleichzeitig brauchen wir in einer solchen Geschichte aber Dinge, die wir kennen, die wir einordnen können und die in unser Weltbild passen, sonst schreckt sie uns eher ab.

Verdrängen wir deshalb Hungersnöte in der Dritten Welt oder andere Katastrophen?

KvK: Ja, weil das Informationen sind, die uns überfordern und bei denen es kaum eine Aussicht auf Lösungen gibt.

Zimpel: Das liegt auch an einer bestimmten Art von Zellen, den Spiegelneuronen, die uns eine Art von Identifizierung ermöglichen, als wären wir bei einer Geschichte selbst dabei gewesen. Und das gelingt mit fußballspielenden Jugendlichen leichter als mit Menschen in einem Kriegsgebiet. Unser Organismus ist darauf eingestellt, Leid zu vermeiden. Deshalb haben es schlechte Informationen schwerer, uns zu erreichen.

Das stimmt einerseits. Andererseits sind es gerade Verbrechen, die Menschen besonders interessieren. Wie passt das zusammen?

KvK: Weil die Menschen intuitiv das Gefühl haben: Da ist etwas passiert, was ich wissen muss, da geht es um etwas, was auch mich bedrohen könnte. Entsprechende Informationen zielen vor allem auf die Angst, die Menschen vor Verbrechen haben.

Zimpel: Eine Rolle spielt auch, dass unser Gehirn immer wieder überprüft, ob die eigene Umwelt in Ordnung ist. Gibt es einen Grund, unruhig zu werden? Immer wenn es den gibt, ist das Gehirn sehr gut durchblutet, man fühlt sich leistungsstark. Darum lieben wir Krimis wie den „Tatort“, wo etwas passiert, was mich munter macht. Verbrechensgeschichten wirken wie ein Espresso.

Und auch bei diesen Informationen spielen Emotionen wieder eine große Rolle. Jetzt verstehe ich auch, warum es politische Informationen so schwer haben. Die kommen in der Regel ja relativ unemotional daher …

Kvk: Beim Asylstreit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer war das anders. Aber ansonsten haben Sie recht: Bei vielen politischen Informationen sind die Relevanz oder der Bezug zum eigenen Leben wenig greifbar.

Wenn Emotionen für die Informationsaufnahme so eine Bedeutung haben: Warum setzen dann Politiker wie Merkel oder Olaf Scholz auf Nüchternheit und Sachlichkeit?

KvK: Ich finde es beruhigend, dass wir in Deutschland Politiker haben, die versuchen, das Stirnhirn zu erreichen. Und denen es gleichzeitig darüber gelingen kann, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Man kann auch über das Ausstrahlen von Sicherheit Menschen für sich gewinnen.

Man braucht aber mehr Zeit.

Zimpel: Aber auf lange Sicht gewinnt man Vertrauen. Wir Menschen mögen zwar Politiker, die uns aufregen. Auf lange Sicht wird sich aber der durchsetzen, der auf Sicherheit und Beruhigung setzt. Diejenigen, die die Karte der Emotion überreizen, wird man schnell nicht mehr hören. Das ist wie bei der Geschichte mit dem Kind, das immer grundlos um Hilfe schreibt. Wenn es wirklich einmal Hilfe braucht, nimmt es keiner mehr ernst.

Wenn ich das alles so höre, stelle ich erfreut fest: Mein Körper hat verschiedene Systeme, um Informationen zu bewerten. Schützt er mich auch vor Überforderung?

KvK: Die meisten Menschen merken intuitiv, wenn sie eine Pause von Informationen brauchen. Und notfalls bekommen sie einen Hinweis aus ihrem sozialen Umfeld, so etwas wie: Leg mal das Handy weg!

Lässt sich überhaupt sagen, wie viele Informationen man täglich braucht?

Zimpel: Wir merken es physiologisch. Wenn ich das Gefühl habe, im Flow zu sein, habe ich genau die richtige Anzahl an Informationen, die ich brauche.

Was ist bitte ein Flow?

Zimpel: Flow ist ein Zustand, in dem ich alles um mich herum vergesse und mich nur auf eine Sache konzentrieren kann, weil ich herausgefordert, aber nicht überfordert bin.

Der Fußballer würde sagen: Ich bin im Tunnel.

Zimpel: Richtig. Man spürt, dass man genau so viele Informationen hat, um voranzukommen, aber nicht zu viele, die einen ablenken. Das ist der optimale Zustand. Wenn ich zu viele Informationen habe, schweifen meinen Gedanken ab, ich werde unruhig oder gereizt. Dann ist das Stirnhirn überlastet, und die Emotionen gehen wieder hoch. Soll heißen: Wenn Sie merken, dass Sie aggressiv werden oder am liebsten wegrennen wollen, dann wissen Sie: ich bin überlastet. Zu viele Informationen.

Sie haben recht: Am schönsten ist es, wenn man im Tunnel ist, sich auf eine Sache konzentrieren kann. Aber wie oft schafft man das? Es reicht eine Mail, und der ganze Flow ist dahin …

Zimpel: Wichtig ist die Vorbereitung. Man muss seine Umgebung so gestalten, dass man möglichst störungsfrei arbeiten kann.

Ich sorge zum Beispiel jeden Abend dafür, dass sowohl mein Schreibtisch als auch mein E-Mail-Eingangsordner leer sind.

KvK: Ich habe in meinem Eingangsordner ungefähr 25.000 E-Mails.

Das ist doch Wahnsinn.

KvK: Ja, aber wie man sich seine ideale Umgebung schafft, ist eben individuell verschieden.

Wieso löschen Sie die Mails nicht?

KvK: Weil ich immer wieder auf E-Mails zurückkommen muss und vorher nicht weiß, auf welche.

Zimpel: Ich kann das bestätigen. Ich werde nervös, wenn ich nicht schnell an alle Informationen kommen kann, deshalb bewahre ich auch Tausende E-Mails auf. Für mich ist das die ideale Umgebung, um in den Flow zu kommen.

Gibt es Informationen, die unverzichtbar sind? Die jeder braucht?

KvK: In der politischen Kommunikation müssen Bürger wissen, was sie tun können, um ihren Beitrag zu unserer Demokratie zu leisten. Und sei es nur, dass sie zur Wahl gehen. Jeder sollte sich ein Mindestmaß an politischer Information aneignen und gelegentlich auffrischen.

Zimpel: Wir müssen ja auch immer fürchten, dass sich solche Dinge ändern und in Gefahr geraten. Deshalb müssen wir uns täglich über den Zustand unseres Landes und unserer Demokratie informieren. Das ist unverzichtbar. Und wir brauchen unsere tägliche Dosis an Informationen, damit sich unsere Denkleistung nicht verschlechtert.