Hamburg. Besucher des Ohnsorg-Theaters könnten sich wundern: Ihnen werden auf den Gängen immer mal wieder Kreuze aus Klebeband in allen möglichen Farben ins Auge fallen. Sie weisen den Weg ins Ohnsorg-Studio, der kleinen Bühne im Bieberhaus. Dort steht bis Juli ein ungewöhnliches Theaterprojekt auf dem Spielplan: „Ankamen – An(ge)-kommen“.
Im Mittelpunkt: sieben Senioren sowie drei junge Menschen. Wie bei ihrem 2015 mit dem Theaterpreis Hamburg ausgezeichneten Projekt „Tallyman un Schutenschubser“ haben Regisseur Michael Uhl und Cornelia Ehlers (Dramaturgie) mit Laiendarstellern gearbeitet. Waren es damals Hafensenioren, sind es diesmal Vertriebene und Flüchtlinge, die in dieser Inszenierung aus ihrem Leben erzählen.
Das Bieberhaus am Hauptbahnhof war im und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch jüngst Anlaufstelle für Geflüchtete – früher für Menschen aus Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, heute aus Eritrea oder Afghanistan.
Gisela Prüß, Jahrgang 1934, ist die einzige gebürtige Hamburgerin. Wie ihre Kollegen, fast alle auch in den 30er-Jahren geboren, markiert sie ihre Position auf der minimalistisch ausgestatteten Bühne (sieben Klappstühle, ein Flachbildschirm) mit einem Klebekreuz. Davon ausgehend erstrecken sich aller Lebens- und Fluchtwege inklusive Ausbombung mit immer neuen Klebestreifen während des gut einstündigen Abends bildhaft im ganzen Saal.
Gottlieb Krune, einen Wolgadeutscher, den es bis in die Ukraine verschlagen hatte und der erst 1994 in die Bundesrepublik kam, klebt seinen langen Weg sogar außerhalb des Ohnsorg-Studios weiter. Auch er ist längst ein Hamburger.
Zwei Jahre Recherche für die Bühnenfassung
Nach zwei Jahren Recherche und zahlreichen Gesprächen haben Uhl und Ehlers die Schicksale der Einzelnen zu einer Bühnenfassung verdichtet, ohne dass diese konstruiert wirkt. Die drei jungen Geflüchteten Bana, Rafi und Mojtaba, zwischendurch nur per Video zu sehen und zu hören, spielen darin nur eine Nebenrolle.
Umso mehr offenbaren sich die Senioren mit festgelegtem Text. Etwa Brigitte Werner, Jahrgang 1939, der man den Tod ihrer Mutter beim Angriff 1945 auf Danzig verschwieg. „Es blieb keine Zeit für Fragen. Nur für Lügen. Es hieß immer: „Weiter, weiter“, kommentiert sie jetzt.
Nach NS-Zeit, Krieg, Vertreibung und Hunger zeigt „Ankamen – An(gekommen)“, in dem mehr Hoch- als Plattdeutsch zu hören ist, aber auch Aufbau und Familienzusammenführung: Dafür dekorieren die Darsteller Klappstühle mit Stoff- und Lederkissen, hängen Bildchen auf, tanzen zu „Sugar Sugar Baby“ und hören Freddys „Heimweh“. Wie das Ehepaar Kwiatkowski aus Oberschlesien dank des Anstoßes einer Beamtin heiratete, um so nach Hamburg zu kommen, ist eine schöne Note.
„Der Akzent lässt sich nicht ändern. Aber die Verständigung, die kann man ändern. Von beiden Seiten“, spricht der Wolgadeutsche Krune (82). Wahre Worte eines Vertriebenen. „Ich bin einer davon. Und wir waren 15 Millionen“, fühlte sich auch ein gebürtiger Breslauer (84) im Publikum angesprochen. Insbesondere über Kindheit und Jugend besteht bei Gleichaltrigen Reflexions- und Redebedarf. Genau das kann, ja soll ein Theaterstück leisten.
„Ankamen – An(ge)kommen“ wieder Fr 15. und Sa 16.6., bis 5.7., jew. 19.00, Ohnsorg-Studio (U/S Hbf.), Heidi-Kabel-Platz, Karten 22,-/11,-; T. 35 08 03 21; www.ohnsorg.de
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