Hamburg. Heute: Weshalb das angeblich schwache Geschlecht biologisch klar im Vorteil ist und wie wir länger leben können.

Es ist ein weltweites Phänomen und schon seit Jahrhunderten zu beobachten: Frauen leben länger als Männer. Heute geborene Jungen werden, statistisch gesehen, im Durchschnitt 78 Jahre alt, Mädchen hingegen 83 Jahre. Warum das so ist und was wir aus Studien für unser eigenes Leben ableiten können, erklären Professor Olaf von dem Knesebeck, Fachmann für Medizinische Soziologie, und der Bewegungswissenschaftler Professor Klaus Mattes – beide von der Universität Hamburg.

Kennt einer von Ihnen das Geheimnis eines langen Lebens?

Prof. Klaus Mattes: Das dürfte nicht ein einzelnes Geheimnis sein, sondern gleich mehrere. Ich bin überzeugt, dass eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen, wenn es um ein langes Leben geht.

Wobei Männer und Frauen ja – zumindest statistisch gesehen – auf ein unterschiedlich langes Leben hoffen dürfen. Woran liegt das?

Prof. Olaf von dem Knesebeck: Das hat einmal biologische Gründe, da sind die Frauen klar im Vorteil. Hinzu kommen aber unterschiedliche Lebensbedingungen und vor allem Verhaltensweisen. Man kann den Anteil der biologischen Faktoren sogar quantifizieren: Eine Studie hat unter anderem die Lebenserwartungen von Mönchen und Nonnen miteinander verglichen, die also zweierlei Geschlechtern angehörten, ansonsten aber in ganz ähnlichen Umständen gelebt haben. Das Ergebnis: Die durchschnittliche Lebenserwartung der Nonnen lag ein Jahr über der der Mönche. Sie hatten ja gesagt: Es sind fünf Jahre, die Frauen durchschnittlich länger leben. Die Studie hat also gezeigt, dass die biologischen Faktoren etwa ein Jahr Lebenszeit ausmachen.

Was sind das für biologische Faktoren?

Mattes: Da wird immer wieder das doppelte X-Chromosom der Frauen als Ursache genannt. Auf diesem befinden sich viele Erbanlagen und Abschriften, die für das Immunsystem wichtig sind. Ist nun ein X-Chromosom defekt, kann eine Frau dies durch das zweite, intakte X-Chromosom ausgleichen. Diese Möglichkeit haben Männer durch ihre Ausstattung mit einem X- und einem Y-Chromosom nicht.

Die Experten

Daneben scheinen auch Hormone eine Rolle zu spielen, oder?

Mattes: Ja, während Männer etwa vom zehnten Lebensjahr an besser mit Testosteron ausgestattet sind, also dem männlichen Geschlechtshormon, haben Frauen Östrogene. Diesem weiblichen Hormon wird eine positive Wirkung im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zugeschrieben, besonders beim Schutz der Gefäßsysteme. Männer leiden relativ häufig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die nicht selten zum Tod führen.

Sind bei Männern und Frauen unterschiedliche Krankheiten am häufigsten für den Tod verantwortlich?

von dem Knesebeck: Beide Geschlechtsgruppen sterben am häufigsten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, in Deutschland sind das etwa 40 Prozent der Menschen. Aber es ist völlig richtig, dass das Östrogen die Frauen schützt – und sie deshalb im Schnitt zehn Jahre später als Männer zum Beispiel einen Herzinfarkt bekommen. Die zweithäufigste Todesursache sind Krebserkrankungen. Da gibt es große Unterschied zwischen den Geschlechtern. Bei Frauen spielt Brustkrebs eine große Rolle, bei Männern beispielsweise Lungen- und Prostatakrebs.

Macht das Testosteron Männer auch risikofreudiger?

Mattes: Ja, man kann sagen: Das ist ein Power-Hormon, es steigert die Risikobereitschaft. Männer haben häufiger als Frauen gefährliche Hobbys wie Klettern oder Motorradfahren. Daran sterben sie natürlich in den allermeisten Fällen nicht, aber die Todesfälle fließen eben in die Statistik mit ein. Auch steigt bei diesen Hobbys die Gefahr von Verletzungen, unter deren Spätfolgen die Männer ein Leben lang leiden. Testosteron macht Männer aggressiver, was sich im Straßenverkehr zeigt. Gerade junge Männer verunfallen häufiger tödlich.

von dem Knesebeck: Verkehrsunfälle verlaufen bei Männern etwa dreimal so häufig tödlich wie bei Frauen.

Mattes: Junge Männer achten sehr wenig auf ihre Gesundheit, weil ihre Gesundheit ja intakt ist. Auch die Suizidrate ist bei ihnen höher.

Da sind wir ja schon bei der Lebensführung. Wie wirkt sich die auf die Lebenserwartung aus?

von dem Knesebeck: Sehr stark. Wie gesagt: Die Lebenserwartung wird von den biologischen Faktoren, unseren Lebensbedingungen und unseren Verhaltensweisen beeinflusst – aber die Verhaltensweisen sind sehr, sehr wichtig. Männer ernähren sich tendenziell ungesünder, tun weniger für ihre Gesundheitsvorsorge, trinken im Durchschnitt größere Mengen Alkohol und rauchen mehr als Frauen. Wir haben gesagt, dass von den fünf Jahren, die Frauen länger leben als Männer, ein Jahr biologisch begründet ist. Man geht davon aus, dass von den übrigen vier Jahren Unterschied in der Lebenserwartung ein bis zwei Jahre auf das Rauchen zurückzuführen sind – im Schnitt, wohlgemerkt. Das liegt daran, dass Männer in der Vergangenheit deutlich mehr geraucht haben als Frauen. Das nähert sich jetzt zwar gerade an, aber im Moment erklärt das Rauchen noch einen beträchtlichen Teil der unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen. Alkoholkonsum kann ein Risikofaktor bei verschiedenen Krebsarten sowie in höheren Mengen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein.

Früher hat man gesagt, Frauen leben länger, weil Männer mehr Stress haben. In ihrer klassischen Rolle waren Männer meist die Haupternährer der Familie und haben viel gearbeitet. Heute sind auch Frauen stärker beruflich eingespannt, oft sogar in einer Doppelbelastung mit Karriere und Familie. Stimmte das früher überhaupt? Und wenn ja: Nähern sich Frauen und Männer da nicht heute stark aneinander an?

von dem Knesebeck: Das hat früher in der Tat eine Rolle gespielt. Da ging es nicht nur um Überstunden. Männer sind oftmals auch Berufen nachgegangen, die mit Gefahren oder gesundheitlichen Belastungen verbunden waren. Also schwere körperliche Arbeit, Tätigkeiten mit hohem Risiko von Arbeitsunfällen, regelmäßigem Umgang mit gefährlichen oder schädlichen Stoffen. Das ist insgesamt weniger geworden, die Arbeitswelt hat sich verändert. Aber Sie haben recht: Auch dadurch, dass Frauen heute viel stärker berufstätig sind, wird sich die Lebenserwartung von Frauen und Männern einander annähern. Alle Prognosen sagen, dass diese Unterschiede in den kommenden Jahrzehnten weniger werden. Hinzu kommt eben, dass sich auch die Verhaltensweisen angleichen, siehe das Rauchen.

Mattes: Schon richtig, der Arbeitsalltag von Frauen und Männern gleicht sich an. Es gibt aber auch Berufsgruppen, in denen Frauen weiterhin weniger stark vertreten sind und auch in Zukunft sein werden – wie beispielsweise im ­Baugewerbe, wo es schwere Arbeit mit hohem Verletzungsrisiko gibt. Die ­Lebenserwartung hängt übrigens nicht nur vom Geschlecht ab, sondern auch vom Sozialstatus. Das ist ein wichtiger Aspekt.

von dem Knesebeck: Das stimmt. Generell gilt: Je reicher Sie sind, desto länger leben Sie – statistisch gesehen. Das liegt unter anderem an einer besseren Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung und am qualifizierteren Job, aber wiederum auch am Rauchen. Der soziale Hintergrund spielt bei der Lebenserwartung eine große Rolle. Bei Männern beträgt der Unterschied bis zu elf Jahre, bei Frauen etwas weniger – acht bis neun Jahre.

Mit der besseren Versorgung hängt es sicherlich auch zusammen, dass unsere Lebenserwartung in den vergangenen 100 Jahren so stark gestiegen ist. Und es geht ja weiter: Eine Prognose sagt, dass die im Jahr 2060 geborenen Kinder hoffen dürfen, im Schnitt 85 bis 89 Jahre alt zu werden.

Mattes: Die Krankheiten und Seuchen, die im 19. Jahrhundert noch verheerend gewütet und Millionen Tote gefordert haben, spielen bei uns heute keine Rolle mehr. Die Gesundheitsversorgung ist sehr viel besser geworden. Klar: Durch die moderne Medizin ist die Lebenserwartung beträchtlich gestiegen.

von dem Knesebeck: Im Moment gehen wir davon aus, dass die durchschnittliche Lebenserwartung jedes Jahr um etwa drei Monate steigt. Diese Kurve wird künftig aber etwas abflachen. Wenn wir die statistische Lebenserwartung weiter erhöhen wollen, geht das nicht mehr, indem wir beispielsweise bei der Kindersterblichkeit ansetzen; da haben wir in Europa schon sehr viel erreicht. Sondern wir müssen versuchen, das Leben derjenigen zu verlängern, die schon ein höheres Alter erreicht haben. Wenn wir einen weiteren Zuwachs der Lebenserwartung erreichen wollen, müssen wir primär bei den Lebensbedingungen und den Verhaltensweisen ansetzen und sie so verbessern, dass Menschen gesund leben können. Die Biologie kann man ja nicht ändern.

Wenn sich die Arbeitswelten und Verhaltensweisen von Männern und Frauen einander annähern – achten Männer dann heute auch stärker auf ihre Gesundheit und besuchen Yoga-Kurse?

Mattes: Weniger. Auch wenn Männer statistisch gesehen früher sterben, fühlen sie sich gesunder. Frauen gehen deutlich häufiger zum Arzt. Sie achten mehr auf ihre Ernährung und auf Gesundheitsvorsorge. Das Gesundheitsbewusstsein der Männer wächst zwar. Was aber fehlt, sind Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung, die speziell auf Männer abgestimmt sind.

Gibt es die nicht?

Mattes: Es gibt sie, aber sie werden den Männern nicht richtig verkauft. Wenn man bei einem Angebot sagt, es geht um Gesundheit, fühlen sich Männer nicht angesprochen. Dazu müsste man das Angebot mit dem Aspekt der Leistungsfähigkeit verknüpfen, ihnen sagen: Wenn du gesund bist, kannst du deinen Job besser bewältigen, bist du stärker. Es ist schwer, Männer in einen Kurs für Yoga oder zur Stressbewältigung zu bekommen.

Sie sprachen schon die Klosterstudie des Bevölkerungswissenschaftlers Marc Luy an. Der hat nicht nur Mönche und Nonnen miteinander verglichen, sondern auch festgestellt, dass die Lebenserwartung von Mönchen vier Jahre höher ist als die des Durchschnittsmannes. Als Gründe sieht er tägliche Routine, wenig Stress und das gemäßigte Leben mit wenig Alkohol. Sollten wir alle leben wie die Mönche?

von dem Knesebeck: Das wäre wohl nicht realistisch. Aber man kann daran sehen, dass bestimmte Faktoren beeinflussbar sind. Wenn ein Jahr Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen biologisch festgelegt ist, dann sind vier Jahre beeinflussbar. Wir müssen die Arbeits- und Lebensbedingungen so gestalten, dass es Männern und Frauen möglich gemacht wird, sich gesund zu verhalten. Dazu gehören ein gesunder Arbeitsplatz, eine gesunde Schule, ein gesunder Stadtteil. Das ist gestaltbar. Im Kloster ist dies offenbar gut gelungen. Ich bezweifele, dass wir dies in unserem Alltag genauso hinbekommen. Aber wir können aus der Studie zumindest ablesen, welche Faktoren dazu beitragen, dass Menschen länger leben.

Sie sprechen gesunde Stadtteile an – viele Menschen haben das Gefühl, dass die Belastung durch immer mehr Bebauung, zunehmenden Verkehr, Feinstaub und Lärm eher wächst.

von dem Knesebeck: Ja, den Eindruck habe ich auch. Das ist ein Problem, das einer gesunden Lebensführung eher entgegensteht. Allerdings sind nicht alle Stadtteile gleichermaßen betroffen.

Zwar leben auf der ganzen Welt Frauen durchschnittlich länger als Männer. Aber sogar in Deutschland gibt es regionale Unterschiede. So haben Neugeborene in Baden-Württemberg und Bayern laut Statistischem Bundesamt eine etwas höhere Lebenserwartung als Babys in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Woran liegt das?

Mattes: Das sind keine biologischen, sondern sozio-ökonomische Faktoren. Baden-Württemberg und Bayern sind reiche Bundesländer, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt weniger. Auch die Lebenszufriedenheit spielt eine Rolle.

Wie sieht es mit der Lebenszufriedenheit der älteren Frauen aus, was fangen sie mit den zusätzlichen Jahren an? Viele sind im Alter einsam, wenn der Partner, mit dem sie Jahrzehnte verbracht haben, gestorben ist.

von dem Knesebeck: Das ist ein wichtiger Punkt. Auch im höheren Lebensalter gibt es Gestaltungspotenziale, die wir nutzen müssen. Da geht es nicht nur um Bewegungsförderung, sondern auch darum, älteren Frauen, die einsam sind, Angebote zu machen, sich zu engagieren und sozial am Leben teilzuhaben. Das ist auch Prävention. Es geht nicht immer nur um Rauchen und Ernährung.

Wenn man schon ein gewisses Alter erreicht hat: Was kann man tun, um fit zu bleiben und das Leben zu verlängern? Was sollte man tun?

Mattes: Je früher man anfängt, desto besser. Aber man kann in jedem Alter trainieren. Und das Schöne ist: Leistungsverbesserungen sieht man meist schon nach sechs Wochen. Am besten wird der Einstieg durch einen Experten betreut, egal ob im Verein, im Fitnessstudio oder allein zu Hause. Sonst besteht die Gefahr, dass man sich überfordert oder falsch trainiert. Am besten ist es, mindestens 60 Minuten in der Woche die Ausdauer zu trainieren, also Fahrrad fahren oder laufen. Dazu sollten Krafttraining kommen und Gleichgewichtsübungen.

Nächste Folge am kommenden Sonnabend: Darf man Mücken töten?