Hamburg. Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute erklären Expertinnen, warum es riskant sein kann, den Kinderwunsch hinauszuschieben.

Es könnte so einfach sein. Traumprinz trifft Traumprinzessin, sie verlieben sich, möchten ein gemeinsames Kind, sie wird schwanger, das Baby kommt zur Welt. Und sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Doch die Realität sieht oft anders aus.

Meine Oma hat noch zehn Kinder bekommen, meine Mutter drei, ich zwei. Wie haben sich die Geburtenraten in Deutschland allgemein entwickelt?

Prof. Birgit Pfau-Effinger: Bis 2013 war die Geburtenrate im europäischen Vergleich niedrig bei 1,4. Kürzlich ist sie etwas angestiegen auf 1,5, doch wenn man die endgültige Kinderzahl pro Frau im Durchschnitt betrachtet, so hat diese langfristig abgenommen und sinkt weiter. Außerdem ist der Anteil der kinderlosen Frauen gestiegen. Der liegt heute bei 20 Prozent, das ist tatsächlich ein Problem. Außerdem werden die Mütter immer älter. In den 60ern wurde eine Frau mit 25 schwanger, heute liegt der Durchschnitt bei 30 Jahren.

Welche Folgen hat das späte Kinderkriegen?

Prof. Barbara Schmalfeldt: Es gibt Untersuchungen, dass Frauen, die später Kinder bekommen, auch länger leben, weil sie biologisch etwas jünger sind und Kinder jung halten. Das klingt zunächst toll. Doch die Herausforderung ist, überhaupt noch schwanger zu werden. Wir kommen zur Welt mit einer Million Eizellen, schon zur Pubertät sind es nur noch 400.000, und die nehmen relativ schnell ab, womit die Fertilität der Frau sinkt. Ab 35 Jahren nimmt die Chance, schwanger zu werden, stark ab und wird über 40 noch mal deutlich geringer. Nur 16 Prozent der über 40-Jährigen, die schwanger werden wollen, schaffen es dann noch, also nicht einmal mehr jede Fünfte.

Bei älteren Müttern steigt auch die Zahl der Fehlgeburten und Fehlbildungen beim Kind.

Schmalfeldt: Leider ja. Ein Thema, das selten zur Sprache kommt. Deshalb lautet meine Empfehlung von frauenärztlicher Seite, möglichst bis zum Alter von 35 Jahren die Kinderwunschplanung anzugehen und das nicht so lange aufzuschieben, um sich womöglich viel Leid zu ersparen. Ich sage das meinen Patientinnen in der Sprechstunde auch so.

Fühlen wir uns durch medizinische Fortschritte wie künstliche Befruchtung oder dem Einfrieren von Eizellen unbewusst sicher?

Schmalfeldt: Es ist vor allem eine Chance. Ich behandele auch viele Frauen mit Krebserkrankungen, die eine Chemotherapie brauchen. Chemotherapien haben einen starken negativen Einfluss auf die Fruchtbarkeit, und für diese Betroffenen sind die medizinischen Möglichkeiten eine große Hilfe. Einfach nur aus sozialen Gründen würde ich das Einfrieren der Eizellen nicht empfehlen. Es handelt sich da schon um einen großen Eingriff. Der Zyklus muss hormonell stimuliert werden, die Ärzte wollen ja so viele Eizellen wie möglich gewinnen, die müssen dann abpunktiert werden, dabei handelt es sich um einen invasiven Eingriff, das ist nicht einfach nur eine Blutabnahme. Hinzu kommt ein großer finanzieller Aufwand. Die Kosten für eine künstliche Befruchtung werden nicht mehr komplett übernommen, sondern nur noch fünf Behandlungszyklen. Ich finde das schwierig, denn das setzt die Paare zusätzlich unter Druck.

Kann man sein Alter denn irgendwie anders überlisten?

Schmalfeldt: Doch, das geht. Der Lebenswandel hat einen großen Einfluss auf die Fertilität. Raucherinnen haben es schwerer, schwanger zu werden, ebenso negativ wirken sich Alkohol und Übergewicht aus. Es liegt ein Stück weit also in meiner Hand, aber die Eizellenuhr tickt!

Pfau-Effinger: Es verhält sich übrigens auch nicht so, dass die Frauen unbedingt späte Mütter sein wollen. Wünsche und Praxis unterscheiden sich da. Das gewünschte Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen möchten, liegt bei 27 Jahren, also fast drei Jahre vor dem Zeitpunkt, an dem die Frauen dann im Durchschnitt tatsächlich ihr erstes Kind bekommen.

Die Experten

Warum diese Verzögerung?

Pfau-Effinger: Das Aufschieben hat mit der verlängerten Berufsausbildung zu tun. In der Zeit, in der Frauen Kinder bekommen können, befinden sie sich in der sogenannten Rushhour ihres Lebens. Sie müssen mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen: Ihre Berufsausbildung abschließen, sich im Job etablieren und eine stabile Partnerschaft finden. Die ist in Deutschland Voraussetzung für die meisten Menschen dafür, überhaupt ein Kind zu bekommen. Allerdings zieht sich die Phase der Partnerwahl heute viel länger hin als früher.

Sollten wir das Kinderkriegen dann besser nicht mehr an die große Liebe knüpfen?

Pfau-Effinger: Für uns Deutsche soll eine Partnerschaft immer auf romantischer Liebe beruhen. Aber im anglo-amerikanischen Raum gibt es bereits Initiativen über Internetplattformen, bei denen Partner nur aus pragmatischen Gründen zusammenkommen, um gemeinsam ein Kind zu bekommen. Ich denke nicht, dass sich so eine Familienform in Deutschland durchsetzen würde, da unser Familienideal stark von der Vorstellung geprägt ist, dass ein Kind aus einer Liebesbeziehung heraus entstehen sollte. In Ostdeutschland haben die jungen Frauen oft weniger lange gewartet und haben ihre Kinder bekommen, auch wenn nicht klar war, ob die Partnerschaft ewig halten würde, in der Hinsicht waren sie auch nach der Wende noch viele Jahre lang pragmatischer als die westdeutschen Frauen.

Hilft es beim Elternsein, wenn man vor der Geburt des ersten Kindes schon lange mit seinem Partner zusammen war?

Pfau-Effinger: Die Scheidungsraten sprechen nicht dafür. Vielleicht ist sogar der Mut größer, ein Kind zu bekommen, wenn beide noch sehr verliebt sind. Aus diesem Überschwang heraus funktioniert es manchmal besser, als wenn eine Beziehung schon zehn Jahre besteht.

Wann gelingt der Übergang vom Zweier- zum Dreierteam am besten; woran scheitert er manchmal?

Pfau-Effinger: Es gibt eine unterschiedliche Bereitschaft von Männern und Frauen, Eltern zu werden, das sieht man an vielen Befragungen zum Kinderwunsch. In der Shell-Jugendstudie äußern Jungen weniger den Wunsch, irgendwann später Kinder zu bekommen, als Mädchen. Junge Männer wollen die Elternschaft gerne herausschieben, weil sie mit viel Verantwortung zu tun hat, bei ihnen tickt die biologische Uhr nicht.

Schmalfeldt: Doch, auch die männliche Fertilität nimmt ab 45 Jahren ab! Die Spermienqualität sinkt.

Dennoch können Männer länger Kinder zeugen, als es Frauen möglich ist, schwanger zu werden. Ein Dilemma.

Pfau-Effinger: Richtig. Hinzu kommt unser männliches Ernährermodell. In unserer Kultur denken wir, der Mann muss in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Vor allem auch deshalb, weil viele Frauen nach der Elternzeit nur noch in Teilzeit arbeiten. Das stellt hohe Anforderungen an die Männer.

Schmalfeldt: Ich glaube, der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist, wenn beide ihre Rolle gefunden haben.

Pfau-Effinger: Das Problem ist nur, dass dieser optimale Fall selten eintritt, zumindest nicht in der Phase, in der es den Frauen biologisch gut möglich wäre, schwanger zu werden. Irgendwas scheint immer noch nicht fertig zu sein, vieles vom angestrebten Ideal wurde noch nicht erreicht, der eine hat noch keine Festanstellung, der andere muss erst die Ausbildung abschließen oder eine bestimmte Karrierestufe erreichen.

Schmalfeldt: Aber Deutschland hat sich schon sehr entwickelt. In meiner Ausbildungszeit war es fast unmöglich, als Frau ein chirurgisches Fach zu wählen, weil es keine Teilzeitangebote gab. Da haben wir uns sehr verbessert. Gerade in medizinischen Berufen arbeiten viele Frauen, da waren flexiblere Arbeits­modelle nötig. Meine Mitarbeiterinnen bekommen teilweise in der Facharztausbildung schon das erste Kind, die sind hoch engagiert, teilen sich teilweise die Stellen, und das funktioniert sehr gut.

Aber 40 Prozent der Akademikerinnen bekommen gar keine Kinder. Weil wir mehr auf den Verstand hören als auf unser Herz?

Pfau-Effinger: Für die Kinderlosigkeit gibt es mehrere Gründe. Der Anspruch an die Partnerschaft ist gerade im Akademikermilieu besonders hoch. Der Mann soll Liebhaber, Gesprächspartner und sorgender Vater sein, diese Hürde nehmen wenige. Außerdem stellt unter Akademikerinnen das Kinderkriegen nur eine mögliche Option für ein gutes Leben dar. Sie sehen zahlreiche andere Optionen. Entscheidend sind aber das lange Studium und die lange Berufseinmündung, die durch Unsicherheit gekennzeichnet ist. Zum Beispiel an der Universität: Wer dort arbeiten möchte, hangelt sich von Befristung zu Befristung. Keine Sicherheit, keine Kinder.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann haben wir unseren Reproduktionszyklus der Marktwirtschaft untergeordnet.

Pfau-Effinger: Das ist der Fall. Die Arbeitsmarkthematik hat einen starken Einfluss auf Deutschlands Geburtenrate.

Schmalfeldt: Und der Freiheitsaspekt! Viele Menschen sind ein großes Maß an Freiheit und Selbstbestimmtheit gewohnt, auf das sie schwer verzichten mögen. Ich persönlich kann sagen, für meine drei Kinder zurückgetreten zu sein. Ich gehe jetzt zum Beispiel nicht mehr ins Fitnessstudio, auch meine Hobbys sind extrem reduziert. Man ist als arbeitende Mutter sehr fokussiert, aber das finde ich nicht schlimm. Die Kinder füllen mich komplett aus.

Pfau-Effinger: Da gebe ich Ihnen recht! Die öffentliche Diskussion dreht sich immer um die Belastung. Es wird zu wenig kommuniziert, dass Kinder glücklich machen. Allerdings gibt es auch immense Ansprüche an Frauen als Mütter. Wir haben in Deutschland zwei widersprüchliche Ideen zur Mutterschaft. Zum einen sollen Frauen die gleichen Chancen haben, genauso wie Männer leben und Karriere machen können. Auf der anderen Seite sind wir geprägt durch ein kulturelles Familienleitbild, über dessen Geschichte ich geforscht habe: Demnach ist die ideale Mutter berufstätig, finanziell unabhängig und nachmittags für die Kinder zu Hause. Wie soll das alles zusammen funktionieren? Das ist wirklich ein Widerspruch. Wer längerfristig in Teilzeit arbeitet, hat nachgewiesenermaßen reduzierte Karrierechancen.

Sollten wir Frauen endlich einsehen, nicht alles haben zu können?

Pfau-Effinger: Das sollte nicht die Schlussfolgerung sein. Väter beteiligen sich inzwischen mehr an der Kinderbetreuung. So haben auch mein Mann und ich uns die Betreuung unserer Tochter nach der ersten Säuglingsphase geteilt. Eine Kollegin von mir, Dr. Thordis Reimer, hat erforscht, dass eine Folge der Elternzeitnahme der Väter ist, dass sie sich später mehr in der Kinderbetreuung engagieren. Die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern kann auch erheblich erleichtert werden durch Homeoffice.

Wir stark unterstützt die Familienpolitik die Eltern?

Pfau-Effinger: Die deutsche Familienpolitik ist inzwischen nahezu so gut wie die skandinavische. Das wird in der Öffentlichkeit gar nicht so wahrgenommen. Wir hatten zwei bahnbrechende Veränderungen: das Elternzeit- und Elterngeld-Gesetz, dadurch ist der Anteil der Väter in Elternzeit in kurzer Zeit von fast null Prozent auf 35 Prozent gestiegen. Und 2013 wurde das Recht für jedes Kind unter sechs Jahren auf eine öffentliche Kinderbetreuung eingeführt. Interessant finde ich, dass sich trotz des gesetzlichen Anspruchs auf öffentliche Kinderbetreuung die Einstellung dazu nicht geändert hat. Nur ein Drittel der Eltern von Kindern unter drei Jahren nimmt öffentliche Kindereinrichtungen in Anspruch, zumindest in Westdeutschland. Im Westen herrscht die Idee vor, dass Kinder unter drei Jahren von den Eltern betreut werden müssen.

Woher kommt dieses Leitbild?

Pfau-Effinger: Das ist schon 100 Jahre alt. Dem liegen bindungstheoretische Annahmen zugrunde. Kinder werden aber heute auch als ein Projekt behandelt. Man möchte eine Sinnhaftigkeit in das eigene Leben bringen und das Kind deshalb nicht einfach wegorganisieren, sondern ein intensives Verhältnis pflegen. Diese Idee ist in weiten Teilen Europas verbreitet.

Schmalfeldt: Natürlich ist die frühe Bindung sehr wichtig, gerade Frühchen brauchen viel Hautkontakt. Aber ob normale Kinder 24 Stunden am Tag ihre Eltern benötigen, um glücklich zu sein? Ich glaube nicht. Es gibt viele Studien zu dem Thema, auch gegenteilige, die besagen, dass eine pädagogische Einrichtung besser sein kann als eine Mutter, die es nie gelernt hat.

Pfau-Effinger: Im europäischen Vergleich ist unsere öffentliche Kinderbetreuung in Deutschland aber nur Mittelmaß. Das Verhältnis von pädagogischem Personal zur Anzahl der Kinder ist ungünstig, es liegt in Deutschland im Durchschnitt bei neun Prozent, in skandinavischen Ländern wesentlich darunter. Bei uns gibt es über den Tag zu viele wechselnde Bezugspersonen, und die haben, anders als in den nordischen Ländern, meist nicht studiert. Meine Tochter war durch meine Gastprofessur in Finnland teilweise dort im Kindergarten, da habe ich auch persönlich erlebt, wie anders es dort zugeht.

Schmalfeldt: Das Problem erstreckt sich über den ganzen sozialen Bereich in Deutschland, auch in der Pflege oder bei den Hebammen. Diese Berufe sind zu schlecht bezahlt und dadurch zu wenig attraktiv.

Was kann man tun, damit mehr Kinder geboren werden?

Pfau-Effinger: Müssen wir dieses Ziel denn verfolgen? Es ist unter Experten umstritten, ob unsere Geburtenrate steigen müsste. Wir haben ja eine Einwanderung von Migrantinnen und Migranten, die dauerhaft bleiben. Es gibt Untersuchungen zu Ländern mit viel Migration, die zeigen, dass diese sich teilweise auch trotz geringer Geburtenraten einen relativ großzügigen Sozialstaat leisten können.

Ist diese ganze Thematik total überflüssig, weil es den richtigen Zeitpunkt, ein Kind zu bekommen, sowieso nicht gibt?

Schmalfeldt: Biologisch gesehen gibt es ihn: zwischen 25 und 35 Jahren, nicht später.

Wer früher Kinder bekommt, hat Eltern, die noch nicht zu alt sind für die Betreuung. Ein Punkt, der gerne unterschätzt wird.

Pfau-Effinger: Stimmt, wer in den Ruhestand geht, der ist eher bereit, für seine Enkelkinder zu sorgen. Der hat mehr Zeit, wodurch Mama und Papa entlastet werden und besser arbeiten können.

Dann haben wir doch eine Antwort für unsere Frage. Der ideale Zeitpunkt für ein Kind ist vor dem 35. Lebensjahr der Frau und wenn Oma und Opa in Rente gehen.

Pfau-Effinger: Wenn die Großeltern in derselben Stadt leben, dann ja.

Nächste Folge am kommenden Sonnabend: Warum werden Frauen älter als Männer?