Hamburg. Eine Humanbiologin und eine Sexualwissenschaftlerin sprechen über Geschlechterklischees, Erziehung und pink und blaue Gehirne.

Die Geschlechtertrennung zwischen Mann und Frau wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker aufgeweicht, dennoch geht der Streit, was angeboren und was anerzogen ist, munter weiter. Die Juniorprofessorin für Humanbiologie und kognitive Neurowissenschaften, Esther Diekhof, und Katinka Schweizer, Sexualwissenschaftlerin und Psychologische Psychotherapeutin, erklären, weshalb sich Geschlechterstereotype hartnäckig halten, wieso wir beim Thema Sexualität Denkstörungen bekommen und dass eine Geburtsanzeige mit dem Spruch „Hurra! Unser Interkind wurde geboren!“ toll wäre.

Wie viele Geschlechter hat ein Mensch?

Dr. phil. Katinka Schweizer: Grob gesagt drei. Wir unterscheiden zwischen folgenden Geschlechtsaspekten: 1. dem körperlichen Geschlecht, das zuerst entsteht und meist anhand der äußeren und inneren Geschlechtsmerkmale zu erkennen ist, 2. dem seelischen Geschlecht, das das individuelle Selbsterleben kennzeichnet, und 3. dem sozialen-kulturellen Geschlecht – wir alle bewegen uns ja in einem bestimmten Kontext, in welchem Land wir beispielsweise wohnen, auch das prägt unser Geschlecht.

Gibt es ein rosa und ein blaues Gehirn?

Jun.-Prof. Dr. Esther Diekhof: In der Entwicklung eines Kindes finden sich gewisse Präferenzen. Wenn wir einjährigen Kindern bestimmte Spielsachen zur Auswahl geben, dann sehen wir anhand der Blicke der Kinder und ihrer Fixation eines Gegenstands, dass männliche Kinder eine Vorliebe für sich fortbewegende Spielzeuge haben, also für Autos.

Bei Mädchen ist das nicht zu erkennen, die variieren zwischen Puppen, Plüschtieren und ebenfalls Autos. Die eigentliche Präferenz für Rosa und Blau ist nicht angeboren, die kommt durch die Prägung der Eltern und des Umfeldes, also durch das, was Erwachsene als Geschlechtsstereotyp empfinden und vermitteln. Da liegt in Wirklichkeit kein biologisch bedingter Unterschied vor.

Es gibt Studien, die dem weiblichen Gehirn mehr Einfühlungsvermögen zuschreiben. Wir Frauen lesen das natürlich gerne, aber stimmt es überhaupt?

Diekhof: Doch, Frauen verfügen über mehr Empathie. Die ist aber auch notwendig, wenn man ihre Mutterrolle betrachtet. Die Mutter hat für die Ernährung der Neugeborenen zu sorgen, dafür muss sie die Bedürfnisse des Kindes gut erkennen können. Da ein Neugeborenes nur über Mimik und Laute kommuniziert, bedarf es einer Empathie der Mutter, also einer emotionalen Ansteckung, um die Bedürfnisse des Kindes einordnen zu können. Das heißt allerdings nicht, jede Frau ist empathischer als jeder Mann, das sind Mittelwerte!

Dennoch ist die „Mars-Venus-Philosophie“ sehr verbreitet. Menschen glauben gerne an Sex-Unterschiede; woher kommt das?

Schweizer: Wir neigen dazu, Kategorisierungen vorzunehmen. Das Sortieren nach Merkmalen und Eigenschaften hilft uns. Das Geschlecht stellt dabei eine anthropologische Grundkonstante dar, anhand der Menschen schon seit dem Mythos von Adam und Eva unterschieden haben. Das Geschlechterkonstrukt ist ein hartnäckiges und beliebtes.

Man muss nur in Hamburg durch die Geschäfte gehen und sich nach Kinderkleidung und Spielzeug umschauen: Alles ist wohlsortiert nach Jungen und Mädchen. Ich dachte, dieses Schubladendenken hätten wir seit den 70er/80er-Jahren überwunden. Alle Kinder sollten mit allem spielen dürfen, um die eigenen Neigungen entdecken zu können.

Erbgut oder Erziehung, welcher Einflussfaktor ist der dominantere?

Diekhof: Das lässt sich schwer quantifizieren. Die Geschlechtschromosomen machen ungefähr fünf Prozent des Genoms aus und spielen im Mutterleib eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Geschlechtsorgane. Niemand würde jedoch behaupten, dass die Biologie unser Geschlecht dominiert. Wissenschaftler haben zum Beispiel bei Affenmüttern beobachtet, dass die mit ihren männlichen und weiblichen Nachkommen unterschiedlich umgehen.

Wenn die Affenbabys sich verletzen und nach der Mutter rufen, wird die Mutter mit größerer Wahrscheinlichkeit das weibliche Kind hochheben, nicht das männliche. Wenn man experimentell interveniert und weibliche Nachkommen durch Testosterongabe im Mutterleib einen Penis bekommen, dann ruft das Affenbaby zwar immer noch mit weiblichen Lauten, hat aber eben ein männliches Aussehen, und in dem Fall helfen die Mütter nicht mehr.

Die armen Jungs!

Diekhof: Da erkennt man aber doch ganz klar den Einfluss der Umwelt. Anhand der äußeren Erscheinung der Geschlechtsmerkmale passen die Mütter ihre Erziehung sowie ihr Fürsorgeverhalten an.

Schweizer: Und dennoch dürfen wir das Körperliche nicht unterschätzen. In den 70er- Jahren hat meine Disziplin, die Psychologie, das leider gemacht mit teilweise dramatischen Folgen. Die Experten gingen damals davon aus, dass die Biologie kaum eine Rolle dabei spiele, ob jemand zum Jungen oder zum Mädchen würde. Erziehung sei alles, hieß es. In Kanada gab es zum Beispiel ein Zwillingspaar, Bruce und Brian. Bruce’ Penis wurde als Baby bei einer Vorhaut-Operation aus Versehen so verletzt, dass die Ärzte entschieden, ihn komplett operativ äußerlich einem Mädchen anzugleichen, den Jungen also zu feminisieren, aus Bruce wurde Brenda.

Die Eltern sollten weibliches Verhalten ihres Kindes verstärken, rieten die Ärzte, die Erziehung würde aus dem Jungen das Mädchen schon formen. Doch das Kind blieb eben doch innerlich ein Junge, er wurde depressiv und nahm sich mit Mitte 30 das Leben. Dieser tragische Fall hat gezeigt: Das Geschlecht lässt sich nicht durch Erziehung und medizinische Einflüsse bestimmen. Unsere Gene und die eigene Körpergeschichte, vor allem aber die Selbstbestimmung des Menschen, kann niemand überspringen.

Welche Erwartungen stellen wir an ein Geschlecht?

Diekhof: Es gibt viele Stereotypen, die in unseren Köpfen sind, die wirken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Auch da gab es eine interessante Untersuchung: Wenn man Mädchen in einer gemischten Gruppe Rechenaufgaben stellt, dann lösen sie die besser, als wenn man die gleichen Aufgaben einer reinen Mädchengruppe aufgibt, der man vorher erzählt, Mädchen seien nicht so begabt in Mathe. Die Vermittlung solcher Klischees müssen wir vermeiden.

Als Mutter oder Vater neigt man bei einer schlechten Note der Tochter in Mathe vielleicht dazu, zu sagen: „Macht nichts, die Jungs können das eben besser.“ Aber genau das verstärkt die unsinnigen Geschlechterklischees! Oder ein anderes Beispiel: Ein Junge haut auf dem Spielplatz ein anderes Kind. Manche Eltern sagen: „Entschuldige dich!“ Andere tun die Aggression ab nach dem Motto: „Jungs sind eben etwas wilder.“ Damit unterstützen sie aber genau dieses Verhalten.

Uns Eltern dienen die Geschlechterrollen also zur Bequemlichkeit, wenn wir bestimmte Merkmale als naturgegeben deklarieren. Ich muss zugeben, mich gerade ertappt zu fühlen: Wenn ich in einem Geschäft eine süße Puppe sehe, dann kaufe ich die auch eher für meine Tochter und nicht für meinen Sohn.

Diekhof: Und warum?

Gute Frage. Ich ziehe meinem Sohn ja auch keinen Rock an, weil ich fürchte, er würde darin wahrscheinlich verspottet.

Diekhof: Damit wären wir bei der Ausgrenzung. Menschen lieben Gruppen, wir bilden sie immer wieder aufs Neue. Die Zugehörigkeit war wichtig, als wir in Jäger- und Sammlergruppen voneinander abhängig waren, Kooperationen wurden benötigt, um zu überleben. Dieser Mechanismus steckt immer noch in uns drin. Ich glaube aber, dass sich Stereotype über die Generationen abschwächen. Meine Großmutter hat mir noch gesagt, Mädchen dürfen nicht pfeifen. Das hat meine Mutter schon nicht mehr gesagt, und ich versuche meinen beiden Töchtern heute noch weniger Klischees vorzuleben, aber ganz vermeiden kann ich das natürlich nicht.

Schweizer: Nein, das ist leider fast unmöglich. An unbewussten Erwartungen läuft so viel in uns ab, doch als Wissenschaftlerin möchte ich diese Klischees gerne herausfordern. Ich kläre gerne darüber auf, dass es mehr gibt als nur Mann und Frau. Es muss Platz geben für die, die weder das eine noch das andere sind. Intergeschlechtlichkeit ist ein Thema, das von unserer Gesellschaft ignoriert wird, obwohl es das immer schon gegeben hat. Das hat mit dem starren Denken zu tun, mit unserem binären, zementierten Denken. Es scheint schwer, einen Zwischenraum zwischen Mann und Frau zu denken, dabei gibt es in allen Bereichen der Natur „Zwitter“ und alle Zwischenstufen.

Erklären Sie bitte, was Intergeschlechtlichkeit bedeutet im Vergleich zu transgeschlechtlichen Menschen und Travestie.

Schweizer: Transgeschlechtliche Menschen haben dauerhaft das Gefühl, im für sie „falschen“ Körper geboren worden zu sein, dessen Geschlechtsmerkmale sie nicht als zu sich gehörend empfinden können. Sie leiden unter dieser Inkongruenz. Travestiekünstler hingegen wechseln ihre Geschlechterrolle für die Bühne. Bei intergeschlechtlichen Menschen entsprechen die biologischen Körpermerkmale nicht alle einem Geschlecht. Sie haben weibliche und männliche Merkmale. Angaben zur Häufigkeit sind schwer, da es sich bei Intergeschlechtlichkeit um einen Oberbegriff für zahlreiche angeborene Erscheinungsformen handelt.

Laut Selbsthilfeorganisationen gibt es bis zu 100.000 Menschen in Deutschland – eine Minderheit, die darunter leidet, dass es sie im öffentlichen Bewusstsein nicht gibt. Letztens habe ich mit Eltern intergeschlechtlicher Kinder diskutiert, wie es wäre, eine Geburtsanzeige zu schalten: „Wir freuen uns, unser Interkind ist endlich da! Hurra!“ Das sind Vorbilder, die wir heute bräuchten, um zu zeigen, dass es nicht nur Pink und Blau gibt, sondern einen ganzen Regenbogen.

Immerhin hat Conchita Wurst, eine Person, bei der niemand auf den ersten Blick weiß, ob sie nun Mann oder Frau ist, den Eurovision Song Contest gewonnen.

Schweizer: Solche Leute helfen, die Geschlechterverwirrung und die Toleranz zu verstärken, und das finde ich gut. Das kann die Gesellschaft nur voranbringen.

Es macht das Ganze aber auch unübersichtlicher. Der Kampf um die Geschlechter scheint auch ein Kampf um Begriffe zu sein: Es wird gestritten um die passende Bezeichnung intersexueller Körpervielfalt, manche sprechen von Intergeschlechtlichkeit, andere benutzen die Abkürzung DSD für Disorder of Sex Development oder Diverse Sex Development. Außerdem gibt es Asexuelle, Pansexuelle, BDSM-Leute und die Abkürzung LGBT, die für lesbisch, schwul, bisexuell und transgender steht. Mal ehrlich, da fühlt man sich als Heterosexueller ohne körperliche Widersprüche ja langsam als Mitglied einer Randgruppe.

Schweizer: Schön, wie Sie das ausführen, das zeigt ja, wie aktiv das Geschlechtertabu noch ist. Wie fühlt es sich an, am Rand zu stehen? Bei allen anderen Lebensfeldern wollen wir unbedingt differenzieren, doch sobald es um das Geschlecht und um Sex geht, neigen wir dazu, alles in einen Topf zu werfen. Sexualität erschreckt uns, weil es ein intimes, unbewusstes Feld ist, da bekommen wir Denkstörungen. Wir wollen es gerne einfach haben. Ich möchte meine Antwort zu Ihrer ersten Frage daher erweitern. Lassen Sie uns zwischen vier Geschlechtern unterscheiden: dem biologischen Geschlecht, dem gefühlten Identitätsgeschlecht, dem sozial gezeigten Geschlecht und der sexuellen Orientierung.

Der Staat ermöglicht wahrscheinlich bald das dritte Geschlecht. Das Karlsruher Urteil vom 10. Oktober 2017 hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Freuen Sie sich über die Entscheidung der Richter?

Schweizer: Unbedingt! Ein Meilenstein, der hoffentlich umgesetzt wird. Je liberaler eine Gesellschaft wird, desto besser für die Angehörigen von Minderheiten.

Noch ist die Einteilung in männlich oder weiblich allgegenwärtig. Könnte die Benennung des Geschlechts irgendwann überflüssig werden?

Diekhof: Nicht für sportliche Wettbewerbe, aber im normalen Leben könnte man gut darauf verzichten.

Schweizer: Ich kenne schon jetzt viele Leute, die das Geschlechtersystem für überflüssig erachten. Bei der Einführung eines dritten Geschlechts handelt es sich um einen Zwischenschritt. So wie wir die Ehe für alle haben, brauchte es den Zwischenschritt der eingetragenen Partnerschaft. Warten Sie es ab. Irgendwann verzichten wir auf jede Geschlechtsbezeichnung – vielleicht eine Utopie, doch zumindest könnte beim Geburtseintrag darauf verzichtet werden.