Hamburg. Jeden Sonnabend im Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es darum, wo und wie wir wohnen wollen.

Stadt oder Land – wo wollen wir leben? Die Frage bewegt immer mehr Menschen auch deshalb, weil sie sich eine Wohnung oder ein Haus in Hamburg nicht mehr leisten können. Trotzdem wird der Ansturm auf die Stadt wohl anhalten – sagen die Professoren Wolfgang Maennig und Gertraud Koch.

Die erste Frage ist eine private: Wo wohnen Sie – in der Stadt oder auf dem Land?

Koch: Ich bin auf dem Land groß geworden und lebe jetzt wegen des Berufs in der Stadt, was mir auch sehr gut gefällt.

Maennig: Ich schätze die kurzen Wege sowie die Aktivität einer Metropole und lebe deshalb „mittendrin“. Aber ich habe es auch schätzen gelernt, am Wochenende raus aufs Land in eine Datsche zu fahren.

Das könnte ja ein Zukunftsmodell sein: Wer es sich leisten kann, arbeitet und lebt unter der Woche in der Stadt, um das Wochenende auf dem Land zu verbringen – eine ideale Kombination.

Koch: Bei denen, die es sich leisten können, ist es ja schon so. Grundsätzlich gilt: Die Entscheidung, wo man lebt, hängt stark davon ab, wo man sein Geld verdienen kann. Die meisten haben deshalb keine ganz freie Wahl zwischen Stadt und Land.

Maennig: Wobei es Untersuchungen gibt, ob die Menschen auf dem Land oder in der Stadt zufriedener sind. Und das Ergebnis ist meist: Es gibt keine deutlichen Unterschiede.

Trotzdem gibt es eine massive Landflucht, immer mehr Menschen wollen in die Städte.

Maennig: Das hängt einerseits mit den wahrgenommenen Raumüberwindungskosten zusammen, also damit, was es an Geld und Zeit kostet, zum Arbeitsplatz, ins Theater oder zum Arzt zu kommen. Man empfindet es heute lästiger, eine Stunde zur Firma oder zu einem Konzert zu pendeln – es gibt so viele andere Sachen zu tun. Andererseits fällt die Bevölkerungszahl in einigen Regionen allein aufgrund der demografischen Entwicklung unter eine kritische Masse, durch die sich dort Arztpraxen, Supermärkte oder Schulen nicht mehr lohnen und die Wege objektiv länger werden. Je schlechter die Infrastruktur auf dem Land wird, desto eher kommen die Menschen dort auf die Idee, in die Stadt zu ziehen.

Kann man das stoppen?

Koch: Muss man das stoppen? Die Verstädterung hat mit der Industrialisierung begonnen und sie wird weitergehen. Im Jahr 2050 sollen bereits mehr als 60 Prozent aller Menschen auf der Welt in Städten leben. Und wenn sie das möchten: Wieso sollte man diese Entwicklung stoppen?

Stoppt die Landflucht nicht von selbst, weil sich immer mehr Menschen in Städten wie Hamburg keine Wohnung oder kein Haus mehr leisten können?

Maennig: Die Aussage, dass sich in Hamburg keiner mehr eine Wohnung leisten kann, ist etwas irreführend. Denn die steigenden Preise zeigen ja gerade, dass immer mehr Leute bereit und in der Lage sind, das zu bezahlen. Die hohen Immobilienpreise sind gerade kein Zeichen dafür, dass Hamburg nicht attraktiv ist …

Dann ist die Grenze eine andere: Werden die Städte wegen des zunehmenden Lärms, der Luftverschmutzung und der Verdichtung allgemein weniger interessant?

Koch: Städte haben immer Wege gefunden, mit solchen Problemen umzugehen, und das werden sie auch weiter tun. Denken Sie an Kopenhagen mit seinem Fahrradkonzept oder an die Einrichtung von Parks, Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Straßen.

Maennig: Alle Probleme, die Sie genannt haben, sind in Asien viel größer als bei uns, und trotzdem sind die Menschen weiter bereit, in die Städte zu ziehen, auch dort, wo fünf oder zehn Millionen Einwohner leben. Zudem verringert sich in den deutschen Städten tendenziell die Lärmbelastung und Luftverschmutzung - die Autos sind heute viel sauberer als etwa in den 60er-Jahren. In Zukunft werden E-Fahrzeuge und neue Mobilitätskonzepte dazu führen, dass der Verkehr in Städten weiter zurückgeht und weniger belastend für die Umwelt wird. Von der Tendenz her nehmen die Nachteile des Lebens in der Stadt also ab. Zudem wird die Definition von Stadt zunehmend schwierig – die Grenzen zu eher ländlichen Regionen werden fließend. Denken Sie nur an den Hamburger Speckgürtel.

Hamburg wächst – das Umland aber auch

Gleichzeitig sind die Nachteile des Landlebens gestiegen, da reicht das Stichwort Netzabdeckung.

Maennig: Das ist ein wichtiges Thema. Und: Bei einer sinkenden Bevölkerungszahl auf dem Land steigen die Pro-Kopf-Kosten bestimmter Versorgungsleistungen wie zum Beispiel Be- und Entwässerung. Der alte Vorteil vom Land, dass das Leben dort günstiger ist als in der Stadt, nivelliert sich in einigen Bereichen.

Koch: In der Stadt kann man auch in einer nicht so schönen Gegend mit Ärztemangel und anderen Problemen wohnen, ist aber innerhalb kurzer Zeit in einer Umgebung mit vielen Angeboten für Kultur, Bildung und Konsum. Dadurch ergeben sich in den Städten für die Menschen andere Lebenschancen und -perspektiven.

Das klingt nicht danach, als würde es irgendwann einmal wieder eine Gegenbewegung geben, also eine Stadtflucht.

Koch: Es gibt ja immer wieder Menschen, die von der Stadt auf das Land ziehen. Aber es ist nicht absehbar, dass das noch einmal eine breite Bewegung werden wird.

Ich versuche trotzdem, eine Lanze fürs Leben auf dem Land zu brechen: Man kann sich dort ein größeres Haus leisten, mit Garten, die Luft ist besser, der nächste Nachbar ist weit, in den Schulen ist die Welt noch in Ordnung. Das sind doch große Vorteile.

Maennig: Ja, für die, die so etwas möchten. Aber offensichtlich haben immer weniger Menschen Lust und Zeit, einen 1000 Quadratmeter großen Garten zu pflegen. Denen reicht ein kleiner Balkon mit ein paar Geranien, weil sie ihre Freizeit nicht mit Rasenmähen verbringen wollen. Es gibt, wie gesagt, immer mehr attraktive Freizeitbeschäftigungen.

Koch: Ich würde mich trotz allem aber auch gern Ihrem Loblied auf das Land anschließen. Das Leben dort hat viele Vorzüge. Wenn Menschen in die Stadt ziehen, hat es oft nicht damit zu tun, dass sie das Landleben nicht mögen. Es geht um praktische Dinge, insbesondere um den Arbeits- oder Studienplatz. Die Landflucht hat zudem viel mit der Entwicklung Deutschlands zu einem Dienstleistungsland zu tun, in dem die entsprechenden Firmen in den Städten sitzen. Aber Herr Maennig hat auch recht: Landleben bedeutet richtig Arbeit.

Maennig: Trotzdem darf man nicht sagen, dass es keine Rückbesinnung auf das Landleben geben kann. In dem Moment, in dem die genannten Raumüberwindungskosten geringer werden – also etwa durch ein besseres Internet auf dem Land, durch schnellere Straßen – und die Preise in den Städten weiter steigen, werden auch wieder mehr Menschen „aufs Land“ ziehen. In Hamburg kann man das daran erkennen, dass aktuell der Zuzug in den Speckgürtel zunimmt.

Macht es einen Unterschied, ob man in Poppenbüttel oder Pinneberg lebt?

Koch: Macht es einen Unterschied, ob man in Eppendorf oder Rahlstedt lebt? Die Fragen zeigen, dass es oft nicht mehr um die Unterscheidung von Stadt oder Land, sondern um unterschiedliche Quartiere geht, um unterschiedliche Lebensqualitäten und Lebensstile. Hamburg bietet da eine sehr große Mischung. Man kann in dieser Stadt leben, und sich dabei (fast) wie auf dem Land fühlen.

Stimmt es, dass Städte wie Hamburg auch künftig vor allem allein lebende Menschen anlocken werden? Schon jetzt liegt der Anteil der Single-Haushalte bei mehr als 50 Prozent.

Maennig: Die Singularisierung ist eine weltweite Tendenz. Sie hängt mit der Alterung der Bevölkerung zusammen, aber auch mit einer Individualisierung. Hier ist Hamburg ziemlich weit, und das wird noch weitergehen.

Eine böse These von mir: Es ziehen auch deshalb so viele Menschen in die Stadt, weil sie hier in Ruhe gelassen werden und sich nicht fürs Gemeinwohl engagieren müssen, was auf dem Dorf unumgänglich ist. Stichwort: Freiwillige Feuerwehr.

Koch: Der Städter oder die Städterin ist nicht passiver im gesellschaftlichen Engagement. Die Formen sind nur andere. Es ist eine große Individualisierung da, aber ich würde nicht daraus schließen, dass sich die Menschen nicht mehr aufeinander einlassen und verlassen wollen und nur deshalb in die Städte ziehen. Im Gegenteil: Man macht das ja auch, um immer wieder neue Menschen kennenzulernen.

Schon jetzt bekommen Frauen auf dem Land mehr Kinder als Frauen in der Stadt. Was sagt uns das?

Maennig: Ob sich Frauen und Männer für ein, zwei oder drei Kinder entscheiden oder gar keins bekommen wollen, hat immer auch etwas mit Opportunitätskosten zu tun: Was kann ich mir ohne Kinder, was kann ich mir mit Kindern leisten?

Ist das nicht schlimm?

Maennig: Ja, schon, aber es ist nicht neu. Wenn Sie ein zusätzliches Kind wollen, brauchen Sie bald ein zusätzliches Zimmer, und das ist in der Stadt teurer als auf dem Land. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Nachteile von Eltern in der Stadt ausgleichen können, um zu verhindern, dass der Anteil von Familien hier weiter sinkt. Mütter haben insbesondere in der Stadt einen großen Nachteil gegenüber Frauen, die keine Kinder haben.

Koch: Größter Nachteil für Mütter ist die nach wie vor schlechtere Bezahlung von Frauen gegenüber Männern. Wenn ich in der Stadt ein schlechtes Einkommen habe, ist das schwieriger zu kompensieren als auf dem Land. Meine These ist: Wenn wir Frauen das Arbeitsleben erleichtern, wenn Männer sich mehr um die Kinder kümmern, die Arbeitswelt familienfreundlicher wird, werden sich die Geburtenraten in den Städten genauso entwickeln wie in den ländlichen Regionen.

Wir haben noch ein anderes Problem, die demografische Entwicklung: Die Bevölkerung in Deutschland soll bis zum Jahr 2050 um zwölf Millionen Menschen schrumpfen. Werden wir dann ganze ländliche Regionen aufgeben müssen?

Maennig: Dafür gibt es international bereits Vorbilder. Japan hatte diese demografischen Probleme schon länger. Dort gibt es Inseln, auf denen keine Menschen mehr leben, in denen Häuser leer stehen und Straßen nicht mehr repariert werden. Sie können auch nach Italien gucken, das uns ja immer wie ein Paradies vorkommt. Dort gibt es Städte, in denen praktisch niemand mehr wohnt. Auch bei uns wird es Regionen geben, die so schwach besiedelt sind, dass man sie wahrscheinlich aufgeben muss.

Wenn ich zurück auf unsere Ausgangsfrage komme, ob man in der Stadt oder auf dem Land wohnen soll, fällt die Antwort offenbar eindeutig aus: Es ist besser, zumindest in der Nähe einer großen Stadt zu wohnen, weil man dann sichergehen kann, all das, was man zum Leben braucht, auch noch in zehn Jahren vorzufinden.

Koch: Wie gesagt: Das ist immer weniger unsere eigene Entscheidung, den meisten Menschen wird gar nichts anderes übrig bleiben, als in die Nähe einer Stadt zu ziehen.

Ist nicht wenigstens die Digitalisierung etwas, wodurch das Leben auf dem Land wieder attraktiver werden könnte – vorausgesetzt, dort gibt es gute Internetverbindungen? Denn dank der Digitalisierung ist es ja in immer mehr Berufen egal, von wo man arbeitet … Dafür muss man nicht in der schmutzigen, lauten Stadt sein.

Koch: Die digitalen Nomaden sind das Stichwort: Ob man die auf dem Land ansiedeln kann? Es hat da unterschiedliche Versuche gegeben, in Italien und ganz Europa an den idyllischsten Orten. Es hat nicht funktioniert.

Maennig: Wir stellen fest, dass diese digitalen Nomaden sich weniger für das Landleben in Deutschland, sondern für Städte im sonnigen Spanien entscheiden – weil sie inspiriert werden wollen von anderen Kreativen. Der Mensch ist und bleibt ein Herdenmensch, und seine Herden findet er in Städten, weniger auf dem Land.

Der Beginn des Ruhestands war ja früher für viele Menschen der Moment, sich aufs Land zurückzuziehen. Was planen Sie beide?

Maennig: Ich bleibe in der Stadt. Es ist ein Irrtum, dass die alten Menschen immer auf dem Land leben wollen. Gerade Ältere wollen oft in der Stadt leben, dort wo die Museen, Theater, Supermärkte und Ärzte in der Nähe sind, dort, wo man kein eigenes Auto mehr braucht.

Koch: Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch wieder das Land wird. Ich bin sehr geprägt vom Aufwachsen in der großen Familie und dem Leben auf dem Land, das viele Qualitäten hat, die ich in der Stadt vermisse. Mal schauen.

Die Professoren

Professor Dr. Gertraud Koch arbeitet am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg, wo sie sich unter anderem mit Arbeitskulturen beschäftigt. Sie ist auf dem Land aufgewachsen.

Professor Dr. Wolfgang Maennig ist Wirtschaftswissenschaftler, zu seinen Schwerpunkten zählen die Stadt- und Immobilienökonomik sowie die Verkehrswissenschaft. Maennig ist vielen Hamburgern auch als Sportler bekannt: 1988 wurde Maennig Olympiasieger im Rudern. Er lehrt zwar an der Universität Hamburg, lebt mit seiner Familie aber in seiner Geburtsstadt Berlin.

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Jede Woche beantwortet das Hamburger Abendblatt eine der 100 großen Fragen des Lebens: Was ist Glück? Wie viel Geld muss man haben, um nicht mehr arbeiten zu müssen? Was ist gerecht?

Beantwortet werden diese Fragen im Gespräch mit Professoren und Experten der Universität Hamburg, die im nächsten Jahr 100 Jahre alt wird. Die Gespräche werden jeden Sonnabend auf der Thema-Seite im Hamburger Abendblatt veröffentlicht. An­hören kann man sie sich zudem in voller Länge im Internet auf: www.abendblatt.de

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