Hamburg . Serie am Sonnabend: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute: warum haben Gerichtsurteile nicht immer etwas mit Gerechtigkeit zu tun?

Vor Gericht, so lautet ein Sprichwort, bekomme man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil. Richterliche Entscheidungen können dem persönlichen Rechtsempfinden zutiefst widersprechen, insbesondere Strafzumessungen sorgen häufig für Unverständnis. Was sagt das über unsere Rechtsordnung? Darüber sprach das Abendblatt mit dem Strafrechtler Florian Jeßberger und dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel von der Universität Hamburg.

Haben Sie sich schon mal über ein Gerichtsurteil geärgert, weil Sie es ungerecht fanden?

Reinhard Merkel: Ich war mal von einem zivilgerichtlichen Urteil betroffen, das ich in hohem Maße als ungerecht empfand. Es betraf eine familienrechtliche Angelegenheit. Ich finde auch die Rechtsnorm, die in diesem Fall zum Tragen kam, nicht besonders gerecht. Aber ich verstehe, dass diese Norm in einem verfassungsgemäßen Verfahren zustande gekommen ist. Ich lebe in einem Staat, der im Großen und Ganzen fair organisiert ist in seiner Rechtsordnung und in dem gilt: Gerichte haben das Recht anzuwenden – selbst wenn es im Einzelfall zu unerfreulichen Ergebnissen führt. Deshalb konnte ich das Urteil damals akzeptieren, auch wenn es mich nicht gefreut hat.

Themis with scale and sword isolated on white. Justice and law symbol statue
Themis with scale and sword isolated on white. Justice and law symbol statue © Getty Images/iStockphoto

Für Aufregung sorgten in der Vergangenheit insbesondere einige Strafrechtsprozesse. Dass etwa der Raser von Rügen „nur“ 39 Monate in Haft kam, nachdem er betrunken vier 18-jährige Menschen getötet hatte, empörte viele Zuschauer im Gericht. Eine Mutter klagte, der Raser bekomme als Strafe nicht mal ein Jahr pro Menschenleben. Können Sie solche Reaktionen nachvollziehen?

Florian Jeßberger: Natürlich. Es gibt eine Fülle von Beispielen, wo Betroffene nicht einverstanden sind mit der Anwendung von Recht. Aber ich möchte unterstreichen, was Reinhard Merkel gesagt hat: Recht ist nicht dasselbe wie Gerechtigkeit. Es kann auch ungerechtes Recht geben – und doch bleibt es Recht. Der durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnete Staat kann nicht in allen Details von allen Beteiligten als gerecht empfundene Ergebnisse produzieren.

Reinhard Merkel: Wir haben keine verbindlichen Kriterien für alle denkbaren Fragen. Vielmehr haben wir Prozeduren geschaffen, Verfahren der Auseinandersetzung, damit unsere Rechtsordnung akzeptabel, nämlich hinreichend gerecht ist. Man schaue sich Unrechtsregime an: Irgendwann organisieren sich die Leute und versuchen mit Gewalt, die Umstände zu ändern. Das ist in einer rechtsstaatlichen zivilisierten Ordnung wie der unseren nicht der Fall, auch wenn es nicht selten Protest gibt.

Florian Jeßberger: Nur ein Recht, das in seinen allgemeinen Rechtsnormen als überwiegend gerecht empfunden wird, kann für die nötige Akzeptanz sorgen, um auch respektiert zu werden. Es ist eine wichtige Funktion des Rechts, namentlich des Verfassungsrechts, die Rahmenbedingungen herzustellen, innerhalb derer dann in der Gesellschaft über die Gerechtigkeit verhandelt werden kann.

Reinhard Merkel: In strafrechtlichen Fällen wie dem Raser-Fall muss ein Gericht mehr in den Blick nehmen als den Umstand, dass es Opfer gegeben hat: das Verschulden des Täters, das persönlich zurechenbare Gewicht seiner Schuld – etwas, das die Öffentlichkeit oft nicht genügend wahrnimmt. Auch ich kann empörte Reaktionen nachvollziehen: Man sieht die Opfer, stellt sich vor, was wäre, wenn das ein Familienmitglied von mir wäre. Aber die Justiz darf das Recht nicht unter der Hand korrigieren. Es gibt aus den 1920er-Jahren einen berühmten Satz von dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch: „Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der gegen sein widerstreitendes Rechtsgefühl das Recht anwendet.“

Florian Jeßberger: Der Aspekt der Gerechtigkeit kann in der Rechtsanwendung als ein mögliches Argument eine Rolle spielen. Gustav Radbruch hat dazu folgende Formel geprägt: Wenn der Widerspruch des Rechts zur Gerechtigkeit so unerträglich ist, dass dieses Recht unrichtiges Recht ist, darf es nicht mehr zur Anwendung kommen. Deutsche Richter haben diesen Grundsatz etwa in den Verfahren wegen der Tötungen an der innerdeutschen Grenze angewandt. Der Bundesgerichtshof hat dabei argumentiert, dass das DDR-Grenzgesetz, das Tötungen erlaubte, in so unerträglichem Widerspruch zum Gedanken der Gerechtigkeit stehe, dass es die Tötungen in einem strafrechtlichen Sinne nicht rechtfertigen könne.

Wie wird Gerechtigkeit am besten umgesetzt?

Reinhard Merkel: Positiv bestimmen lässt sich das nicht eindeutig. Es gibt aber Schmerzgrenzen, jenseits derer man sagen kann: Hier ist etwas eindeutig ungerecht. Stellen Sie sich mal ein Strafgerichtsurteil vor, das etwa so lautet: Der Angeklagte wird zu zehn Jahren Haft verurteilt, wiewohl es dafür keinerlei gute Gründe gibt. Das ist so offensichtlich ungerecht, dass wir sagen würden: Dieses Urteil ist überhaupt kein Recht, sondern blanke Willkür. Es ist nur der Form nach ein rechtliches Urteil. In der Nazizeit gab es in Deutschland Rechtsnormen, die so offensichtlich keiner Idee der Gerechtigkeit verpflichtet waren, dass man hinterher mit guten Gründen sagen konnte: Das war kein Recht.

Florian Jeßberger: Die Frage, die über unserem Gespräch steht und zunächst mal einfach und klar wirkt, ist bei genauerer Betrachtung sehr voraussetzungsreich. Zum einen unterstellt sie, dass sich so etwas wie Gerechtigkeit objektiv quantifizieren lässt: dass etwas gerechter ist als etwas anderes. Zum anderen geht sie davon aus, dass es so etwas wie einen einheitlichen Begriff dessen gibt, was Gerechtigkeit ist. In Wahrheit gibt es unterschiedliche Teile der Rechtsordnung und verschiedene Formen von Gerechtigkeit, wie Verteilungsgerechtigkeit, ausgleichende Gerechtigkeit, Kompensationsgerechtigkeit …

Reinhard Merkel: … und je nach Fall kann sich ein anderes Konfliktpotenzial ergeben. Zur Rechtsordnung gehört neben dem Strafrecht etwa auch das Zivilrecht. Es realisiert noch in haarspalterischen Verästelungen in hohem Maße Ideen der Fairness und der Gerechtigkeit. Im Strafrecht ist das oft schwieriger, auch im Steuerrecht, über das sich viele Menschen aufregen. Tenor: Was die anderen an Steuern zahlen, ist schon in Ordnung – ich selbst zahle zu viel. Einige argumentieren auch, es müsse bei der Verteilungsgerechtigkeit doch auch darum gehen, wie sehr sich jemand angestrengt hat, wie qualifiziert er ist, welche Verdienste er hat für die Gesellschaft. Schwierig wird es auch, wenn Gerechtigkeit über Landesgrenzen hinweg gewährleistet werden soll. Nehmen Sie die Sparpolitik der EU, die vor allem von Deutschland durchgesetzt worden ist gegenüber Griechenland. Viele Griechen haben nicht zu Unrecht gesagt: Das ist substanziell ungerecht. Es sind viele Leute in Griechenland arm geworden. In Deutschland hieß es dagegen oft: Wieso zahlen wir eigentlich für die Griechen? Das ist uns gegenüber ungerecht.

Florian Jeßberger: Nicht nur die Anwendung des Rechts, auch die Rechtsnormen selbst können ungerecht sein. Es mag etwa vielen ungerecht erscheinen, dass das Bußgeld für Falschparken die gleiche Höhe hat unabhängig von den Vermögensverhältnissen des Falschparkenden. Der Millionär mit seinem Porsche zahlt dasselbe Bußgeld wie jemand, der nur wenig verdient. Der Gesetzgeber könnte das ändern, aber es gibt hier neben der Gerechtigkeit auch noch andere Aspekte: Der Aufwand, den es bedeuten würde, in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren die Vermögensverhältnisse zu klären, ist so unangemessen hoch, dass es an dieser Stelle legitim erscheinen mag, dieses Gerechtigkeitsdefizit in Kauf zu nehmen. An anderer Stelle fängt der Gesetzgeber diese Ungerechtigkeiten auf, indem er bei Straftaten, die mit einer Geldstrafe und nicht wie Ordnungswidrigkeiten nur mit einer Geldbuße belegt werden, die Vermögensverhältnisse des Täters in Rechnung stellt.

Für Unverständnis bei Nicht-Juristen sorgt oft, dass sich Urteile von Richter zu Richter und von Instanz zu Instanz erheblich unterscheiden. Da wird eine Kassiererin, die Pfandbons für 1,30 Euro unterschlagen hat, gekündigt, und das Landesarbeitsgericht hält dies für rechtens, es sagt, das Vertrauensverhältnis sei zerstört. Dann hebt das Bundesarbeitsgericht das Urteil auf und sagt, dies sei nur eine Pflichtwidrigkeit, eine Abmahnung genüge. Lässt unser Rechtssystem so viel Raum für Interpretationen?

Reinhard Merkel: Grundsätzlich gibt es diesen Spielraum. Der besagte Fall führt das gut vor. Eine abstrakte allgemeine Norm, die durchaus gerecht ist, führt in einem Einzelfall zu einem Ergebnis, das ganz ungut ist. Dann mobilisiert das Bundesarbeitsgericht im Rahmen des Spielraums sein Gerechtigkeitsempfinden – das ist plausibel.

Mancher behauptet, unterschiedliche Urteile je nach Richter und Instanz zeigten, dass man vor Gericht der Willkür ausgesetzt sei.

Florian Jeßberger: Die Frage ist, was passiert, wenn man die Strafzumessung vom Richter abkoppelt. Das wird mancherorts in den USA praktiziert. An dem Punkt in einem Strafverfahren, wo ein Gericht den Sachverhalt ermittelt, die rechtliche Würdigung abgeschlossen hat und vor der Frage steht, wie es eine Person bestraft, entscheidet nicht der Richter. Vielmehr hat der Gesetzgeber in einer Strafzumessungsrichtlinie präzise festlegt, welche Strafe bei Vorliegen welcher Faktoren zu verhängen ist. Das Gericht hat dann nur die Möglichkeit, anhand einer Tabelle eine bestimmte Strafe zu verhängen. Man mag dazu neigen – jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit – Vorzüge in diesem System zu sehen. Ich finde aber, es hat auch viele Nachteile. Es erlaubt nämlich dem Gericht, das mit dem konkreten Fall vertraut ist, nicht, die ganz differenzierten Besonderheiten des Falls in den Blick zu nehmen. Möglicherweise führt dies dann unterm Strich doch zu weniger gerechten Ergebnissen als in Deutschland, wo man bei der Strafzumessung weitgehend auf den Richter vertraut.

Reinhard Merkel: Der Zug durch die In­stanzen ist ein Element der prozeduralen Gerechtigkeit, eben weil nicht nur ein Richter letztverbindlich etwas entscheidet, sondern weil mehrere Instanzen die Sache beurteilen. Es gibt allerdings etliche Zivilverfahren, in denen dies nicht mehr möglich ist. Das ist durchaus bedenklich. Infolge von politischen Vorgaben für eine Vereinfachung der Rechtswege sind diese in den vergangen Jahrzehnten leider vielfach zu sehr beschnitten worden. Das Verfassungsgericht wacht bei solchen rechtspolitischen Entscheidungen aber über die Schmerzgrenzen – auch die der Gerechtigkeit.

Es wacht aber nicht darüber, in welchem Umfang die Justiz bestimmte Delikte verfolgt. Zugespitzt formuliert: Ist es gerecht, Taschendiebe zu verfolgen, aber etwa die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Es gibt die Kritik, das Strafrecht komme nur unzureichend seiner Aufgabe nach, die schwersten Störungen des gesellschaftlichen Friedens zu sanktionieren.

Florian Jeßberger: Da ist etwas dran. Es gibt sicher in vielen Bereichen Schieflagen bei der Verfolgung von Delikten.

Reinhard Merkel: Und es gehört zu einer gerechten Rechtsordnung, dass sie Schieflagen öffentlich sicht- und hörbar machen lässt. Die Medien haben hier eine wichtige Aufgabe der Kritik, die sie nicht immer hinreichend erfüllen. Die durchgehend gerechte Rechtsordnung ist ein unerreichbares Ideal. Sie muss aber im Sinne von Immanuel Kant eine regulative Idee bleiben, der wir immer folgen sollten.