Hamburg. Die Schlange vor den Kassen im Erdgeschoss des Modehändlers Zara in der Mönckebergstraße ist an diesem Nachmittag lang. Bepackt mit reduzierten Blusen, Kleidern und Mänteln wartet ein gutes Dutzend Kundinnen mehr oder weniger geduldig darauf zu bezahlen. Während die Mitarbeiter im Akkord abkassieren, herrscht vor den beiden Bezahl-Terminals direkt daneben Leere.
Hier steht niemand hinter der Kasse. Die Kunden können ihre Einkäufe selbst einscannen. „Die Möglichkeiten sind neu“, sagt ein junger Mann aus dem Unterstützer-Team auf Englisch, der zur Unterstützung herbeieilt. „Das hat sich wohl noch nicht herumgesprochen.“ In der letzten Dezemberwoche hat die Textilkette die sogenannten Self-Checkout-Kassen installiert – und ist damit ein Pionier in der Hamburger Innenstadt.
Beachtliche Steigerung
Selbst ist der Kunde. Nicht nur beim Suchen und Auswählen der Einkäufe. Immer mehr Händler setzten auch Selbstbediener-Kassen ein. Waren es 2015 in Deutschland noch 295 Geschäfte, sind es heute nach einer aktuellen Studie des EHI Retail Institutes, einer auf den Handel spezialisierten Forschungs- und Beratungsfirma mit Sitz in Köln, 488 mit gut 3000 Kassen (Stand November 2017) – das entspricht einem Plus von 65 Prozent.
„Die beachtliche Steigerung innerhalb von zwei Jahren zeigt, wie bedeutend das Thema für deutsche Händler geworden ist“, sagt Studienautor Frank Horst. Vor allem im Lebensmitteleinzelhandel werden die Kassensysteme ohne Personal getestet. Derzeit gibt es in der Branche 1450 SB-Kassen in 350 Märkten – bei 200.000 herkömmlichen Kassen. Auch in Möbel- und Baumärkten sowie bei Sportketten wie Decathlon sind sie zu finden. Die Bäckereikette Kamps testet in einer
Filiale am Flughafen Köln-Bonn den Einkauf ohne Personal.
Im Modehandel noch Neuland
Im Modehandel in Deutschland ist Selbstbedienung an der Kasse derweil noch Neuland. „Unser Self-Checkout-System, das bereits in einigen Filialen von Zara und Massimo Dutti getestet wird, ist eine Ergänzung zu unserem üblichen Kassensystem und dient vor allem dazu, unseren Kunden den Bezahlvorgang zu erleichtern, besonders in stark frequentierten Zeiten“, teilt die Zara-Muttergesellschaft, der spanische Textilkonzern Inditex, auf Abendblatt-Anfrage mit. Besonders an den Terminals: Die Kleidungsstücke, die bezahlt werden sollen, werden automatisch erkannt. Als Kunde muss man sie nur auf dem Monitor bestätigen, danach die EC-Karte einlesen, Beleg ausdrucken, Sicherheitsetikett lösen. Ab in die Tüte.
Amazon-Supermarkt ohne Kassen eröffnet:
Das Konzept dahinter klingt erst mal nach Doppelnutzen: Der Händler spart Personal, die Kunden sparen Zeit, weil sie Wartezeiten vermeiden. Aber auch wenn die Zahlen in Deutschland aktuell steigen, im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien oder Schweden sind sie noch gering. Die Frage ist, ob die SB-Kassen mehr sind als nur ein Zwischenschritt?
Bargeldlos per EC- und Kreditkarte
Der Discounter Netto testet seit Sommer 2017 in acht Städten Kassen-Terminals und nennt sie SB-Kassen, unter anderem in Hamburg am Anita-Sellenschloh-Ring in Langenhorn. „Damit können Kunden längere Wartezeiten an den Kassen umgehen, die trotz maximaler Kassenbesetzung durch unsere Filialmitarbeiter in Stoßzeiten nie gänzlich zu vermeiden sind“, sagt Sprecherin Stefanie Adler.
Bezahlt werden kann unter anderem bargeldlos per EC- und Kreditkarte oder mit der Netto-App auf dem Smartphone. Die Reaktionen der Kunden seien positiv. Ob das Modellprojekt ausgeweitet wird, ist noch offen. Vorreiter war vor 15 Jahren die Metro-Gruppe, zu denen auch die Real-Märkte gehören. In Hamburg gibt es in zwei Real-Märkten insgesamt vier SB-Kassen.
Punktueller Einsatz bei Rewe
Bundesweit sind 85 von 282 Standorten mit SB-Kassen ausgestattet. Ikea, berüchtigt für zeitweise besonders lange Kassenschlangen, begann 2008 die ersten Selbstbedienerkassen zu installieren. In den vergangenen Jahren hat der schwedische Möbelkonzern in allen Einrichtungshäusern in Deutschland die Hälfte der herkömmlichen Kassen durch Expresskassen ersetzt oder bei Neubauten direkt installiert. „Dadurch hat sich die gesamte Kassenanzahl um die Hälfte erhöht“, sagt Ikea-Sprecherin Isolde Debus-Spangenberg. In den drei Hamburger Häusern gibt es 83 SB-Kassen. „40 Prozent unserer Kunden nutzen die Expresskassen“, so Debus-Spangenberg. Die Erfahrungen zeigten, dass sie sehr korrekt und genau scannen.
Seit 2012 testet die Supermarktkette Rewe Self-Checkout-Kassen. Aktuell haben von bundesweit 3500 Rewe-Märkten 62 Selbstbedienerkassen. In Hamburg können Kunden diese in sechs Rewe-Centern nutzen. „Wir planen keinen flächendeckenden Rollout, sondern nur einen punktuellen Einsatz“, sagt Unternehmenssprecher Thomas Bonrath. Die Technik sei prädestiniert für Supermärkte, in denen Kunden überwiegend nur wenige Artikel einkauften. Außerdem müsse genug Platz da sein.
Gewerkschaftler befürchten Personalabbau
In den hochfrequentierten Spitzenzeiten wickelt dort etwa jeder zweite Kunde seinen Bezahlvorgang selbst ab. Beim Konkurrenten Edeka ist der Einsatz von SB-Kassen ebenfalls in der Modellphase. Nach Angaben von Edeka Nord beteiligen sich daran vier Märkte. In Hamburg lassen sich bei Edeka Böcker in der HafenCity Einkäufe selbst scannen.
Bislang hat die Steigerung der SB-Kassen noch nicht zu nennenswerten Entlassungen geführt. Bei Ikea etwa heißt es: „Die frei gewordenen Personalkapazitäten im Kassenbereich setzen wir im Verkauf und in der Beratung ein.“ Auch bei Rewe „hat die Technik keinen Einfluss auf den Mitarbeiterstamm“, sagt Sprecher Bonrath. Trotzdem sieht Heike Lattekamp, Fachbereichsleiterin Handel bei Ver.di Hamburg, die Veränderung kritisch. „Der stationäre Einzelhandel versucht wie schon der Onlinehandel, Prozesse auf die Kunden zu verlagern.
Zögerliche Akzeptanz
Das Ziel ist mittelfristig, Personal abzubauen.“ Eine fatale Entwicklung, so Lattekamp. Statt sich mit mehr Service und persönlichen Kundenbeziehungen vom E-Commerce-Geschäft abzuheben, steuerten die Geschäfte in die gleiche Richtung. „Schon heute ist die Kassiererin manchmal die einzige Mitarbeiterin, die ein Kunde noch persönlich antrifft.“
Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis wir uns ähnlich wie beim Geld abheben oder beim Check-in am Flughafen, auch beim Bezahlen ans Selbermachen gewöhnt haben? Martin Fassnacht, der als Professor an der Wirtschaftshochschule WHU in Düsseldorf in den Bereichen Marketing und Handel lehrt, sieht das skeptischer als andere Branchenkenner. „Die Investitionen in SB-Kassen sind für die Händler um ein Mehrfaches höher als bei herkömmlichen Kassensystemen“, sagt er. Auf der anderen Seite sei die Akzeptanz bei den Kunden zögerlich. „Deutsche tun sich besonders schwer, ungewohnte Dinge zu tun“, sagt Fassnacht mit Blick auf andere Länder. Und: „Viele sehen den Mehrwert nicht.“ Er hat die nächste Technologie im Blick: Zahlen per Handy.
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