Hamburg. Moritz Twesten, 12, sitzt im Herrensaal des Michel und stärkt sich mit einem Stück Kuchen. Eine Stunde später wird der Schüler des Bergedorfer Luisen-Gymnasiums seinen großen Auftritt vor 2000 Besuchern haben. In der Sakristei trifft gerade der 91-jährige Autor und Regisseur Eberhard Möbius ein. Wenig später wird „Möbi“ mit seinem Rollator direkt vor den mit güldenem Lametta geschmückten Weihnachtsbaum fahren und am Pult ein Weihnachtsmärchen vortragen, strahlend und glücklich wie ein Kind.
Mit Sandra-Keck vom Ohnsorg-Theater
Märchen und Musik lauschen, singen und beschwingt in die Weihnachtszeit starten – das ist das Erfolgsprogramm der beliebten Abendblatt-Benefiz-Veranstaltung „Märchen im Michel“ zugunsten von „Kinder helfen Kindern e.V“. Sie fand am vergangenen Freitag bereits zum 25. Mal statt. Insgesamt 4000 Besucher stimmten sich in den beiden ausverkauften Veranstaltungen auf das Fest ein. Während am Nachmittag Ohnsorg-Schauspielerin Sandra Keck durch das Programm führte und die „Alsterfrösche“ unter der Leitung von Sigi Hennig viele Kinder begeisterten, verzauberten abends wie nachmittags die rund 40 Sängerinnen des lettischen Cantus-Mädchenchores das erwartungsfrohe Publikum.
Zöpfe und Zipfelmützen
Ihre Chorleiterin Maruta Rozīte, 77, steht in schwarzem Kostüm im Altarraum des Michel und gibt mit strengem Blick das Startssignal für den Gesang. Die 77-Jährige ist Gründerin des Chores und Direktorin der Musikschule der lettischen Stadt Kuldīga. Sie und die Mädchen im Alter von acht bis 18 Jahren waren mit dem Bus ans Ziel ihrer Reise gekommen – den „Märchen im Michel“. Die Sängerinnen tragen Zöpfe, grüne Westen und rote Zipfelmützen, während die sieben Lucia-Sängerinnen gerade durch den dunklen Kirchenraum schreiten. Sie halten nach skandinavischer Tradition brennende Kerzen in den Händen, und die stolze Lucia-Königin trägt einen leuchtenden Lichterkranz auf ihrem Haupt. Beim Lied „Ave Maria“ sind auch die beiden Abendblatt-Leserinnen Edeltraut Zeidler und Ellen Johannesson aus Fuhlsbüttel gerührt. Sie sitzen in der ersten Reihe und sagen nach der Veranstaltung: „Mit den ‘Märchen im Michel’ beginnt jetzt unsere Weihnachtszeit.“
Die Idee zu dem besonderen Adventsereignis zugunsten des Abendblatt-Vereins „Kinder helfen Kindern“ hatte vor 25 Jahren Renate Schneider. Sie war bis 2012 Leiterin des Ressorts „Von Mensch zu Mensch/Kinder helfen Kindern e. V.“. Das neue Team fügte der Abend-Veranstaltung vor fünf Jahren noch eine kürzere Nachmittagsvorführung für kleinere Kinder hinzu.
Mit dem Ticket Gutes tun
Die Erlöse aus der Benefizveranstaltung kommen traditionell dem Verein zugute. „Märchen im Michel ist eine Veranstaltung für unsere Leserinnen und Leser, die damit so wunderbar auf Weihnachten eingestimmt werden und gleichzeitig mit ihrem Ticket etwas Gutes tun“, sagt Sabine Tesche, Ressortleiterin Von Mensch zu Mensch/Kinder helfen Kindern e.V. „Wir können damit nicht nur die Lese- und Schreibfähigkeit von Schülern bei den Hamburger Märchentagen fördern, die wir hauptsächlich unterstützen, sondern es bleibt auch immer noch Geld übrig, um bedürftigen Kindern und Jugendlichen in der Stadt ganz direkt zu helfen.“
Organisiert wurde auch die diesjährige Benefizveranstaltung von Abendblatt-Marketing-Chefin Vivian Hecker und ihrem Team.
Endlich ist der zwölfjährige Moritz aus Bergedorf dran. Der Schüler, der am liebsten Tennis spielt und schwimmt, ist der Gewinner des diesjährigen Hamburger Vorlesewettbewerbs. Zwei Wochen lang büffelte der Siebtklässler ein Märchen, das aus der Feder der Hamburger Schülerin Mieke Hagemann stammt. Zum zweiten Mal gewann die Zwölfjährige den Schreibwettbewerb der Hamburger Märchentage.
Hörbuchstimme von Harry Potter
Moritz liest mit wechselnden Tonlagen wie ein professioneller Vorleser ihre Geschichte über eine arabische Wüstenkatze, den Weihnachtsmann und den Hamburger Weihnachtsmarkt. Mit dabei ist im Michel diesmal als Vorleser der Schauspieler Rufus Beck, bekannt als Hörbuchstimme von Harry Potter, der extra aus München nach Hamburg kam. Auch Schauspielerin Pheline Roggan, 36, und die Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters, Isabella Vértes-Schütter, tragen unter dem Weihnachtsbaum ein Märchen vor. Viel Applaus erhält Hauptpastor Alexander Röder, der mit plattdeutschen Dialogen brilliert und den Michel-Besuchern am Ende der beiden Veranstaltungen den Segen Gottes zuspricht.
Als kurz nach 21 Uhr alle Besucher bei kräftigem Orgelklang „O du fröhliche“ singen, ist Eberhard Möbius weihnachtlich gestimmt. „Seit 25 Jahren bin ich jedes Mal bei ‘Märchen im Michel’ dabei“, sagt er. Nicht einmal habe er, der Vorleser, in all den Jahren gefehlt, auch nicht, als seine Frau Christa starb. „Ihr werde ich heute wieder ein paar Zeilen in mein Buch schreiben über diesen wunderbaren Abend hier im Michel“, sagt er. Seit sie tot ist, schreibt er seiner großen Liebe fast täglich ein paar Zeilen auf Papier. „Christa muss doch wissen, was mich alles bewegt.“
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