Historie

Hamburgs Geschichte als Musical in den Kammerspielen

| Lesedauer: 11 Minuten
Katja Engler
Das Musical nach dem gleichnamigen Kinder- und Jugendbuch von Irene Haarmeyer

Das Musical nach dem gleichnamigen Kinder- und Jugendbuch von Irene Haarmeyer

Foto: Anatol Kotte und Malte Nitz

Wie ein Kinder- und Jugendbuch reif für die Bühne wird: Am Sonntag feiert die Zeitreise des „Historicus“ Premiere.

Die Angreifer tragen derbe Kutten, Fellkragen oder grobe Pullover. Auf ein Kommando schwingen sie brüllend ihre Schwerter, dann stürmen sie die Hammaburg. Es sind Wikinger, und kurz darauf wollen sie sich den fliehenden heiligen Ansgar greifen, der die Heiden des Nordens zum Christentum bekehren soll. Unter seiner Mönchskutte vermuten sie eine Menge Gold. Aber Ansgar kann gerade noch entkommen. Man schreibt das Jahr 845. Es ist der Beginn von Hamburgs Geschichte.

Zumindest in diesem Stück, dessen erste Szene acht junge Schauspieler an diesem Nachmittag proben. „Historicus“ nach dem gleichnamigen erfolgreichen Buch von Irene Haarmeyer hat am 24. September in den Kammerspielen als Musical Premiere.

Für Kinder ab acht Jahren

Es ist für Kinder ab acht Jahren geschrieben, aber gleichermaßen ein Erlebnis für die ganze Familie. Durch 1200 Jahre bewegte Hamburger Geschichte beschreibt es eine aufregende Reise: vom Sturm auf die Hammaburg, den Bau des Hafens und der Wallanlagen über den gefälschten Freibrief des Kaisers Barbarossa, der der Stadt zollfreien Handel gestattete, bis zu den Verwüstungen, die der Feuersturm 1943 anrichtete.

Geschichte müsse nicht langweilig und trocken sein, wie es so manches Mal in den Schulen der Fall ist, fand die Autorin Irene Haarmeyer, Mutter von drei Kindern. „Mir war es ein Anliegen, lebendig und spannend daraus zu erzählen.“ So entstand vor Jahren die Idee zu „Historicus“. In der Rahmenhandlung verbinden drei Figuren die Kapitel mit­einander bis in die Gegenwart: Der zwölfjährige Filip und seine neunjährige Schwester Lilli treffen auf den Außerirdischen Historicus, der in einer geflügelten Zeitmaschine in Hamburg landet, um eine wichtige Prüfung abzulegen – just, als Lilli und Filip in der Nähe stehen. Als sie zu ihm in die Kapsel steigen, nimmt das Schicksal seinen Lauf: Die Geschwister reisen mit ihm in die Vergangenheit, begegnen echten Rittern, echten Piraten, sie werden Zeugen von Katastrophen, aber auch von höfischen Festen.

Acht Schauspieler schlüpfen in 29 Rollen

Einstudiert wird das erste historische Hamburg-Musical in der geräumigen ersten Etage einer Eimsbütteler Kirche. Die Kammerspiele haben sie als Probebühne angemietet. Acht Schauspieler schlüpfen in insgesamt 29 Rollen, die 40 Kostüme auf den Kleiderstangen hinter der Bühne sind so beschaffen, dass sie sich rasend schnell an- und ausziehen lassen. Tempo, Tempo, Tempo!

Allein Jacob Loerbroks muss im Laufe der Aufführung zehn unterschiedliche kleine Rollen spielen, quer durch 1200 Jahre Geschichte. Mal ist er Wikinger, mal Händler, dann Pirat, Ritter oder auch die schmucke junge Deern Gesche: „Ich finde das großartig, denn so kann ich viel von mir zeigen und habe vieles zum Erfinden.“ Um eine Frau zu spielen, müsse er vor allem auf „weichere, geschmeidigere Bewegungen“ achten. Seine wichtigste Rolle ist für ihn der Pirat Klaus Störtebeker, der in diesem Stück „etwas Lyrisches, Dichterisches, Melancholisches hat. Er redet über sein Schiff wie über eine Geliebte.“ Seit neun Jahren lebt Loerbroks in Hamburg, und da ist es ihm eine echte Freude, beim „Historicus“ mitzuwirken.

Songs zu den Kapiteln

Aber wie bringt man überhaupt einen solchen Stoff auf die Bühne, obendrein als Musical?

Zum Glück war die Musik schon da. Jan Haarmeyer, Ehemann der Buchautorin, Journalist und Musiker, hatte bereits vor Jahren Songs zu den Kapiteln geschrieben, er begleitete seine Frau bei Lesungen in Schulen. Frank Oberpichler, einst Pianist bei Udo Lindenberg, arrangierte und produzierte die Songs in seinem Studio. Es entstand eine CD zum Buch – und nun zum Musical.

Dann warben die Haarmeyers bei Privattheatern für ihre Idee. Kammerspiele-Intendant Axel Schneider griff zu: „Aus der Geschichte dieser Stadt ein Musical zu machen, fand ich sofort sehr spannend!“ Der Schauspieler und Regisseur Franz-Joseph Dieken, schon mehrfach mit Kinderstücken für Schneider tätig, erklärte sich bereit, den „Historicus“ für die Bühne flottzumachen und als Regisseur zu inszenieren. „Ich dachte: Super. Und später dann: Oh Gott!“ Denn schnell merkte er, wie viel Arbeit darin steckt, aus grob skizzierten Zeit-Ta­bleaus Theater-Szenen zu zaubern.

Jede Epochen-„Station“, das wusste Dieken, „muss eine Form von Konflikt enthalten, der die Geschichte vorantreibt. Sonst ist es kein Theater!“ Gut fand er die Figur des Historicus, der, weil er aus einer anderen Zeit komme, „eine andere Perspektive“ hineinbringe und die Kinder mitnehme. Über ihn und die Geschwister Filip und Lilli erzähle sich die ganze Geschichte. Aber alle Szenen, in denen sie Wikingern, Piraten, Burgfräuleins oder Sturm-und-Drang-Dichtern begegneten, müssten um so spannender sein.

Aus einem Kassettenrekorder wurde der „Sprachwandler“

Das Zeitreisen-Motiv ist an sich schon verheißungsvoll, aber Dieken spitzt es von Epoche zu Epoche gnadenlos zu: „Die Kinder sollen ein Wechselbad der Gefühle erleben. Das ist das tragende Prinzip.“ Es sei schwer genug, Fakten auf der Szene spannend darzustellen. „Figuren im Stück müssen interessant sein, sonst haben wir eine Vorlesung.“ Das Staunen sei in der Welt etwas Wichtiges, „wenn es aufhört, hört auch das Leben auf“.

Für das Spiel durch wechselnde Epochen und Schauplätze braucht es außerdem ein geeignetes Bühnenbild, Kostüme und Requisiten. Yvonne Marcour und Sabine Kohlstedt, die für die Ausstattung verantwortlich sind, haben sich daher einen Raum aus wandelbaren Stellwänden ausgedacht, der „nicht großartig verändert wird und die Fantasie anregt. Ein Raum, der alles sein kann: Dorf, Burg, Stadt, Schiff, Rittersaal oder Raumschiff.“ Kleine Veränderungen machen daraus beispielsweise Burgzinnen oder ein Seeräuberschiff. „Wir zitieren Epochen, aber wir verfremden diese Zitate auch“, erklärt Yvonne Marcour.

Ein Mühlradkragen, wie ihn reiche Leute im 17. Jahrhundert trugen, besteht dann eben nicht mehr wie damals aus Spitze, sondern aus wippendem Filz. Weil nur zwei Schneiderinnen am Theater arbeiten und sie unmöglich 40 Kostüme für 14 Szenen nähen können, kommt vieles aus dem Fundus. Extra genäht haben sie zum Beispiel die Pumphosen für den Pfeffersack. Mit zwei wippenden Antennen versehen, wurde auch der „Sprachwandler“ eigens gebastelt. Den hängt sich der Historicus um, damit ihn die Kinder verstehen: „Ich habe ihn selbst gebaut aus einem alten Kassettenrekorder, den ich in der Requisite gefunden habe“, erzählt Yvonne Marcour.

Die mitfühlende Lilli bringt die Reise näher

Eine neue Art von Schwung bringt der drahtige, gut gelaunte Choreograf Sven Niemeyer in das „Historicus“-Musical. Bevor er irgendwelche Tanzszenen einstudieren konnte, musste er herausfinden, wer von den Darstellern sich wie bewegen kann: „An den Schauspielschulen wird es leider oft vernachlässigt, mit dem Körper so zu arbeiten, wie es heute oft an den Bühnen gebraucht wird“, seufzt er. Der Tanz füge der Aufführung Dynamik hinzu, „damit die Leute dranbleiben“.

Unweit vom Regisseur Franz-Joseph Dieken verfolgt die Dramaturgin Anja Del Caro die Probe. Sie wünscht sich, dass die jungen Zuschauer des „Historicus“ vor allem „Lust kriegen“ auf den Stoff und danach Lust darauf, „ihre Stadt neu zu entdecken“. Von Anfang an war Anja Del Caro am Entwicklungsprozess des Musicals beteiligt: „Wir haben gemeinsam Schauspieler gesucht. Ich habe Franz-Joseph aus dem großen Pool von Schauspielern, die ich kenne oder gesehen habe, Vorschläge gemacht. Das Wichtigste ist, das bestmögliche Team zusammenzustellen.“

Pest in der Stadt

Seit Sabine Barthelmess die Rolle der Lilli übernommen hat, kommt ihr die Geschichte dieser Stadt manchmal näher, als ihr lieb ist. Zum Beispiel, wenn sie sich vorstellt, wo am Hafen der geköpfte Störtebeker entlanggelaufen sein könnte, bevor er zusammensackte. Oder wie beängstigend es im 14. Jahrhundert gewesen sein muss, plötzlich neben einem siechenden Pestkranken zu stehen und den stinkenden Abfall in den Gassen zu ertragen.

Dass ihr Bühnen-Bruder Filip einen Außerirdischen trifft, ist für Johan Richter, der ihn spielt, „der Hammer! Er wird mitgerissen, er ist begeistert und beeindruckt“. Die mitfühlende Lilli bringe dem Zuschauer die Zeitreise näher, sagt er. Seine Bühnen-Schwester Sabine Bar­thelmess ergänzt: „Lillis emotionale Beziehungen bringen das Abenteuerliche, Actionmäßige immer wieder auf eine menschliche Ebene. Denn wer Not sieht, der will helfen“, sagt sie mit Blick auf die Pestszene.

Von Anfang an brechen die Kinder die Regeln

Die wichtigste Verhaltensregel stellt Historicus zum Schutz der Kinder gleich zu Beginn auf: „Nur beobachten, nicht eingreifen!“ Aber von Anfang an brechen Lilli und Filip diese Regel und suchen den Kontakt zu den historischen Figuren, denen sie begegnen. „Erst dadurch wird’s interessant“, sagt Hannes Träbert, der den Historicus spielt und als Einziger ein futuristisches Kostüm trägt. Immer wieder, sagt Träbert, griffen die Kinder nämlich in dramatische historische Szenen ein und schrieben dadurch gewissermaßen die Geschichte im Nachhinein um. Warum, das erklärt er gleich mit: „Es ist wichtig im Leben, zu lernen, nicht nur daneben zu stehen, sondern zu handeln, wenn es notwendig ist“, findet Träbert. Daraus ergibt sich fast automatisch ein Gedanke: Wenn damals immer mal jemand eingegriffen hätte, wäre so manches anders gelaufen.

Hannes Träbert sagt, für den Historicus sei „der Planet Erde total spannend. Und ich finde es faszinierend, dass alles, was über die Jahrhunderte passiert ist in Hamburg, uns heute noch beeinflusst.“ Sie als Schauspieler hätten die Aufgabe, „uns in jede Situation so echt wie möglich reinzuversetzen“, sagt Johan Richter. „Es verlangt uns viel ab, dem nahezukommen. Aber ist es nicht toll, gleichaltrige Leute kennenzulernen und sogar mit ihnen zu reden, die eigentlich viel früher gelebt haben? Es macht so viel Spaß, das zu spielen!“

Die Vorstellung:

Historicus“ Hamburg Musical für die ganze Familie, und für Kinder ab acht Jahren. Premiere So 24.9., 16.00, Vorstellungen bis 21.12. Hamburger Kammerspiele (U Hallerstraße), Hartungstr. 9–11, Karten 18,-/22,-, in Schulvorstellungen 8,50 pro Person, Telefon 41 33 44-0.

Das Buch „Historicus“ von Irene Haarmeyer mit Illustrationen von Malte Nitz kostet 16,90 Euro.

Erhältlich in der Hamburger Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32. Öffnungszeiten: Mo– Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr. Oder bestellen unter www.abendblatt.de/shop oder per Telefon 040/33 36 69 99 (Preis zuzüglich Versandkosten)

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