Gerichtsreporterin

Peggy Parnass: „Nicht ein Massenmörder hat bereut“

| Lesedauer: 14 Minuten
Maike Schiller
Peggy Parnass in ihrer Wohnung in St Georg, voller Bücher und Erinnerungen

Peggy Parnass in ihrer Wohnung in St Georg, voller Bücher und Erinnerungen

Foto: Marcelo Hernandez

Sie beobachtete Nazi-Verbrecher, RAF-Terroristen und Luden vor Gericht. Peggy Parnass über Recht, Mut und das Sterben.

Hamburg. Bücher, Bücher, vor allem Bücher, stapelweise, auf dem Bett, auf Stühlen, an den Wänden, auf dem Fußboden, man muss über sie hinwegsteigen. Meinhof, Troller, Giordano, Chaplin, Tucholsky. Die olivgrünen Wände hängen voller Bilder, Fotos, Postkarten, dazwischen vergilbte Theaterplakate, Zeichnungen und Gemälde, auf denen immer wieder auch sie selbst zu sehen ist: Peggy Parnass. Schwedin dem Pass nach, staatenlos geboren, zu Hause in St. Georg. Sie ist Autorin, war Schauspielerin, Kolumnistin, ein politischer Kopf, ein lautes Mundwerk, eine empathische, sensible Seele.

Ihre Eltern wurden in Treblinka ermordet, Peggy und der kleine Bruder 1939 mit einem Kindertransport nach Stockholm geschickt. Später hat sie mit Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl in einer WG gelebt und war mit Ulrike Meinhof befreundet. Wer heute im Hamburger Kulturleben unterwegs ist, der wird ihr begegnen, Peggy, die alle duzt und von allen geduzt wird. Feuerrotes Haar, riesiger Mund. Ein bisschen schmal und klapprig seit einem „Lendenwirbelbruch im Liebesrausch“, wie sie offensiv verkündet, aber immer: eine zierliche, deutliche Erscheinung. Zeit für ein paar Erinnerungen.

Hamburger Abendblatt: Du hast viele Jahre im Gericht verbracht, bist mit Gerichts­reportagen berühmt geworden. Wann hast du das letzte Mal einen Prozess beobachtet?

Peggy Parnass: Im Sommer, in dem Verfahren gegen den Koch Alfredo, der so gut sein soll und so nett. Der in St. Georg einen erschossen hat, der ihn seit Jahren erpresst hat.

... und ihn im Restaurant eingemauert hat ...

Ja.

Hat sich am Gericht im Gegensatz zu früher etwas verändert?

Alles ist anders. Ich hab mich verlaufen. Damit fing es schon mal an. Und die ganzen Jahre, die ich dort verbracht habe, war ich so nah dran, wie es nur geht. Ich saß immer ganz vorn. Nah an Zeugen, Angeklagten, Verteidigern, Richtern. Ich bin mehrfach rausgeschmissen worden. Aber angedroht noch viel öfter.

Warum?

Weil ich Angeklagte umarmt habe zum Beispiel, wenn sie mir leid taten. So allein, so ausgeliefert uns Voyeuren. Ich war immer schon um halb 8 da, vor allen. Weil ich sehen wollte, wie sie reinkommen, in welcher Verfassung, mit welchen Gesichtsausdrücken. Im Gericht hat ja jeder Angst, auch wenn er gar nicht angeklagt ist, sondern nur als Zeuge geladen. Die Richter sitzen da oben, die anderen gedemütigt unten.

Du warst auch beim Prozess gegen Ludwig Hahn, einen NS-Kriegsverbrecher.

Ich glaube, es waren 240.000 Morde, die er angeordnet hat. Er war der oberste Gestapo-Boss in Polen. Dann hat er sich ausgeweint im Gericht, weil er so viel arbeiten musste. Kostet ja auch Kraft, jedes Todesurteil anzuordnen und zu unterschreiben. Ich traf ihn jeden Tag. Der war natürlich auf freiem Fuß. Seine Frau war jeden Tag da, sein Sohn auch. Empört, dass er überhaupt vor Gericht stehen musste. Die hörten nun alles, von den ganzen Zeugen. Da war nicht eine Sekunde Entsetzen in deren Gesichtern. Nur Empörung, weil er angeklagt wurde. Der Vorsitzende hat sich immer bei ihm entschuldigt. „Herr Doktor, bitte entschuldigen Sie, wenn ich das so frage ...“

Eigentlich warst du in den 70er-Jahren Schauspielerin. Warum bist du damals überhaupt ins Gericht gegangen?

Ich war Schauspielerin und wollte gern weltberühmt werden. Dachte ich mir so. Ich versuchte, immer andere dazu zu bringen, ins Gericht zu gehen und für richtige Reportagen zu sorgen. Es ging mir vor allem um die NS-Prozesse. Alle möglichen Leute haben mich interviewt, als Schauspielerin, und ich habe jedem und jeder gesagt: ist doch völlig überflüssig! Geh ins Gericht! Da läuft die Musik! Und alle haben geantwortet: Das ist doch ein anderer Beruf, ich schreibe fürs Feuilleton. Dann habe ich Ulrike Meinhof gefragt, die war ja auch Journalistin, aber die hatte auch genug zu tun mit „Panorama“ und solchen Dingen. Ines Stosch von der „Frankfurter Rundschau“ hat schließlich gesagt: Peggy, wenn’s dir so wichtig ist, geh doch selber hin! Hab ich dann gemacht. Bei der „Rundschau“ waren sie hocherfreut, ich hab das dann eine Woche für die gemacht ...

Eine Woche?

Ja, ich hab schnell gemerkt, dass die nicht wollen, was ich will. Die wollten nicht meine Reaktion, keine Stimmung, die wollten Daten, Namen, solche Dinge, und ich hab gesagt: Das macht keinen Sinn. Anschließend hab ich für das linke Magazin „Konkret“ geschrieben.

Was war dein erster Prozess?

Meine allererste Gerichtsreportage war über René Durand, der damals das Salambo auf dem Kiez hatte. Ich glaube, das war der erste Laden weltweit, wo es dieses Schauficken gab. Darum war er auch angeklagt. Vor Gericht war der dermaßen witzig! Köstlich! Wie er das schilderte! „Lutsch-Arie“, sagte er immer und zog das Wort dabei so lang: „Luuutsch­ariiie“. Der lud mich immer ein, seine Shows anzugucken.

Und? Hast du?

Natürlich! Aber das hat mich sehr gelangweilt. Es war widerlich und gar nicht amüsant. Vor Gericht war er besser.

Aber eigentlich wolltest du in einen NS-Prozess.

Ja. Ich wollte alles deutlich schildern. Die Art der Vernehmung, die Zeugenaussagen. Aber diese Prozesse fanden gar nicht statt! Alles andere hat mich dann aber auch so fasziniert, dass ich unentwegt hingegangen bin. Schauspielen war kein Thema mehr. Ich wünschte, auch im Nachhinein, ich hätte beides gemacht. Das Schauspielen hat mir gefehlt.

Obwohl du als Gerichtsreporterin berühmt wurdest? Hattest du nicht das Gefühl, deine wahre Bestimmung gefunden zu haben?

Ich hab ja gern gespielt, das hat mir Spaß gemacht. Es war nicht so deprimierend. Das Gericht war ja oft die Hölle.

Trotzdem bist du immer wieder hin.

Bin ich. Ich hatte sogar einen Prozess gegen mich selbst. Da wurde ich allerdings freigesprochen.

Weshalb warst du angeklagt?

Ich soll vier Polizisten überfallen haben.

Hattest du?

Ich habe einen geohrfeigt. Vier haben mich angezeigt. Über einen hatte ich mal geschrieben, weil er in der Davidwache jemanden misshandelt hatte. Ich war ja insgesamt in über 500 Prozessen. Es waren übrigens nur drei NS-Prozesse dabei.

Hast du in diesen Prozessen gesehen, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wurde?

Ich habe im Gericht nicht einen von den Massenmördern gesehen, der bereut hätte. Keinen Anflug von Bedauern. Nur um sich selber. Und sonst? Es gab fabelhafte Strafverteidiger, die sich halb tot gearbeitet haben. Tolle, tolle Leute. Und es gab das Gegenteil. Ich hab manchmal versucht, Richter zu beeinflussen.

Wie hast du das gemacht?

Einmal, in einem RAF-Prozess, habe ich in einer Verhandlungspause einem Richter einen Zettel auf seine Bank gelegt, als er gerade draußen war. Ich habe geschrieben, dass ich davon ausgehe, dass er sich nicht kleinmachen lässt durch andere, unqualifizierte Presseberichte, die er ja auch gelesen haben musste. Meine „Kollegen“ von „Welt“, „Bild“ und „Mopo“ sind dann gemeinsam zur Polizei hingelaufen – es war ja immer Polizei anwesend im Gericht – und haben mich verpetzt. Da wurde mein kleiner Brief beschlagnahmt. Es kam aber auch vor, dass Richter umgesattelt haben und Strafverteidiger wurden.

Als Reaktion auf deine Artikel?

Ja. Sie haben mir gesagt, sie hätten dadurch umgedacht. Umgefühlt. Da hab ich mich gefreut.

Welche Rolle hatte eine Gerichtsreporterin damals?

Kommt darauf an. Ich schrieb ja für eine Monatszeitschrift, ich hatte also Zeit. Ich habe immer auch Kontakt zur Familie der Verurteilten aufgenommen, zu Frauen und Kindern. Die sind ja immer mit verurteilt. Darum habe ich so viele schöne Häkelstolas. Die wollten sich ja immer revanchieren. Ich habe Häkelstolas in Mengen.

Und ein Bundesverdienstkreuz bekommen.

Das habe ich eher als Beleidigung aufgefasst. Ich habe mich ein Jahr geweigert, es anzunehmen, weil ich ja weiß, wer das noch alles bekommen hat.

Aber dann hast du es doch angenommen.

Weil mich Ralph Giordano und Georg Stephan Troller, die das beide auch bekommen haben, überredet haben. Peggylein, haben sie gesagt, wir haben ja auch gezögert, aber es ist doch was anderes heute ... Ich habe mich bequatschen lassen und es bereut.

Wie wichtig ist dir Wertschätzung?

Der Fritz-Bauer-Preis macht mich glücklich, seit ich weiß, wer er war. Und im Fernsehen wurden neulich gute deutsche Gerichtsreporter aufgezählt – dass ich nicht mal genannt wurde, hat mich gekränkt. Ich habe immerhin damals als einzige Reporterin Fritz Honka nicht nur gesehen, sondern auch gesprochen.

Wie kam es dazu?

Der Honka wurde immer als so hässlich beschrieben, das fand ich gar nicht, er war sehr adrett. Es war ein Sensationsprozess, es war brechend voll mit Reportern. Von überall her. Und in einer Verhandlungspause blieb Honka sitzen, alle anderen gingen raus. War ja Pause. Da hab ich mich zu ihm gesetzt und hab mich mit ihm unterhalten.

Worüber? Hattest du keine Hemmungen?

Nee. Ich hab ja nicht über die Fälle gesprochen. Ich habe gefragt, wie es ihm geht. Er hat geklagt, weil er es schrecklich fand im Gefängnis. Und es ist ja alles relativ. Ich hab auch jeden Tag mit Ludwig Hahn gesprochen: mehr als 200.000 Morde. Bei Honka waren es vier.

Hat dir der Serienmörder Honka leid getan?

Ja. Aber als er so überheblich wurde, als er einen Lachanfall bekam in der Verhandlung, da war Sense mit Leidtun, da fand ich ihn nur noch scheußlich.

Du hast mal gesagt, dass du dich für ungewöhnlich stark hältst.

Ich bin unglaublich ängstlich und unglaublich mutig. In beiden Fällen da, wo andere es nicht sind.

Hast du manchmal auch Angst vor der Erinnerung?

Meine große Angst ist, dass meine Eltern, die völlig verrückt nacheinander waren, ein richtiges Liebespaar, dass die in Treblinka auseinandergerissen wurden. Dass sie nicht eng umschlungen umgebracht wurden. Meine Mutter ist ja freiwillig mitgegangen, obwohl sie gar nicht verhaftet war. Aber sie konnte nicht ohne ihn sein. Die Vorstellung, dass die beiden küssend gestorben sind, ist tröstlich. Wäre tröstlich. Aber ich halte es für wenig wahrscheinlich.

Ich habe von dir den Satz gelesen: Der Gedanke ans Sterben begleitet mich oft.

Ja. Leider. Erst recht, wenn ich so klapprig bin. Wenn man nachts wach liegt. Die Vorstellung, irgendwann ganz allein zu sein, eingepfercht in einer Kiste – gruselig! Und verbrannt zu werden, kommt überhaupt nicht infrage. Ist ja noch schrecklicher.

Die Vorstellung einer Erlösung hast du gar nicht?

Nein. Wobei: Ertrinken finde ich ganz apart.

Apart ...?

Ja, da muss ich an Ulrich Wildgruber denken.

Der auf Sylt ins Wasser ging.

Genau. Den habe ich hier jeden Tag gesehen, er war ja am Schauspielhaus engagiert. Bei der Premiere von „Othello“ mit Eva Mattes saß ich neben seiner Frau. Es wurde so sehr gebuht, und sie saß neben mir und zitterte aus Angst um ihn. Es wurde aber ein wunderbarer Erfolg. Das Meer fand ich jedenfalls immer verlockend. Ich wäre in Südfrankreich zweimal fast ertrunken. Lange Jahre her. Beide Male kippte ein Boot. Ich bin kein guter Schwimmer, empfand es aber als ruhig und schön. Der Himmel, das Meer. Ich hatte keine Spur von Angst.

Nach deinem Alter wirst du gar nicht gern gefragt.

Warum auch. Leute fragen mich oft und gern, wie alt ich bin. Versteh ich nicht. Im Internet steht ein falsches Alter. Der Geburtstag stimmt, das Jahr nicht. Alle paar Jahre gratuliert mir einer zu einem runden Geburtstag, den ich gar nicht habe. Vielleicht bin ich älter, vielleicht bin ich jünger. Warum fragen die Leute nicht stattdessen, wie es mir geht oder was mich interessiert?

Die Leute sind fasziniert, wenn jemand schon so viel erlebt hat. Sie wollen das einordnen.

Dafür braucht man doch keine Zahl. Ich will es nicht wissen. Dann könnte ich ausrechnen, dass ich nicht mehr lange lebe. Will ich das? Nein. Meine Freunde haben alle gemeinsam, dass sie jung sind. Egal, wie alt sie sind.

Hast du Angst vorm Alter?

Nee. Ich will nur nicht sterben. Das stört mich wirklich sehr.

Bücher und Abend

Peggy Parnass’ Gerichts­reportagen „Prozesse“ (1992 als Taschenbuch bei Rowohlt neu erschienen) sind Klassiker und auch heute noch unbedingt lesenswert. Das gilt u.a. auch für ihre Bücher „Unter die Haut“ und „Süchtig nach Leben“ sowie das zuletzt erschienene und von Tita do Rêgo Silva wunderbar illustrierte Künstlerbuch „Kindheit“.

Peggy Parnass im Schauspielhaus: „Ich hab so viele Fragen“ in der Reihe „FAQ-Room“, 23.3., 20 Uhr, Karten zu 13,-/7,50 Euro unter Tel. 248713.

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