Hamburg. Die Rolle des Sehenden spielt er perfekt. Sicheren Schrittes läuft Saliya Kahawatte durch das Foyer des Renaissance Hotels. Ohne ins Leere zu greifen, begrüßt er die Hotelmitarbeiterin mit Handschlag. Im Gespräch schaut er seinem Gegenüber zielgerichtet in die Augen. Dass der 47-Jährige fast blind ist, würde niemandem auffallen, dem er begegnet. Und so fiel die Sehbehinderung auch seinen Chefs in der Spitzengastronomie nicht auf – 15 Jahre lang.
Der Sohn einer Deutschen und eines Singhalesen (Sri Lanka) verschwieg seinen Arbeitgebern, dass er nur „wie durch eine dicke Milchglasscheibe“ sehen kann, nur Schemen und Farbflächen wahrnimmt. Und doch arbeitete sich Kahawatte so bis zum Restaurantleiter hoch. Bis sein Leben auf Lügen schließlich in sich zusammenbrach.
Die unglaubliche Geschichte des Hamburgers ist ab kommendem Donnerstag als Kinofilm „Mein Blind Date mit dem Leben“ (Regie: Marc Rothemund) zu sehen. Darin wird Kahawatte von Kostja Ullmann gespielt. Kahawatte stand dem Hamburger Schauspieler bei der Vorbereitung auf seine Rolle als Berater zur Seite. Mit einer Simulationsbrille zeigte er Ullmann, wie er die Welt mit einem Sehvermögen von nur fünf Prozent sieht. „Wir sind durch Supermärkte und den Hauptbahnhof gelaufen und haben in einem Fünf-Sterne-Hotel hinter der Bar trainiert“, erzählt Kahawatte im Gespräch mit dem Abendblatt.
Kellner filetierte Seezunge, servierte Cocktails
Im Film ist der junge Kahawatte als Auszubildender in einem Münchner Luxushotel zu sehen. Im wahren Leben hatte der gebürtige Sachse seine Premiere auf dem Fünf-Sterne-Parkett im Renaissance Hotel im Hanseviertel. Als Stations- und später Bankettkellner filetierte er hier etwa Seezunge, deckte Menüs ein und servierte Cocktails.
Damit das gelang, musste er mit einigen Tricksereien arbeiten. „Wenn ein Sinn wegfällt, werden die anderen Sinne automatisch geschärft“, sagt der 47-Jährige. „In der Gastronomie lässt sich haptisch sehr viel machen. Eine Seezunge hat Gräten. Man muss nur das Messer an der Mittelgräte entlangführen.“ Wenn das Fühlen ihn nicht weiterbrachte, half ihm sein Gehör. Am Klang lernte Kahawatte zu unterscheiden, ob ein Glas sauber oder schon benutzt ist. Mit seinem Geruch erkannte er, ob er eine Zitrone oder eine Limette schneidet.
Zu den Tricks kam ein hohes Maß an Disziplin. „Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich mit der regulären Arbeitszeit nicht hinkomme“, sagt Kahawatte. Und so lernte er abends nach der Arbeit die Weinkarte auswendig, die ihm seine Freundin vorlas. Morgens vor der Arbeit, versteckt vor den Augen seiner Kollegen, arrangierte er Gläser und Teller so, dass er sie später am Tag wiederfand. Eingeweihte hatte er so gut wie keine. „Ich war sehr misstrauisch“, sagt Kahawatte. „Ich wusste, wenn jemand von meiner Sehbehinderung erfährt, komme ich in der Fünf-Sterne-Hotellerie nicht weiter.“
Als Teenager verliert Kahwatte sein Sehvermögen
Diesen Ehrgeiz machte sich Kahawatte schon zunutze, als er vor 32 Jahren durch eine Netzhautablösung fast über Nacht 80 Prozent seines Sehvermögens verlor. Nach der schweren Diagnose sollte der damals 15-Jährige auf eine Blindenschule. Aber das wollte der ambitionierte Junge nicht. Trotz der schweren Einschränkung machte er mit Unterstützung seiner Mutter und seiner Schwester Abitur. Darauf sollte eine Ausbildung in der Hotelerie folgen. Doch beim Arbeitsamt riet man dem jungen Mann mit der Sehbehinderung zu einem Job ohne Stress und Verantwortung. Allen Zweifeln zum Trotz bewarb er sich in der Hotelbranche – und kassierte doch nur Absagen. „Also habe ich beschlossen, die Behinderung zu verheimlichen“, sagt er.
Mit Eintritt in die Spitzengastronomie wechselte Kahawatte immer wieder den Arbeitsplatz. „Um nicht aufzufliegen“, sagt er. Mit dieser Taktik legte er eine beachtliche Karriere hin. Im Alter von 33 Jahren jedoch – er war mittlerweile Restaurantleiter in einem bekannten Hamburger Gourmetlokal – brach dann das Gerüst aus Lügen in sich zusammen. Was folgte, waren Drogen, Alkoholsucht, sechs Selbstmordversuche und schließlich die geschlossene Psychiatrie. „Die Zeit war nicht gerade angenehm“, sagt Kahawatte rückblickend. Doch wäre es nicht sein Leben, wenn er sich nicht auf einen neuen Weg besonnen hätte. „Ich habe gemerkt, dass ich meinen Lebensentwurf kritisch überprüfen sollte“, sagt Kahawatte. Ab diesem Zeitpunkt stand er zu seiner Sehbehinderung.
Kahawatte hat eine Stiftung gegründet
Auch wenn es nach dem Zusammenbruch noch einige Zeit dauern sollte, schlug Kahawatte schließlich eine ganz neue Karriere ein. 2009 verfasste er ein Buch über sein Leben. „Mein Ansatz war, wie ein Vogel rückwärts über mein Leben zu fliegen, um es danach vorwärts gerichtet leben zu können“, sagt er. Heute ist er Unternehmenscoach, er hält Vorträge, hat ein Kochbuch geschrieben, vertreibt Tee und Gewürze und gibt Kochkurse. Gerade hat er eine Stiftung gegründet, die sich für die Integration von sehbehinderten Menschen einsetzt.
Den Film sieht Kahawatte als Ermutigung für andere Menschen. Trotz zahlreicher Rückschläge habe er die körperliche Herausforderung in seinem Leben angenommen, sagt er. „Ich bin bestimmt behindert, aber ich habe auch Fähigkeiten. Das ist eine grundsätzliche Haltungsfrage.“ Und so ist eine dieser Fähigkeiten des Saliya Kahawatte, den Sehenden perfekt zu spielen. „Das ist die Rolle meines Lebens.“
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