Neues Buch

Die Geschichten hinter den Zetteln an Ampeln und Bäumen

| Lesedauer: 4 Minuten
Antonia Thiele
An Laternen- und
Ampelmasten buhlen unendlich viele Zettel um die Aufmerksamkeit der Passanten. Und ständig
kommen neue dazu – und verdecken die älteren

An Laternen- und Ampelmasten buhlen unendlich viele Zettel um die Aufmerksamkeit der Passanten. Und ständig kommen neue dazu – und verdecken die älteren

Foto: Michael Rauhe / HA

Wenn „die Stadt spricht“. Eine Hamburger Journalistin hat ein Buch über Aushänge an Ampeln, Bäumen und Laternen geschrieben.

Hamburg.  Der Norddeutsche als hanseatisch verschlossener Mensch gibt freiwillig nicht viel von sich preis, könnte man meinen. Abgesehen natürlich von Nacktbildern und politischen Meinungen auf Facebook und Twitter, aber das ist etwas anderes. Für die ganz konkreten, persönlichen Anliegen eignen sich soziale Medien dann offenbar doch nicht. Kleine, analoge Hinweise darauf, was hinter (und vor) den Türen der Bewohner der Heimatstadt vorgeht, findet man eher auf Spaziergängen durch die Straßen.

An Bäumen, Ampeln und Gartenzäunen hängen handgeschriebene Zettel: Nachrichten, geschrieben von Wütenden, Verzweifelten und manchmal auch von Glücklichen. Zum Teil ist der Einblick in das Leben der anderen überraschend deutlich. Eine Frau ohne Schulden wird gesucht („Schulden habe ich selbst“) oder der Fahrraddieb beschimpft (an der Stelle, wo das Rad abgestellt war). Bemerkenswert, aber nur ein kurzer Blick hinter die Tür.

Der Hamburger Journalistin Frauke Lüpke-Narberhaus reichte das nicht. Sie wollte wissen, welche Geschichten tatsächlich hinter Flüchen, Bitten und Belehrungen stecken. Die Redaktionsleiterin des „Spiegel Online“-Jugendportals „Bento“ hat für ihr Buch „Herz verloren — Hund gefunden“ mit Zettelschreibern gesprochen und ihre Geschichten aufgeschrieben. Die Nachrichten, meist offen und anonym zugleich, nennt sie „Schätze“, sie sind für sie ein Zeichen dafür, dass „die Stadt spricht“.

Blog der Autorin lieferte die Vorlage für das Buch

Die Fragen, die sich Frauke Lüpke-Narberhaus gestellt hat, kommen jedem bekannt vor, der schon rätselnd an der Ampel oder vor einem Baum stehengeblieben ist. Hat sich die „hessische Perle“ bei Jonas gemeldet? Und was ist passiert, damit eine junge Frau öffentlich die Frage stellt: „Mit wem muss man eigentlich schlafen, um in dieser Stadt eine Wohnung zu bekommen?“ Nicht, dass sie unberechtigt wäre, zumindest nicht in Hamburg.

Frauke Lüpke-Narberhaus ist Autorin des 2013 entstandenen Blogs „Zettelgold“, der als Vorlage für das im Piper-Verlag erschienene Buch diente. „Die vielen Zettel in der Stadt erzählen direkt und ehrlich, was Menschen bewegt. Deswegen interessieren sich auch so viele dafür: Ich habe an Ampeln mehrmals beobachtet, wie Paare sich gegenseitig Zettel vorlasen und darüber sprachen. Daher wusste ich: Wenn ich die Geschichten hinter den Aushängen recherchiere, werden sich viele freuen“, sagt sie.

Nicht nur Leser freuen sich, auch viele Zettelschreiber erzählten der Autorin bereitwillig ihre Geschichten. Die Street-Art-Künstlerin „Barbara“, aktive Zettelschreiberin, aber stets anonym, ließ sich zu einem Interview per Chat hinreißen und erzählte die Geschichte ihres ersten Zettels, einer politischen Botschaft in Form einer lachenden Sonne, die sie über ein an die Wand geschmiertes Hakenkreuz klebte.

„Jede Recherche hat mich überrascht. Und jeder Zettel erzählt eine andere Geschichte, die aus jeweils ganz eigenen Gründen erzählenswert ist. Deswegen mag ich sie alle“, sagt die Autorin. Die des Cafébesitzers aus Hitzacker, der Senioren zum Kaffee einlädt, und die des Warnemünder Geschäftsinhabers, der seine Nazipostkarten verteidigt. Nordseeinselbewohner halten offenbar nichts von geregelten Ladenöffnungszeiten („Auf ist, wenn auf ist“), in Osnabrück gibt es Menschen mit Schulden, die die Rettung darin sehen, sich von einer Frau aushalten zu lassen, aber auch solche, die bereitwillig ein kostenloses Lächeln auf Papier verschenken.

Einen lesenswerten Zettel zu schreiben ist eine Kunst, auch das erfährt der Leser im Buch. Die Autorin hat mit dem Creative Director der Werbeagentur Scholz & Friends über den perfekten Zettel gesprochen. Wer sich die Anleitung zu Herzen nimmt (etwa: kein Foto, Geld anbieten, bloß nicht sich selbst in den Vordergrund spielen), könnte es möglicherweise in den nächsten Blogeintrag schaffen.

Manche Zettelschreiber teilten gern ihr Happy-End mit der Autorin. Wie Dennis, der seinen Wal suchte. Ein Bild, das ihm seine Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte, das er aber beim Umzug kurz auf der Straße stehen ließ. Der Wal war schnell weg, also Zettel in Eimsbüttel und in der U-Bahn aufgehängt, „walgroßen Dank“ versprochen. Das Versprechen zahlte sich aus: Eine verschämte Nachbarin meldete sich, der Wal hängt wieder in Dennis’ Wohnung.

Anderen Zettelschreibern blieb das große Glück verwehrt. Von der hessischen Perle hat Jonas auch nach 600 aufgehängten Zetteln nichts gehört.

Frauke Lüpke-Narberhaus: „Herz verloren – Hund gefunden. Zettel und ihre Geschichten“,8,99 Euro im Piper-Verlag

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