Inklusion

Der Junge, den keine Hamburger Schule will

| Lesedauer: 24 Minuten
Jan Haarmeyer
Max mit seinen Eltern Jürgen und Maria. Der Zehnjährige wird seit sechs Monaten nicht beschult

Max mit seinen Eltern Jürgen und Maria. Der Zehnjährige wird seit sechs Monaten nicht beschult

Foto: Marcelo Hernandez

Das Konzept der Inklusion – gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung – stößt bei dem zehnjährigen Max an seine Grenzen.

Max, 10, braucht nur über die Straße zu gehen, dann ist er in der Schule. Das gelb geklinkerte Gebäude liegt genau gegenüber der Wohnung seiner Eltern mitten in Eimsbüttel. In unmittelbarer Nachbarschaft gibt es weitere Schulen, auf die Max gehen könnte. Allesamt zu Fuß mühelos erreichbar für den lebhaften Jungen. Der Stadtteil ist sozusagen randvoll mit Schulen.

Aber Max geht nicht zur Schule. Es gibt momentan keine, die bereit ist, ihn zu unterrichten. Nicht in Eimsbüttel, nicht in Altona. Und auch nicht außerhalb Hamburgs. Max ist unbeschulbar.

Dabei steht in Artikel 13 des Hamburgischen Schulgesetzes: „Schülerinnen und Schüler von der Vorschulklasse bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres haben Anspruch auf eine umfassende Bildung und Betreuung in der Zeit von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr an jedem Schultag.“ Eindeutiger geht es nicht.

Für Max aber gilt das nicht. Kinder wie Max gibt es einige in der Stadt. Laut Schulbehörde sind es rund 400 Schüler, für die in Hamburg derzeit kleine Lerngruppen vorgehalten werden. Etwa 50 seien auch nach kurzer Zeit nicht wieder in ihre Regelklasse integrierbar.

5924 Schüler benötigen „sonderpädagogischem Förderbedarf“

Weitaus größer ist die Zahl der Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ in den Bereichen Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung – sogenannte LSE-Kinder. Aktuell sind es 5924 Schüler, vor vier Jahren waren es noch 4865. Diese Zahlen stehen für die Wucht des Problems. Auch wenn Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagt, dass nur ein Drittel der gemeldeten LSE-Kinder früher tatsächlich auf die Sonderschule geschickt worden sei. „Nicht die Kinder, sondern der Blick auf die Kinder hat sich verändert“, sagt Rabe.

Der genaue Blick auf Max aber zeigt, dass auch die Inklusion an ihre Grenzen stößt. Und wenn das so ist, muss die Frage gestellt werden, ob sie immer und für jedes Kind auch der einzig richtige Weg sein kann.

Denn Max hat das E aus LSE sozusagen immer bei sich. Und ist damit einer von rund 1500 Schülern in Hamburg in den Jahrgangsstufen eins bis zehn. Das sind die schwierigen Fälle, sie haben deshalb oft einen Schulbegleiter an ihrer Seite (siehe Info-Text).

Diese Kinder wurden irgendwann mal tief in der Seele verletzt. Ihre Wunden sieht man nicht. Sie können laut und fröhlich sein und vielleicht gleichzeitig nach innen bluten. Und dann jeden zur Verzweiflung treiben.

Was es bedeutet, wenn Eltern gesagt bekommen, dass ihr Kind die Schule verlassen muss, weil es für andere nicht zumutbar sei, mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter gemeinsam unterrichtet zu werden, ist nur schwer vorstellbar. Die Eltern von Max, Jürgen und Maria (Namen geändert), haben sich entschlossen, darüber zu reden.

Erst war Max sogar Klassensprecher, dann häuften sich die Probleme

Sie wollen ihre Geschichte erzählen. Denn sie wollen, dass sich etwas ändert. Sie wissen, dass es eine Schule für Max gibt. Keine Regelschule mit mehr als 20 Kindern in einem Klassenzimmer voller lauter, tobender Schüler. Sondern einen überschaubaren Raum, in dem es möglich ist, dass ihr Sohn zusammen mit wenigen anderen Kindern von erfahrenen Pädagogen unterrichtet wird. Eine Schule mit kleinen Klassen.

Das Problem: Solch eine Schule ist in Hamburg nicht vorgesehen. Und genau genommen verstieße sie auch gegen das, was sich diese Stadt vor einigen Jahren zum Ziel gesetzt hat: die Inklusion. Die schrittweise Abschaffung der Sonderschulen also und das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung. Ein Ort, an dem alle Kinder etwas von­einander lernen können und niemand mehr ausgeschlossen wird. Und gleich am Eingang über diesen Schulen könnte stehen: Jeder ist anders – und das ist auch gut so.

Max ist ziemlich anders.

Max wird seit sechs Monaten nicht mehr beschult. Seine Eltern sagen, er ist ein ADHS-Traumakind. Ob er wirklich unter der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung leidet, und wenn ja, wie stark, darüber gehen auch die Meinungen der behandelnden Therapeuten auseinander.

Sein Vater Jürgen sagt: „Es gibt in Hamburg keine kleinen Klassen für Integrativ-Kinder, dabei werden diese dringend benötigt. Die Inklusion in Hamburg ist aus meiner Sicht gescheitert. Es gibt eine Schulpflicht, aber mein Sohn wird nicht beschult. Er ist als sogenanntes I-Kind in einer großen Gruppe überfordert. Alles Neue bringt ihn fürchterlich durcheinander. Ihm fehlt die Zentrierung, er fällt schnell aus dem Gleichgewicht und kann nicht in großen Gruppen unterrichtet werden. Aber genau diese Kinder sollen inkludiert werden.“ Die Folge, sagt Jürgen: „Max ist ständig überfordert.“

Der Junge reagiert auf diese permanente Überforderung mit Wut und Gewaltausbrüchen.

Zuerst wird Max im September 2013 von der Schule Kielortallee verwiesen. Da ist er in der 2. Klasse. Anfangs war er noch Klassensprecher, beliebt und „bekannt wie ein bunter Hund“, sagt Jürgen. Aber auch laut, unruhig, verhaltensauffällig. Die Klagen häufen sich. Max und sein Verhalten wird immer mehr zum Thema in der Klasse. Andere Eltern beschweren sich. Schließlich überwiegt die Fraktion derer, die der Meinung sind, es müsse einen besseren Ort für Max zum Lernen geben als ausgerechnet die Klasse ihrer Kinder hier in Eimsbüttel.

160 Länder haben die Uno-Behindertenrechtskonvention unterschrieben

Die Inklusion ist ein Menschenrecht. In der Uno-Behindertenrechtskonvention 2006 festgelegt und von Deutschland 2009 ratifiziert. 160 Länder haben den völkerrechtlichen Vertrag, der rund 650 Millionen Menschen betrifft, unterschrieben. Keine andere Konvention wurde so schnell von so vielen Staaten ratifiziert.

Inklusion ist auch eine große gesellschaftliche Aufgabe. Ob sie gelingt, hängt von allen ab. Und oft trifft ein einfacher und für viele nachvollziehbarer Rechtsanspruch auf eine komplizierte Wirklichkeit.

Nach zahlreichen Auseinandersetzungen teilt der Schulleiter allen Eltern in einem Brief mit, dass die Situation „nicht mehr positiv aufzufangen war“. Er schreibt: „Es ist richtig: Die Inklusion ist im Fall Max gescheitert. Das sind für alle schmerzhafte Erfahrungen. Aus meiner Sicht war die Schule jedoch am Ende des Machbaren angelangt.“ Und fügt hinzu: „Dieses Schreiben ist mit den Eltern von Max abgestimmt.“ Jürgen sagt: „Das war eine glatte Falschaussage.“

Diese Lüge, so empfinden es die Eltern im Nachhinein, ist für sie der Beginn einer Kette von Demütigungen und Bevormundungen – und für Max der Anfang vieler schmerzlicher Ausschlüsse und Bindungsverluste.

Sie lassen den Satz aus dem Elternbrief streichen. Das geht. Es ändert aber nichts daran, dass Max von nun an ein Kind ist, das bereits in der 2. Klasse von der Schule geflogen ist. Damit müssen die Eltern fertig werden. Wie geht man damit um? „Wir waren geschockt und wütend, verletzt und allein, traurig und enttäuscht“, sagen sie.

Hinter ihrem Rücken wird getuschelt und telefoniert

Jürgen ist Musiker und Pädagoge, Maria ist Schauspielerin. Sie haben eine fröhliche Grundstimmung. Und nichts zu verbergen. „Wir müssen uns ständig dafür rechtfertigen“, sagen sie, „dass wir in der Erziehung von Max ja wohl gravierende Fehler gemacht haben.“ Sonst wäre der Junge ja nicht so, sagen die Lehrer. Und andere Eltern. Hinter ihrem Rücken wird getuschelt und telefoniert. Anstatt Hilfe oder Anteilnahme erfahren sie Ausgrenzung und hören Sätze, die sie verletzen: „Vielleicht solltet ihr eurem Sohn mal die Grenzen aufzeigen.“ Und auch: „Euer Sohn gehört doch auf eine Sonderschule.“

Zu dem Gefühl, sich permanent erklären zu müssen, kommt die eigene Hilflosigkeit. „Was macht man, wenn einen niemand versteht?“ Sie sind zudem völlig überfordert, wenn es um ihre Rechte geht. „Heute wissen wir, dass die erste zehntägige Suspendierung unseres Sohnes von der Schule rechtswidrig war.“ Und gleichzeitig suchen sie rastlos nach den Ursachen. „Warum ist unser Kind so?“

Max ist das zweite Kind von Jürgen und Maria. Er hat noch einen drei Jahre älteren Bruder. Max wurde am 30. Januar 2006 in der Universitätsklinik Eppendorf (UKE) geboren. „Eine schwere Geburt“, sagt die Mutter. Wegen Komplikationen entscheidet der Arzt, das Baby per Kaiserschnitt zu holen. Als Säugling, sagen die Eltern, sei Max „ein Schreikind“ gewesen. Unruhig, hyperaktiv, grenzenlos. Mit 15 Monaten kommt er in die Krippe.

15 Prozent seiner Haut sind verbrannt

Zwei Monate später, im August 2007, zieht Max zu Hause auf dem Küchentisch an einem Teebeutel, den er gerade so mit seinen kleinen Fingern erreichen kann. Die Tasse kippt um, und das kochend heiße Wasser läuft über Kopf und Oberkörper des kleinen Jungen. Maria erleidet einen Schock. Max zieht sich Verbrühungen 3. Grades zu, 15 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Er kommt ins Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, liegt dort eine Woche im künstlichen Koma und danach drei Wochen auf der Intensivstation.

Zwei Jahre lang pflegen die Eltern täglich die verbrannten Hautpartien, legen Kompressionsverbände an. Sie kümmern sich intensiv um die äußerlichen Narben. Die inneren, das wissen sie heute, sind viel schwerer zu heilen.

Max verändert sich. Er wird im Kindergarten gegen andere Kinder übergriffig. Würgt seinen Freund, schubst Kinder vom Gerüst, bekommt Wutanfälle und ist dann „im Film“. Geht mit einem Obstmesser auf andere Kinder los und verkleidet sich täglich. Gerne als Arzt oder Feuerwehrmann.

„Wir wurden als Familie zunehmend isoliert“, sagt Jürgen. Ein schleichender und leiser Prozess sei das gewesen, der immer noch wehtut. „Freunde wandten sich ab, weil sie ihre Kinder nicht mehr mit Max spielen lassen wollten.“ Der jugendpsychiatrische Dienst schreibt in einer Stellungnahme über Max von einer „Störung des Sozialverhaltens mit aufsässigem Verhalten“ und „speziellem Förderbedarf wegen schwerer Schädigung“.

Maria und Jürgen konsultieren Kinderärzte und Psychologen. Sie gehen mit Max zum Kinesiologen und zur Ergotherapie, zur Logopädie und zur Verhaltenstherapie. Zum Trauma-Therapeuten und zu Paulinchen, dem Verein für brandverletzte Kinder. Und schließlich auch, auf Druck des Jugendamtes, fünf Wochen stationär in eine Kinderpsychiatrie. „Dort wurden wir praktisch zu einer Therapie mit Medikamenten gezwungen“, sagen sie. „Entweder Ihr Sohn nimmt ab morgen Me­thyl­phenidat oder Sie ziehen hier aus“, habe der Psychiater gesagt. Gebracht habe der Aufenthalt nichts. Außer dem Hinweis, dass Max ein Anrecht auf Pflegestufe 1 hat.

Mit acht war Max Hamburgs bester Schwimmer seines Jahrgangs

Sie gehen einmal im Monat zur Erziehungsberatung und lassen über Max auf Empfehlung eines Psychotherapeuten ein astrologisches Gutachten erstellen. Das Ergebnis lautet: Max sei im Prinzip nicht erziehbar. Er sei ein ex­tremer Einzelgänger, der sein Umfeld an die Grenzen bringt, einen individuellen Weg gehen muss und Menschen verschreckt. Ein Junge, der aber auch mit sehr vielen Stärken ausgestattet ist. „Kein Mainstreamkind.“

Max ist sehr sportlich. Er spielt Fußball, geht zum Judo, macht Taek­wondo. Und er ist ein hervorragender Schwimmer. Wochenlang gehen Vater und Sohn regelmäßig zum Schwimmen, im Kaifu-Bad begeistert Max mit akrobatischen Sprüngen vom Zehner. Mit acht Jahren ist er Jahrgangsbester in Hamburg über sämtliche Lagen – Brust, Rücken, Kraul, Delfin. Er bekommt sogar eine Einladung zum Olympiastützpunkt in Dulsberg. Wenig später hat er keine Lust mehr auf das Leistungsschwimmen.

Schon in der ersten Klasse braucht Max einen Schulbegleiter. „Der junge Mann war toll“, sagen seine Eltern, „er hatte selbst auch Brandverletzungen. Die beiden haben sich sehr gut verstanden.“ Der Student bleibt aber nur bis zu den Herbstferien an der Seite von Max.

Die Eltern sagen, sie mussten sich anschließend selbst um einen neuen Begleiter kümmern. Jürgen ist immer noch fassungslos: „Schule und Jugendamt haben uns die Suche überlassen. Nach dem Motto: Wenn Sie wollen, dass Ihr Sohn beschult wird, dann liegt das bei Ihnen.“ Die Eltern suchen unter Hochdruck einen neuen Schulbegleiter, doch die nächsten beiden sind laut Jürgen „ein Flop“. Ohne großes Einfühlungsvermögen und nicht richtig ausgebildet. Der Anfang vom Ende.

Max entdeckt das Angeln als neues, intensives Hobby

Nach der ersten Exklusion von der Schule Kielortallee kommt Max im Dezember 2013 in eine temporäre Lerngruppe in Schnelsen: PEPE. Das Kooperationsprojekt zwischen Schulen und Jugendamt, dem freien Träger Rauhes Haus und dem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) steht für die Pädagogische Entwicklungsförderung Primarschüler aus Eimsbüttel. Es hilft Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf, die sonst wohl in ihrer Grundschulklasse scheitern würden. Das Ziel: Die Kinder sollen so stabilisiert werden, dass sie wieder in ihre Klasse zurückkehren können.

Vier bis sechs Kinder werden in Schnelsen ständig von zwei erfahrenen Lehrkräften unterrichtet. Max hat eine gute Zeit. Er ist motiviert und bleibt nahezu unauffällig. „Die Pädagogen haben gesagt, man müsse Max nur erkennen, dann läuft auch alles“, sagt Jürgen.

Max geht einmal in der Woche zur Psychotherapie und entdeckt das Angeln als neues, intensives Hobby. Er geht fast jeden Tag angeln, was die Eltern zeitweise entlastet. „Max angelt in den Tiefen seiner Seele“, sagt ein befreundeter Therapeut.

Im November 2014 wird die Re-Integration in eine Regelschule vorbereitet. Max geht zunehmend „auf Abwehrhaltung“, sagen die Eltern. Der Versuch der Wiedereinschulung in der Theodor-Haubach-Schule in Altona wird wegen organisatorischer Mängel und wechselnder Schulbegleiter aufgrund von Krankheiten – der erste Schulbegleiter kommt erst nach fünf Wochen – ziemlich erschwert.

Kleine Lerngruppen könnten die Rettung sein, doch die sind keine Dauerlösung

Trotzdem fühlt sich Max dort anfangs sehr wohl. Aus dem Protokoll des Elterngesprächs vom 15. Juni geht hervor, dass Max motiviert und gern in die Schule geht. „Er traut sich mehr zu.“ Im Sport „zeigt er Fairness, hält Regeln ein und ist schon weiter als andere“. Aber Dinge, „die er nicht will, macht er nicht“. Und es gibt noch Situationen, „in denen die Lehrer und auch der Schulbegleiter keinen Kontakt zu Max finden“. Dann, so heißt es, „benötigen die Lehrer die Hilfe der Eltern“.

Sieben Tage später ist alles anders. Max widersetzt sich in der zweiten Stunde allen Anordnungen. Er verlässt die Klasse, läuft erregt durch das Schulgebäude, besorgt sich in der Cafeteria zwei Gabeln und bedroht drei Erwachsene. Er schreit herum, dass er die „verfickte Schule“ nie wieder besuchen werde und sich wünsche, wieder in einer kleinen Klasse sein zu dürfen. Erst nach einem Telefonat im Schulleiterbüro mit einem bürgernahen Polizeibeamten lässt er sich beruhigen.

Als die Schule Anzeige wegen des Verdachts von Gewalt in der Familie erstattet, reagieren die Eltern mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde. „Der Vorwurf ist demütigend“, schreiben sie. „Es geht hierbei um den Straftatbestand der schweren Verleumdung.“

Im November findet der Schulleiter bei Max eine Waffe. Eine Softairwaffe seines älteren Bruders, wie sich dann herausstellt, die dieser für einen Quiz-Film auf YouTube benutzt hat. Zuvor gab es einen heftigen Konflikt zwischen Max und einer Sonderpädagogin in den ersten beiden Schulstunden. „Danach war Max ,im Film‘“, sagt sein Vater. Der Zehnjährige ist nicht mehr ansprechbar. Er schlägt, beschimpft und bedroht seinen Klassenlehrer und die Mitschüler. Zur Strafe darf Max nicht am Sportunterricht, seinem Lieblingsfach, teilnehmen. Schulleiter und Schulbegleiter halten ihn davon ab, in die Turnhalle zu gehen. Der Schulleiter durchsucht draußen die Tasche von Max und findet die Waffe. Er informiert Polizei und Eltern und schreibt eine Gewaltmeldung über den Vorfall. Jürgen holt seinen Sohn, zum wiederholten Mal, von der Schule ab.

Der Schlüssel für schwierige Schüler könnten kleine Lerngruppen sein

Das vorläufige Ende der Schulkarriere von Max macht auch Holger Requardt aus dem Fachamt Jugend- und Familienhilfe im Bezirksamt Eimsbüttel nachdenklich. Er weiß, dass der Schlüssel für schwierige Schüler kleine Lerngruppen sein können. So wie ­PEPE. „Als das Projekt 2007 gestartet wurde, war das eindeutige Ziel die Re-Integration der Kinder in die Regelschule“, sagt Requardt. „Wir wussten, dass das schwierig ist, aber wir dachten, dass wir das hinkriegen.“

In Hamburg haben sich längst sehr viele solcher temporärer Lerngruppen gebildet. Quasi als letzte Rettung für die Schulen, wenn die Inklusion wie bei Max auch offiziell gescheitert ist. Rund 400 Schüler werden in sogenannten Nebenklassen mehr oder weniger beschult. Sie sind über die Stadt verteilt und tragen Namen wie „Rückenwind“, „Pontonschule“, „Come back“ oder „Brückenklasse“. Namen, die darüber hinwegtäuschen, dass hier Störfälle die Regel sind. Und nicht die Ausnahme.

Holger Requardt weiß, welche hervorragende Arbeit die Mitarbeiter bei PEPE leisten. Dort, wo auch Max seine bisher einzige gute Schulzeit gehabt hat. Er weiß auch, dass die Kosten pro Kind bei PEPE rund 20.000 Euro im Jahr betragen. Eine Unterbringung außerhalb der Stadt, die Max’ Eltern ebenfalls in Betracht ziehen müssen, weil eine Inklusion ihres Sohnes in einer Hamburger Regelschule nicht möglich ist, ist dreimal so teuer.

Holger Requardt will die Dinge gar nicht schönreden. „Wenn Kinder sich bei PEPE wohlfühlen, den Wechsel aber nicht hinbekommen, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, ob man die temporären Angebote weiterentwickeln muss, bei denen die Kinder in ihrer Stammklasse bleiben können.“

Max kann sich höchstens 15 Minuten konzentrieren

Maria und Jürgen aber kämpfen für eine kleine Klasse, nicht temporär, sondern unbefristet. Einen geschützten Raum für Max, der seit fünf Wochen in Absprache mit den Ärzten kein Methylphenidat mehr nimmt und zurzeit anderthalb Stunden pro Tag im ReBBZ Altona beschult wird. Und von seinen Lehrerinnen als „freundlich und zugewandt“ beschrieben wird. Ein Junge, der aber auch nur selten in der Lage sei, sich an Verabredungen zu halten. „Er versucht fast durchgängig zu verhandeln und gesetzte Grenzen infrage zu stellen.“ Max könne sich höchstens 15 Minuten konzentrieren, mache aber bei Interesse für das Thema wie Erdkunde und Fußball motiviert mit.

Ein oft liebenswerter Kerl mit teilweise überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten, der aber in anderen Bereichen, so die Eltern, wie ein Kleinstkind reagiert. Pädagogen, die Max kennen, glauben, dass er in einer kleinen Gruppe mit intensiver Betreuung zurechtkommt. Und damit eine Chance hat, irgendwann vielleicht sein seelisches Gleichgewicht zu finden.

Eine solche Beschulung würde es auch den Eltern gestatten, wieder verlässlich ihrem Beruf nachzugehen und die Gefährdung ihrer finanziellen Existenz abzuwenden. Nicht ständig auf Abruf zu sein. Und wieder Boden unter die Füße zu kriegen.

Maria hat eine Therapie hinter sich, sie hatte Panikattacken und Nervenzusammenbrüche. Jürgen war wegen eines Burn-outs und vollständiger Überlastung acht Monate krankgeschrieben. Auch der ältere Bruder, so die Eltern, sei zunehmend depressiv geworden. „Diese Zeit war manchmal so schlimm, dass man nicht mehr von einem Leben sprechen konnte.“ Ihre einst so stabile Welt ist ins Wanken geraten. „Unser Familiensystem ist gefährdet. Wir haben bei den jahrelangen Auseinandersetzungen immer wieder verzweifelt Menschen gesucht, die uns zuhören, verstehen und vielleicht sogar helfen können.“

So jemanden wie Angela Ehlers vom Referat Inklusion der Schulbehörde. „Bei Max haben sich von Anfang an die schulischen Anforderungen, die Reaktionen auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes und die Vorstellungen der Eltern nicht gedeckt“, sagt die Ombudsfrau. Was ist schiefgelaufen? „Vielleicht hätte Schule noch früher das Gespräch mit der Schulaufsicht und dem sozialen Dienst führen müssen.“ Andererseits wolle niemand „Kinder zu früh als problembelastet stigmatisieren“, wenn es vielleicht nicht nötig ist. Sie sagt, dass bei den Vorfällen wohl viele überfordert gewesen seien, nimmt aber auch die Eltern in die Pflicht: „Sie müssen eng mit der Schule zusammenarbeiten, auf aktuelle Schwierigkeiten achten, wenn das Kind morgens losgeht, und die Schule informieren.“

„Alle Kinder sollen nur noch funktionieren“, beklagt Max’ Vater

Sie beschreibt Max als „tollen Jungen mit vielen Fähigkeiten“, der hochsensibel sei und ständig viele Reize gleichzeitig aufnehme. „Was Max leistet, ist vergleichbar mit einem Hochleistungssportler, der nach kurzer Zeit völlig erschöpft ist und dann Erholungspausen braucht.“ Das Ziel für alle Kinder mit herausforderndem Verhalten müsse die Re-Integration in eine größere Regelklasse sein. „Dafür braucht man vorübergehend oft auch sehr kleine Lerngruppen mit mehreren Bezugspersonen.“ Daran arbeiten sie jetzt. Eine dauerhafte Beschulung von Max mit nur wenigen anderen, ebenfalls verhaltensauffälligen Kindern sei „pädagogisch fahrlässig“ und widerspreche allen Forschungsergebnissen. „Auch Max hat das Recht auf eine größere Gruppe Gleichaltriger, in der er soziale Orientierung findet.“

Jürgen aber geht es um das Recht auf Bildung. Und auch um das Bild der Andersartigkeit, das in dieser Gesellschaft nicht mehr vorhanden sei. „Alle Kinder sollen nur noch funktionieren.“ Er will eine Initiative gründen, weil viele Eltern mit ihren verhaltensauffälligen Kindern in ähnlichen Unglückslagen steckten. „Wir brauchen für diese Kinder eine ganz neue Schulform“, sagt er. „Denn in Förderschulen sind sozial-emotional behinderte Kinder nicht vorgesehen. Wir brauchen für diese Kinder kleine Klassen. Denn sie müssen in diesem Schulsystem etwas leisten, was sie gar nicht leisten können.“

Diese Geschichte beruht auf gemeinsamen Recherchen von Hamburger Abendblatt und Norddeutschem Rundfunk. Der Fall ist an diesem Sonnabend um 9.20 Uhr und um 11.20 Uhr auf NDR Info zu hören.

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