Hamburg. Analphabetismus ist ein Thema, über das oft schamvoll geschwiegen wird, und das doch allgegenwärtig ist. Er betrifft in Deutschland in seinen verschiedenen Ausprägungen etwa sieben Millionen Erwachsene und hat auch in das kulturelle Leben vielfach Eingang gefunden. Er spielt etwa eine gewichtige Rolle in „Ein Urteil in Stein“, einem packenden Roman der britischen Krimiautorin Ruth Rendell über zwei Freundinnen am Rande der bürgerlichen Gesellschaft, von Regisseur Claude Chabrol unter dem Titel „Biester“ kongenial verfilmt. Sich in der Welt zurechtfinden zu müssen, ohne lesen und schreiben zu können, ist auch ein Thema für die junge Regisseurin Anne Schneider.
Am Freitag hat ihre freie Adaption des Rendell/Chabrol-Stoffs als „Das Biest A“ am Lichthof-Theater Premiere. Schneider erzählt den Roman und seinen Krimiplot, angereichert mit dokumentarischem Material. „Wir versuchen, die Geschichte mit tatsächlichen Schicksalen zu verknüpfen, fragen danach, wie es ist, so zu leben. Man kann sich das kaum vorstellen, aber es sind viele Menschen betroffen“, erzählt Anne Schneider im Café unter den Linden. In der Vorbereitung mussten Gesprächspartner, die Analphabeten sind, erst einmal gefunden, Vertrauen musste aufgebaut werden. Das gelingt nicht jedem. Anne Schneider traut man das dafür nötige Gespür sofort zu.
Inszenieren, Kuratieren und Engagieren
Die 1980 in Göttingen geborene Regisseurin ist eine typische Theaternomadin, die ständig zwischen Hamburg und Berlin pendelt. In der Hauptstadt lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern. Mit Hamburg verbindet die gebürtige Niedersächsin bis heute vieles, auch weil ihr Vater hier lebt. Mit ihren Inszenierungen, für die sie jedes Mal mit formalen Anträgen Fördergelder eintreiben muss, ist sie genauso Teil der Berliner wie der Hamburger Freien Szene.
2012 hat sie nach zwei dort gezeigten Gastspielen die Leitung des „Kaltstart“-Festivals übernommen, das schon lange als eines der wichtigsten deutschen Festivals für den Theater- und Regienachwuchs gilt. Im vergangenen Jahr hat sie die „Kaltstart“-Leitung wiederum eingetauscht gegen die künstlerische Leitung des neuen Festivals „Hauptsache frei“, das nach seinem erfolgreichen Start 2015 in diesem April in die zweite Runde geht.
Anne Schneider ist damit so etwas wie eine Theaterfrau für alle Fälle. Das Inszenieren, Kuratieren, Engagieren in der notorisch prekären Freien Szene sind die Eckpfeiler ihrer Arbeit. Im Gespräch wirkt Schneider eher analytisch und besonnen als selbstverliebt wie so viele ihrer Zunft.
Ihr geht es darum, das Theater und die Freie Szene insgesamt voranzubringen – nicht nur sich selbst. Dass sie etwas mit Theater machen wollte, wusste sie seit Teenagertagen. Ihre Überlegungen mündeten schließlich in ein Studium der Theaterwissenschaften in Erlangen, eine vermeintlich provinzielle Schule. „Ich bin im Nachhinein sehr dankbar. Das ist eine sehr praxisorientierte Uni mit einer toll ausgestatteten Bühne, wo wir durch öffentliche Proben gelernt haben, konstruktiv mit Kritik umzugehen.“
„Ich begebe mich mit dem Team auf eine Art Entdeckungsreise“
Es folgten Regieassistenzen und erste Arbeiten am Staatstheater Nürnberg und an der Berliner Schaubühne, wo sie eng mit Thomas Ostermeier zusammenarbeitete und erste eigene Regiearbeiten zeigen konnte. Für „Das darf man nicht sagen“ von Hélène
Cixous erhielt sie 2010 eine Nominierung als beste Nachwuchsregisseurin in der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“. 2012 gewann sie mit „Schwesterherz“ den Publikumspreis beim Berliner 100-Grad-Festival.
Ihr Interesse ist immer auch ein Soziologisches. „Für mich ist das Theater ein Möglichkeitsraum, ein Ort, an dem Themenkomplexe und Fragestellungen beleuchtet werden können, die sonst im Alltag kaum vorkommen und denen ich hier intensiv nachgehen kann“, sagt Anne Schneider. „Ich begebe mich mit dem Team auf eine Art Entdeckungsreise. Und da ich der Meinung bin, dass diese Reise für alle Beteiligten, aber auch für die jeweiligen Zuschauerinnen und Zuschauer, unterschiedliche Resultate hervorbringt, braucht es eine offene Form.“ Häufig haben ihre Arbeiten damit eher den Charakter einer Installation. Das gilt auch für „Das Biest A“.
Auch in „Das Biest A“ scheut Anne Schneider nicht die Emotion
Schneider arbeitet mit voller Überzeugung unter den unwägbaren Bedingungen in der Freien Szene. Berlin habe Hamburg einiges voraus, findet sie. Dort habe man verstanden, dass die Freie Szene ein großes Potenzial habe, die Stadt kulturell attraktiv zu machen. In Hamburg brauche es dringend ein klares Bekenntnis zur hiesigen Freien Szene, die vollkommen unterfinanziert sei. Die aktuelle Lage will Schneider auch während des kommenden Festivals aufgreifen, das nicht nur ein Publikumsprogramm bietet, sondern auch Branchentreff ist und zu Diskussionen einlädt.
„Es war natürlich ein Geschenk, das Festival von Beginn an zu konzipieren“, erklärt sie. Anders als bei „Kaltstart“ hat die Leitung hier keine kuratierende Funktion; eine unabhängige Jury lädt die Wettbewerbsproduktionen ein. „Hauptsache Frei“ soll ein Festival werden, an dem die Künstler unbedingt teilnehmen wollen. Das ist Anne Schneiders Anspruch.
Aber nun stehen erst einmal Proben im Lichthof-Theater an. Und auch da verfolgt sie strikt ihren eigenen Stil. „Ich versuche, einen emotionalen Bezugsrahmen anhand der gezeigten Menschen, Figuren und Geschichten herzustellen, gleichzeitig aber auch über diesen hinauszuweisen.“ Ob ihr dies bei „Das Biest A“ gelungen ist, zeigt die Premiere des Stücks am heutigen Freitag.
„Das Biest A“ 26./27.2., dann 3. bis 5.3. jew. 20.15, Lichthof-Theater (Bus 3), Mendelssohnstraße 15, Karten 18,-/erm. 12,- Euro unter T. 85 50 08 40; www.lichthof-theater.de
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