Hamburg. Eigentlich wollte Sophia Lukasch nur mal etwas anderes machen. Nicht bloß immer Familien, Kinder und für die Werbung fotografieren, womit sie üblicherweise ihren Lebensunterhalt verdient, sondern einen anderen Dreh finden. Vielleicht ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit in die manchmal sehr oberflächliche Werbebranche bringen, ein bisschen weniger heile Welt. Irgendwas Plakatives, aber mit Tiefe. Witzig durfte es natürlich trotzdem sein. Warum nicht einen bizarren Kalender machen? Auf diese Idee kommt nicht jeder, Sophia Lukasch schon. Mit der Kalendergestaltung hatte die Fotografin zumindest Erfahrung – ihre Eltern bekommen jedes Jahr zu Weihnachten ein selbst gemachtes Exemplar von ihr und ihrer Schwester.
Am Ende dieser Überlegung steht nun zum zweiten Mal der Protestonaut, ein gesellschaftskritischer Jahreswegweiser mit irdischen Astronautenmotiven. Womit der Reiz der Bilder schon beschrieben ist. Denn die zwölf Monatsblätter erzielen ihre Wirkung durch den Kontrast von Raumfahrerkostüm in Alltagskulisse. „Dabei wollen wir gar nicht gegen etwas protestieren, wie der Name vielleicht nahelegt“, sagt die Wahlhamburgerin aus dem Allgäu. „Wir wollen zum Hinterfragen anregen, für etwas sein.“ Es soll nicht stumpf angeprangert werden. Vielmehr würden Denkanstöße geliefert. Themen wie die unterfinanzierte Infrastruktur, Armut oder die Überfischung der Meere werden ebenso behandelt wie die Pressefreiheit. Dabei wird der Betrachter mit einem inhaltlich passenden Foto und einem möglichst neutral formulierten Fakt in den jeweiligen Monat geschickt. Wer will, hat dann ordentlich Zeit zum Nachdenken. Wer nicht will, kann es auch lassen. Der Protestonaut ist gut aussehend und Grübelanleitung in einem.
Mit ihrem Mann, einem Journalisten, ist sie auf das Konzept gekommen. „Er hat die Themen ausgewählt und die Fakten recherchiert.“ Außerdem wollte das Ehepaar schon ewig ein gemeinsames Projekt starten. Da traf es sich fast gut, dass ihr Mann zu der Zeit arbeitslos war und einen Hingucker, einen optischen Widerhaken für seine Bewerbungsmappe brauchte. Die Idee mit dem Astronautenkostüm war geboren. „Wir haben uns den Anzug aus den USA schicken lassen. Schweineteuer, aber eine originalgetreue Replik der Apollo-13-Mission“, sagt die Fotografin. Fehlten nur noch geeignete Orte, um den Astronauten ins rechte Licht zu rücken.
Beim Thema Überfischung wurde das Ehepaar etwa in Hagenbecks Tropen-Aquarium fündig. „Die Tierpark-Leute waren sehr kooperativ und haben uns sofort unterstützt“, erzählt die 36-Jährige. Das Thema Armut wurde unter der Lombardsbrücke abgelichtet, einem Treffpunkt der von der Gesellschaft Verstoßenen, das Freihandelsabkommen TTIP zwischen Containern im Hafen. „Hamburg ist natürlich ein gutes Pflaster bei der Motivwahl“, sagt Sophia Lukasch. Abwechslungsreich, urban, voller Brüche.
Treffen mit Alexander Gerst
Die erste Reihe ihrer Protestonautenserie kam so gut an, dass Sophia Lukasch beispielsweise in der Millerntor Gallery ausstellen durfte, jener seltsam anmutenden Verschmelzung von Kunst und Fußballstadion beim FC St. Pauli. Erst im Oktober wurde die Fotografin zudem an die Universität Heidelberg geladen. Für die Tagung unter der Losung „We are all astronauts“ hatte das dortige Institut für Europäische Kunstgeschichte nicht nur aktuelle deutsche Raumfahrer um ihre Mitwirkung gebeten. Auch die Protestonaut-Schöpferin sollte kommen. „Das war natürlich skurril, plötzlich bei so einer Fachtagung aufzutauchen“, sagt sie. Passte aber auch wieder. Astronaut Alexander Gerst etwa wusste dort zu berichten, dass er nach seiner Zeit im All noch demütiger auf die Erde als schönes, aber verletzliches Gebilde blicke. Insofern sei der Astronaut ein universelles Symbol für den Schutz des Planeten, sagt Lukasch, zumal jeder von uns im Kostüm stecken könne.
„Wir wollen niemandem unsere Meinung aufs Auge drücken“, sagt die Fotografin. Oft seien Themen zu komplex, besäßen zu viele Schattierungen, um nur richtig oder falsch zu sein. „In der Lausitz zum Beispiel bestreitet niemand, dass die Braunkohleförderung Raubbau an der Landschaft ist. Gleichzeitig ernährt sie dort viele Menschen, brauchen wir das Zeug.“ Wichtiger sei deshalb, seine Meinung hin und wieder mit realen Fakten abzugleichen. Und wenn der Impuls, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, von einem merkwürdigen Astronauten zwischen Containerbergen ausgeht, umso besser.
Das Protestonaut-Projekt sei für die Frau, die schon für Helene Fischer fotografiert hat und in Eimsbüttel ein kleines Studio betreibt, jedenfalls eine Herzensangelegenheit, etwas, worauf man in der Rückschau stolz sein könne. „Ich glaube, das ist etwas, das bleibt“, sagt sie. Die Ideen gehen ihr zumindest nicht aus, Probleme und Konflikte gibt es noch für mehrere Folgekalender. So viel Arbeit, dass sie die für den Weihnachtskalender für ihre Eltern in diesem Jahr abgeben musste. „Da muss sich mal meine Schwester kümmern.“
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