Veranstaltung

Vorlesung und Feierabendbier in 30 Hamburger Kneipen

| Lesedauer: 6 Minuten
Nico Binde
Mitten in der Zielgruppe: Physiker Christian Sander spricht in der Bar Frachtraum über Zufälle und Prinzipien des Universums

Mitten in der Zielgruppe: Physiker Christian Sander spricht in der Bar Frachtraum über Zufälle und Prinzipien des Universums

Foto: Roland Magunia

30 Kneipen, 30 Wissenschaftler: Die Premiere von „Wissen vom Fass“ ist eine lehrreiche und unterhaltsame Tour durch die Hamburger Bars.

Hamburg.  Herr Professor wirkt aufgeregt, würde das aber so nie zugeben. Als erfahrener Dozent hält Jan Louis dauernd Vorträge. Trotzdem genehmigt er sich schnell noch ein Bier. Schadet ja nichts und gehört irgendwie zur Folklore, sagt der Physiker. Das „Freundlich & Kompetent“, eine ehrliche Kneipe in Barmbek-Süd, ist halt nicht das klassische Habitat eines Spitzenforschers. Er fremdelt ein wenig.

Es ist 17.50 Uhr, langsam füllt sich der Laden, junge Menschen sitzen mit Getränk an den Tischen. Soeben hatte der Wissenschaftler seinen Soundcheck. Gleich wird er auf die Bühne steigen, um dem Kneipenpu­blikum den Urknall zu erklären – den Beginn der Schöpfung, den Anfang von allem, komplexer Stoff. Forschung trifft Feierabendbier, das ist der Plan. Und es dauert keine fünf Minuten, da gibt’s den ersten Szenenapplaus.

„Wissen vom Fass“ heißt die Aktion, die an diesem Abend in Hamburg Premiere feiert. 30 Forscher in 30 Kneipen, das ist das Programm. Jeder Wissenschaftler hält einen halbstündigen Vortrag aus seinem Fachgebiet, etwa „Wie laut war der Urknall?“ oder „Wenn die Maschinen übernehmen: Was folgt auf den Menschen?“ Kurzum: Die Wissenschaftler gehen dahin, wo’s wehtun kann: in die Popkultur. Raus aus dem fensterlosen Kellerlabor, rein ins Licht der Kneipenbühne. „Reinrufen und fragen ist erlaubt“, sagt Jan Louis vor seinem Auftritt. „In etwa einer Stunde können Sie wieder in Ruhe Bier trinken.“

Will aber gar keiner. Spätestens als Louis anfängt, mit einem aufgepusteten Luftballon den Urknall und das sich kontinuierlich ausdehnende Universum zu erklären, wird Bier trinkend verstanden. Auch wenn der Professor zunächst grandios an seiner Aufblastechnik scheitert. Grund: „schlechter Luftballon.“ Den menschlichen Teilchenbeschleuniger – „Janko ist das Teilchen, einer der Detektor, zwei sind die Goldfolie, und jetzt schießen wir den Janko 100.000-mal auf die Gold­folie“ – vergisst vermutlich kein Gast mehr, das dazugehörige Rutherford-Experiment auch nicht. Im Publikum jedenfalls: Jubel, Trubel, Heiterkeit.

Die Frage ist nicht, ob Maschinen die Herrschaft übernehmen, sondern, wann

Professor Doktor Jan Louis war es auch, der die Idee für „Wissen vom Fass“ aus Israel mit nach Hamburg gebracht hat. In Tel Aviv heißt das Ganze „Science on Tap“ und wird vom dortigen Weizmann-Institut als „beste Werbung, die wir je hatten“ gepriesen. Seit der Uraufführung im Jahr 2011 ist die Idee stetig gewachsen, inzwischen machen dort 60 Kneipen mit. In Hamburg war Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) gleich so begeistert, dass sie für zwei Jahre die Schirmherrschaft für den lehrreichen Kneipenabend übernahm. Im kommenden Jahr soll es „Wissen vom Fass 2“ geben.

Neue Kneipe, neuer Stoff: Seit 19 Uhr führt Astrophysiker Marcus Brüggen in der Eimsbüttler Bar „Parallelwelt“ aus, wie Maschinen die Herrschaft an sich reißen. Denn die Frage sei nicht, ob künstliche Intelligenz zur Gefahr für den Menschen werden kann, sondern, wann. „Pessimistische Schätzungen gehen vom Jahr 2022 aus, realistische von 2040, optimistische von 2075 – mein Sohn wird’s erleben“, sagt Brüggen. Und im Publikum, vornehmlich junge Leute, ist kurz unklar, ob gelacht werden soll. „Eher nicht.“

Verglichen mit einem Superrechner schleppe das menschliche Gehirn zu viel „evolutionären Ballast“ mit sich herum. „Menschen werden müde und machen dauernd Fehler“, sagt er. „Computer werden nur besser.“ Man müsse kein Pessimist sein, um die sogenannte Intelligenzexplosion der Maschinen, also die Überwindung menschlicher Fesseln, zu befürchten.

Es sei wie mit Ameisen und Menschen. „Nicht jeder Mensch will Ameisen ans Leder, aber wir stellen eine erns­te Bedrohung für sie dar.“ Und nun müsse man sich vorstellen, die Ameisen würden denken, sie hätten den Menschen erfunden. Dann sei man dicht dran am Verhältnis von Mensch und Maschine. Kleiner Trost: „In unserer Nachbarschaft im All gibt es keine Hinweise auf eine künstliche Zivilisation. Noch müssen wir Bruce Willis nicht losschicken.“

Wissensgewinn mit Luftballon, Walnuss und Taschenwärmer

Für Parallelwelt-Wirtin Tine Wittler ist „Wissen vom Fass“ eine „tolle Sache“. Im nächsten Jahr sei sie wieder dabei. „Ehrlich gesagt hätte ich gedacht, dass es so etwas schon viel länger gibt. Großartig! Obwohl ich die Sache mit den Ameisen noch nicht richtig verstanden habe“, sagt sie.

„Supergute Aktion“, attestiert auch Gast Stefan Wagner, Mathematiker an der Universität Hamburg. Er meint, einen Kneipenabend der Wissenschaft sollte es öfter in Hamburg geben. Das wäre ganz nach dem Gusto von Initiator Jan Louis: „Ich erlebe die Stadt als ungeheuer wissenschaftsinteressiert“, sagt er. Und ein solcher Abend im Zeichen der Naturwissenschaft diene auch dazu, „unsere kulturelle Leistung anzuerkennen und zu verbreiten.“

20 Uhr, Frachtraum, Eimsbüttel, volles Haus: Physiker Christian Sander spricht über die größte Niederlage seines Lebens: Die Sonnenfinsternis 1999, die er bei bedecktem Himmel und Regen in Stuttgart erlebte. Danach geht es um die Frage, ob im All alles einem Prinzip folgt oder nur Zufall ist. Teils, teils, könnte die Antwort lauten. Dass der Mond exakt so groß sei, dass er die Sonne in der richtigen Konstellation auf der Erde verdunkele, sei jedenfalls faszinierend. Oder nicht?

Sander hält sich erfreulicherweise nicht lange mit Fachbegriffen auf, denn er weiß: „Jede Formel halbiert den Zuhörerkreis.“ Stattdessen erklärt er mit Luftballon, Walnuss und Taschenwärmer bisher unerforschte Phänomene, streift die kosmologische Konstante, die Albert Einstein fälschlicherweise als seine „größte Eselei“ bezeichnete, und kommt zu dem Schluss, dass etwa 20 bis 30 Planeten in den unendlichen Weiten „möglicherweise bewohnbare Zonen“ hätten. Im nächsten Jahr will er möglicherweise wieder bei „Wissen vom Fass“ mitmachen. Nur am 21. August 2017 hat der Physiker keine Zeit. Da ist Sonnenfinsternis in Chicago.

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