Rausdorf. Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit einem lebhaften älteren Herrn ins Gespräch. 80 Jahre alt wird er jetzt, sagt er. Und Sie meinen, na, da haben Sie doch bestimmt schon einiges erlebt. Ja, kann man sagen, lächelt der Herr versonnen. Und Sie fragen, neugierig geworden: Ach ja? Was denn so?
Und Ihr Gegenüber würde anheben zu erzählen: Ach, ich habe mal den Atlantik auf einem Baumstamm überquert. Ich wollte damit den Indianerstamm der Yanomami in Brasilien vor der Ausrottung retten. Hat auch geklappt. Dann habe ich ihnen ein Krankenhaus gebaut. Der Stamm der Waiapi hat auch eines bekommen. Deutschland habe ich mal 1000 Kilometer von Nord nach Süd zu Fuß durchquert, und habe nur von dem gelebt, was ich am Wegesrand gefunden habe. So habe ich einer Ringelnatter einen toten Frosch aus dem Bauch massiert und gegessen.
Einmal bin ich ein Rennen gegen einen alten Aborigine quer durch die glühende australische Wüste gelaufen; und kurz bevor ich 70 wurde, habe ich mich von einem Armeehubschrauber an einem Seil im Dschungel Brasiliens absetzen lassen. Hatte nur eine Badehose an und habe Wochen gebraucht, um zur Zivilisation zu finden. Ich galt schon als verschollen. Den Blauen Nil in Äthiopien habe ich als Erster bezwungen. Aber vor allem habe ich das Volk der Afar in Äthiopien dazu überredet, auf ihre uralte Tradition zu verzichten, ihre Frauen und Mädchen genital zu verstümmeln. Den Afar stelle ich gerade auch ein Krankenhaus hin.
Würden Sie nicht spätestens jetzt glauben, Sie hätten einen Münchhausen vor sich? Und würden den Mann stehen lassen? Das wäre aber schade! Denn der hätte noch mehr zu erzählen. Unendlich viel mehr. Und jedes Wort wäre wahr. Mit dem prallen Leben des Rüdiger Nehberg könnte man die drögen Biografien Hunderter Normalbürger aufpeppen. Manche kennen ihn nur als Überlebensexperten, als einen, der sich von Viehzeug ernährt, bei deren Anblick man nach dem Kammerjäger ruft. Dabei hat „Sir Vival“ schon vor Jahren das Metier gewechselt. Das Überleben anderer ist nun seine Sache. Heimatbasis und Trutzburg des Abenteurers/Menschenrechtlers und seiner Ehefrau Annette ist eine 500 Jahre alte Mühle in der Stormarner Gemeinde Rausdorf. Auf mehr als fünf Hektar Wald- und Seegrundstück gelegen, ist sie angefüllt mit den Souvenirs aus 1000 gefahrvollen Reisen.
Unter dem altersdunklen Gebälk sitzend und den 80. Geburtstag am heutigen Montag vor Augen, richten sich Nehbergs Gedanken aber nicht zurück, sondern, wie immer bei ihm, voraus. Er spricht von seinem größten verbliebenen Wunsch: Der König von Saudi-Arabien solle auf die drei ranghöchsten Muftis von Mekka einwirken, ihre Meinung zu ändern. „Denn diese Herren sagen, man müsse Mädchen zwar nicht beschneiden, man dürfe es aber tun“, sagt Nehberg. Und was man in Mekka sagt, hat im ganzen Islam Gewicht. Zwar wird nicht in Saudi-Arabien verstümmelt, aber in anderen Staaten, und zwar an rund 8000 Mädchen – pro Tag. 140 Millionen Frauen leiden unsäglich; Millionen andere überleben den Eingriff nicht, bei dem die Schamlippen und/oder die Klitoris ohne Betäubung abgetrennt werden.
Ende November 2006 hatten Nehberg und seine Frau bereits eine Konferenz in der mehr als 1000 Jahre alten Al-Azhar-Universität in Kairo initiiert, der höchsten Lehranstalt der islamischen Welt. Sie endete sensationell damit, dass die Gelehrten eine Fatwa verfassten, nach der die Genitalverstümmelung ein schwerer Verstoß gegen den Islam und ein Verbrechen darstelle. Nehberg hatte die geniale Idee, die Kraft des Islam gegen die Beschneidung zu wenden und argumentierte überzeugend, dass die aus vorislamischer Zeit stammende Barbarei eine Gotteslästerung sei: „Denn sie impliziert, dass Allah bei der Erschaffung der Frau gepfuscht hat.“
Der Kampf gegen die Verstümmelung, für ihn ein Rennen gegen die Zeit, um Millionen Frauen zu retten, ist zur Triebkraft im Leben Nehbergs geworden. In ihm lodert ein Feuer der Leidenschaft. Und wer ihn nicht kennt, würde kaum glauben, dass dieser harte Knochen, der mit den Kampfschwimmern trainierte, der fast starb, als er am eigenen Leibe erfahren wollte, wie eine Riesenschlange ihr Opfer erwürgt, der am Blauen Nil knapp einen Raubüberfall überlebte, bei dem der Kopf seines Freundes Michel Teichmann von einem Dumdumgeschoss zerfetzt wurde, dass diesem Pfundskerl immer wieder die Tränen in die Augen schießen, wenn er von der Beschneidung eines kleinen Mädchens berichtet, dessen Zeuge er und seine Frau Annette wurden. Sie filmten als Erste, wie sich ein Kind die Seele aus dem Leib schreit, während es mit einer rostigen Rasierklinge oder einem Dosendeckel für sein Leben verstümmelt wird.
Target – Ziel – heißt die selbst gegründete Organisation, mit der das Ehepaar Nehberg kämpft. „Wenn wir Mitte Juni die neue Frauenklinik für die Afar in der Danakil-Wüste eingeweiht haben (es ist ein Klinik-Dorf mit 15 Gebäuden geworden, finanziert allein aus Spenden), fahre ich nach Saudi-Arabien“, sagt Rüdiger Nehberg. Wenn er auch in Mekka eine Fatwa erreicht, wie schon in Kairo und in Mauretanien, dann will er sie für Millionen muslimische Pilger aus aller Welt in der jeweiligen Sprache auf eine goldene Scheckkarte drucken lassen.
Die in sein Hirn eingebrannten Erinnerungen an die Verbrechen an Mädchen treiben ihn ruhelos an; Kraft gibt ihm dabei, dass er Erfolg mit seinen Initiativen hat. „Daraus erwächst eine enorme Power und Kreativität“, sagt er. Die Energie, die ausstrahlt, ist fast körperlich spürbar. Auch die nächste Generation packt schon kräftig mit an. Annettes Sohn Roman, 29, hat den Bau der Danakil-Klinik mitorganisiert, ihre Tochter Sophie, 25, kümmert sich in Brasilien. „Mein Willen ist ungebrochen, aber der Körper macht nicht mehr so mit“, sagt Nehberg. „Das Ende naht. 90 werde ich nicht. Die Waiapi und die Afar haben mich schon eingeladen, in Würde bei ihnen zu sterben. Aber ich bin noch nicht am Ziel, was die Verstümmelung anbelangt.“
Wenn er sein Leben noch einmal leben könnte, würde er dann etwas anders machen? „Ja!“ ruft er vehement, „viel früher anfangen mit dieser Berufung, mit dieser Erfüllung.“ Und wenn es klappt mit der royalen saudischen Fatwa, dann will der frühere Hamburger Konditor sein 31. Buch schreiben: „Der Bäcker und der König. Geschichten aus tausendundzwei Nächten“.
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