Nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs haben viele Niederländer ihr Urteil über den Tod von 193 Landsleuten gefällt: Sie geben der russischen Regierung die Schuld. Wut und Frust entladen sich.

Das Schlimmste für Marina Smirnova ist, dass die Leute ihr nicht ins Gesicht sagen, was sie von ihr denken. Wenn sich die 27 Jahre alte Sprachwissenschaftlerin dieser Tage in die Diskussionen ihrer Arbeitskollegen über den Absturz von Flug MH17 der Malaysia Airlines einmischt und sagt, dass doch noch gar nicht geklärt sei, wer verantwortlich für die Tragödie ist, wird es sehr schnell still.

Sie ist plötzlich ganz allein. Dann, da ist sich die Russin sicher, wird hinter ihrem Rücken gelästert und geschimpft. Bei Facebook gab es schon Aufrufe, die Russen aus dem Land zu jagen und Wladimir Putin, dem Präsidenten, ein Killerkommando zu schicken; Smirnova hat die Postings gelesen. Sie sitzt im feinen Café Zuid am Ufer der Maas in der niederländischen Studentenstadt Maastricht und denkt darüber nach, wie das jetzt weitergehen soll mit ihr und den Einheimischen. Sie sagt: „Ich wünsche mir, dass es nicht weiter eskaliert.“

298 Menschen sind bei der Flugzeugkatastrophe vor einer Woche ums Leben gekommen, 193 von ihnen waren Niederländer. Die Maschine war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, der Hauptstadt Malaysias, als sie nach der Hälfte der Flugzeit vom Himmel geholt wurde und in das von ukrainischen Soldaten und russischen Separatisten umkämpfte Gebiet in der Ostukraine stürzte.

Verantwortung Putins ist für viele klar

Nicht einmal der US-Geheimdienst hat bisher Beweise dafür geliefert, dass die russische Regierung hinter dem Terrorakt steckt. In den Niederlanden hingegen ist für viele Menschen längst klar, dass Putin und seine Gefolgsleute verantwortlich sind. Nachdem am Mittwoch die ersten Särge mit den Opfern aus der Ukraine auf dem Militärflughafen in Eindhoven eingetroffen waren, standen Tausende Niederländer an den Straßen und warteten auf die Leichenwagen.

Es war so etwas wie das letzte Geleit für die Toten von MH17. „Russland ist schuld an dieser Katastrophe“, das war es, was die meisten Leute sagten und weinten. Vom niederländischen 9/11 war die Rede. Das Land, so machte es am Mittwoch den Anschein, versinkt in kollektiver Trauer. Aber da ist auch Wut. Auf Russland. In dieser Wut sind Teile der Politprominenz, des Sports und der einfachen Leute vereint. Und diese Wut muss raus.

Anfang der Woche war Maria, die Tochter von Wladimir Putin, ins Visier geraten. Die Frau lebt angeblich in einem Nobelviertel von Hilversum. „Wir können sie ja abschieben. Das wäre ein völlig anderes Signal“, sagte Pieter Broertjes, der Bürgermeister der Stadt, in einem Radiointerview. Wenig später ruderte er über Twitter zwar zurück, aber da war das Feuer schon entbrannt. Die Tochter von Putin aus dem Land werfen? Das halten viele Niederländer für eine gute Idee. Dabei ist nicht einmal klar, ob Maria Putin tatsächlich in Hilversum lebt(e) – oder alles nur leeres Gerede war. Sie soll die Niederlande verlassen haben und sich wieder in Moskau aufhalten, berichtet die „Bild am Sonntag“.

„Den Diktator zu lange verhätschelt“

Mit John van’t Schip beteiligte sich auch ein Ex-Fußball-Star an der Debatte. „Ich rufe den Fußball-Verband KNVB, die Regierung und den Fußball-Weltverband Fifa auf, die WM 2018 in Russland zu boykottieren“, schrieb der Europameister von 1988 bei Twitter. Der Zuspruch war groß, und das gilt auch für den Wunsch nach wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Der Schriftsteller Bas Heijne schrieb, die niederländische Regierung habe „den Diktator“ (Putin, Anm. d. Red.) zu lange „verhätschelt“.

30.000 Russen leben in den Niederlanden, Marina Smirnova ist eine von ihnen. Zusammen mit Freunden baut sie in der 120.000-Einwohner-Stadt Maastricht aktuell eine russische Gemeinde auf. Zuletzt kamen 40 Landsleute zu einem Treffen im neu eröffneten russischen Konsulat, im August findet ein großes Sommerfest statt, zu dem nicht nur Russen eingeladen sind.

Man wolle die Leute über Russland informieren und Vorurteile abbauen, sagt Student Vladislav Sadykov. „Wir verstehen die Niederländer und ihre Trauer. Wir wissen, wie es ist, geliebte Menschen zu verlieren“, sagt der 26-Jährige und erinnert an die Terroranschläge in Russland in den vergangenen Jahren. Trotzdem können weder er noch Smirnova oder Irene Boesten, die dritte Russin im Café Zuid an diesem Nachmittag, die Wut der Niederländer auf ihre Heimat verstehen.

Es sei zu einfach, immer zu sagen, Russland ist involviert: „Warum wartet man nicht erst einmal die Ermittlungen ab?“ Die Medien würden „lächerlich einseitig“ berichten, schimpft die 30-jährige Boesten. Immerhin, so sagt sie, habe sie ihren niederländischen Ehemann schon von der Wahrheit überzeugt. Seine Wut auf Russland sei verflogen.

„Zum Glück nur Verbalattacken“

Das kann man nicht von allen Niederländern behaupten. In Groningen wurde der Besitzer eines russischen Lebensmittelladens von Jugendlichen beschimpft. „Ihr habt gemordet“, sollen die Wütenden gebrüllt haben. „Zum Glück“, sagt Nicolaas Kraft van Ermel im Gespräch mit der „Welt“, „ist es bislang bei Verbalattacken geblieben. Mir ist nicht bekannt, dass Russen körperlich angegriffen wurden.“

Van Ermel arbeitet für das Niederländisch-Russische Zentrum in Groningen, das unter anderem niederländische Firmen berät, die über Engagements in Russland nachdenken. „Wir haben Hass-Mails bekommen, und ich wurde aufgefordert, meinen Job zu kündigen“, sagt van Ermel. Und weiter: „Die Stimmung hat sich verändert. Nun heißt es: Russland ist an allem schuld.“

Derzeit würden alle Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit in einen Topf geworfen: die MH17-Katastrophe, die Festnahme von niederländischen Greenpeace-Aktivisten und das harte Vorgehen gegen Homosexuelle in Russland. Für all das werden auch die in den Niederlanden lebenden Russen in Beugehaft genommen.

Hoffen auf die Untersuchungen

Marina Smirnova, sagt: „Ich hoffe, dass uns niemand mit einem Baseballschläger verprügelt.“ Dabei lacht sie, aber ihr ist anzusehen, dass sie sich Sorgen macht. Vladislav Sadykov glaubt, dass die Untersuchungen den Beweis erbringen, dass die russische Regierung nichts für den Absturz des Flugzeugs kann.

Niederländer, mit denen er über die Katastrophe sprach, habe er von seiner Meinung überzeugen können. Er fürchtet sich nicht. Und Irene Boesten meint, alles werde gut, sobald die Niederländer erkennen, dass die westlichen Medien nicht als einzige Informationsquelle taugen. Die russische Presse sei besser, sagt Boesten und streichelt ihren mitgebrachten Hund.

Der Cocker Spaniel ist eineinhalb und schwarz, sein Name ist Putin.