Eine Glosse von Thorsten Ahlf

Dass der Mensch über die Jahrmillionen die eine oder andere Entwicklung – manche meinen sogar, es handle sich um Weiterentwicklung – durchgemacht hat, ist zumindest evolutionär unbestritten. Allerdings ignoriert der Homo sapiens diese Zeitspanne, sobald er in die Nähe eines öffentlichen Verkehrsmittels gerät.

Den freien Sitzplatz schon durch die Scheibe der einfahrenden U-Bahn fest im Blick, den Regenschirm als feuersteinspitzenbewehrten Speer fest in der Hand, stürzt sich Homo neanderthalensis dem Strom aussteigender Fahrgäste entgegen auf die Jagdbeute und nimmt stolz auf dem Polster Platz. Zufrieden grinsend, als hätte er eben ein Mammut erlegt.

Die Erfindung des Rades macht sich dieser Zeitgenosse ebenfalls gern zunutze, um sich einen möglichst breiten Lebensraum zu sichern. Grimmigen Gesichtes, die Augenbrauenwülste angriffslustig den anderen Fahrgästen präsentierend, saust der Drahtesel zwischen Schienbeinen und Kniescheiben hindurch. Und während sich der moderne Mensch ängstlich an die Seiten quetscht, bockt der Steinzeitfuzzi sein Reittier auf und verschwindet in der Menge. Natürlich nicht, ohne den Umstehenden mit seinem, wie eine Jagdbeute auf dem Rücken getragenen Rucksack, E-Books und Handys aus den Händen zu schlagen oder Zeitungen zu zerknittern. Mehr Platz in noch kürzerer Zeit schafft sich nur die Steinzeitlerin mit Kinderwagen. Einem Rammbock gleich wird die Karre in den sich flugs schaffenden Freiraum gewuchtet und die etwas langsameren Flüchtenden mit Grunzlauten in den Gang zwischen den Sitzreihen gescheucht.

Sitzgelegenheiten findet man da allerdings auch nicht. Längst hat sich vor dem Polsterjäger schon der Polstersammler breitgemacht. Wie zum Trocknen ausgebreitete Felle liegen Taschen und Tüten auf den Sitzen und zur Sicherheit versperrt ein Koffer einem Felsblock gleich den Zugang zur Doppelsitzreihe.

Mit all diesen Urzeitgenossen kann ich leben. Ich stehe in der U-Bahn und bin noch flink genug, Rucksäcken und Gefährten auszuweichen. Aber wenn Homo neanderthalensis sein Smartphone aus der Tasche fingert und mit eingeschaltetem Tastenton seinen Stammesgenossen SMS in die Tastatur tackert, oder – was noch erheblich schlimmer ist – direkt Kontakt aufnimmt, mit schriller Stimme die Nichtigkeiten des Tages übermittelt, dann schwillt mir der Kamm. Ach, wäret ihr quatschenden und permanent SMS schickenden Neandertaler eurem geschichtlichen Vorbild gefolgt und einfach ausgestorben.