Rechtsmediziner Klaus Püschel erstellt Gutachten im Auftrag von Versicherungen, wenn der Verdacht besteht, es habe jemand betrogen

Eppendorf. Die heruntergefallene Gehwegplatte war schuld. Oder das schwere, metallene Gartentor. Andere erzählen von schwersten Verletzungen beim Holzhacken oder von einem brutalen Überfall. Es sind oft grausige Geschichten, bei denen Finger oder ganze Hände bedauerlicherweise abgetrennt wurden. Und leider ist manchmal das fehlende Glied verloren gegangen und kann nicht wieder angenäht werden. Immer wieder gibt es Menschen, die wegen abgetrennter Gliedmaßen hohe Schadenersatzforderungen an ihre Versicherungen stellen. Und bei einigen Fällen stellt sich heraus, dass sie gefälscht wurden, um hohe Zahlungen zu erschleichen. Oft geht es um sechs- und sogar siebenstellige Summen. Mit viel Schmerz und Invalidität sehr viel Geld abzocken, lautet bei manchen die kühl kalkulierte Rechnung.

Dass diese dann oft doch nicht aufgeht und Betrüger entlarvt werden, ist Spezialisten wie Prof. Klaus Püschel zu verdanken. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg ist eine bundesweit hoch geschätzte Kapazität, hat tausende Leichen untersucht und auch besonders viel Erfahrung bei der Erforschung von mutmaßlichen Selbstverstümmelungen. „Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass sich niemand absichtlich große Schmerzen sowie eine Gliedmaßenamputation zufügen würde“, ist die Erfahrung des Rechtsmediziners. Für Selbstverletzungen gebe es viele Ursachen, etwa psychische Gründe. „Und manche Menschen erhoffen sich eben durch Versicherungsbetrug viel Geld.“ Da werde tatsächlich auch absichtlich zur Axt oder Gartenschere gegriffen, um sich beispielsweise Finger abzutrennen. „Da lockt das finanziell sorgenfreie Leben.“

Wie Menschen in den Verdacht des Betruges geraten und dann sogar ihre Existenz verlieren können, zeigte jüngst der Fall eines Versicherungsfachmanns, der Daumen und Zeigefinger der linken Hand verlor, angeblich, weil er über einen seiner Hunde stolperte und mit seiner Hand in eine rotierende Kreissäge geriet. Doch ein medizinischer Gutachter widersprach der Darstellung. Zudem erschien dem Gericht verdächtig, dass der Mann kurz vor dem angeblichen Unfall vier Versicherungen abgeschlossen hatte. Der 50-Jährige bekam bislang nicht nur kein Geld, er stand auch selber wegen Betruges vor Gericht und wurde zu einer Bewährungsstrafe von 22 Monaten verurteilt, noch nicht rechtskräftig.

Zu laufenden Verfahren wie diesem äußert Rechtsmediziner Püschel sich nicht. Aber er kennt Dutzende ähnlich gelagerte Fälle, in denen sich Menschen an ihre Versicherung wandten und ihre Verletzung als Unfall ausgaben. „Bei etwa der Hälfte der Fälle kriegt man durch die Rechtsmedizin heraus, dass das nicht stimmt“, sagt der 62-Jährige. Da war zum Beispiel der Mann, dem ein Finger der linken Hand fehlte und der behauptete, dieser sei ihm bei Arbeiten auf seinem Grundstück abgetrennt worden, als ihm angeblich eine fast 30 Kilogramm schwere Gehwegplatte auf die Hand fiel. Das Röntgenbild zeigte eine glatte Knochendurchtrennung und keinerlei Quetschungen. Püschel ließ sich den Hergang genau schildern. Dann simulierte er das Szenario mehrfach und stellte fest: Es kommt zu Trümmerfrakturen und niemals zum glatten Bruch. Der Betrüger war überführt.

Bei einem anderen Fall erlitt ein sehr gut versicherter Allgemeinmediziner schwerste Quetschverletzungen an beiden Händen. Nach seiner Darstellung hatte er den Reifen seines Wagens wechseln und die Bremsscheibe prüfen wollen. Dabei kam er mit der Schulter an das Auto, das herunter krachte und mit der Bremsscheibe seine Finger quetschte. „Die Frage ist: Ist das ausgeschlossen“, sagt Püschel. „Da ging es um sehr viel Geld.“ Zum Schluss endete der Fall mit einem Vergleich, aber auch so bekam der Mann noch mehrere Millionen. In Schadenersatzprozessen müssen Versicherungen den Antragstellern sicher nachweisen, dass die vorgetragene Version nicht stimmen kann.

„Im medizinischen Bereich wird insgesamt extrem viel getäuscht und gelogen“, betont Püschel. Natürlich seien die Fälle von Selbstverstümmelung oft die spektakulärsten. „Aber es ist nur ein kleiner Bereich.“ Mancher Betrug sei „ganz banal“, wie etwa bei der Arbeit zu fehlen wegen angeblicher Kopfschmerzen. Oder jemand bekommt nach einem Auffahrunfall mit angeblichen Nackenschmerzen vom Arzt attestiert, er habe ein Hals-Wirbel-Schleudertrauma erlitten, obwohl dies gar nicht stimmt. „Da geht es bundesweit um einen Schaden von Hunderten von Millionen Euro jedes Jahr“, sagt der Hamburger Gerichtsmediziner. Auch bei Selbstverletzungen gebe es etliche Interessenlagen. „Wichtig ist die Frage nach dem Vorteil, den jemand erlangt“, wie zum Beispiel der Gefängnis-Insasse, der Rasierklingen schluckt, weil er raus aus dem Knast will, oder das angebliche Vergewaltigungsopfer, das jemandem schaden möchte. „Solche und ähnliche Fälle kommen immer wieder vor.“

Als Gerichtsmediziner ist es Püschels Aufgabe, mit medizinischer Rekonstruktion und Sachbeweis die Wahrheit herauszufinden, so eben auch im Auftrag von Versicherungen. Bei einem echten Unfall sei der Schnitt oft schrägt, auch andere Finger werden mit verletzt. Um zu erforschen, ob beispielsweise wirklich ein Finger durch einen Axt-Unfall abgetrennt und nicht etwa absichtlich amputiert wurde, lässt sich der Gerichtsmediziner nach intensivem Aktenstudium den vermeintlichen Vorgang von dem Verletzten exakt schildern, insbesondere wie die Hände gehalten und das Werkzeug gefasst wurden. „Man muss genau hinsehen und zuhören“, erklärt Püschel. Wunden und Röntgenbilder werden analysiert, Blutspurenbilder vermessen und das Geschehen nachgestellt, im Labor der Rechtsmedizin und an den Originalorten. Zur Simulation werden unter anderem Modelle, Schweineschwänze, aber in einzelnen Fällen auch Gliedmaßen menschlicher Leichen benutzt.

Wichtig sei auch, dass schon unmittelbar nach einem Unfall von Ärzten genau hingesehen werde. „Manchmal entdeckt man da zum Beispiel Einstichstellen, weil ein Finger vorher betäubt wurde“, sagt Püschel. Verdächtig ist es speziell dann, wenn die Gliedmaßen nicht mehr aufzufinden sind. „Ein wieder angenähter Finger gibt nämlich kein Geld.“ Bei den Erklärungen von Verletzten, warum die Gliedmaßen verloren gingen, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. So hatte einer geschildert, er habe sich so geekelt, dass er den Finger in den Müll warf; ein anderer behauptete, seine Hunde hätten die Gliedmaßen gefressen. Und dann war da der Arzt, der sagte, er sei Opfer eines Überfalls geworden. Weil die Verbrecher wenig Beute machten, waren sie verärgert. Sie hätten ihm den Finger mit einer Gartenschere abgetrennt und etwas von „Souvenir“ gemurmelt. Dann seien sie verschwunden – mit dem Finger.