Pflegemutter und Pflegevater ließen Methadon-Tablette herumliegen. Richter: Elfjährige hätte gerettet werden können.

Neustadt. Sie hatten viele Stunden Zeit, das Leben von Chantal zu retten. Stunden, in denen die Elfjährige dahindämmerte und mit dem Tode rang, alleingelassen, hilflos. Jetzt wurden die Pflegeeltern des Mädchens, das an einer Methadon-Vergiftung starb, strafrechtlicht zur Verantwortung gezogen. Das Landgericht sprach die Angeklagten im Prozess um den Tod des Kindes der fahrlässigen Tötung schuldig. Gegen den 54 Jahre alten Pflegevater Wolfgang A. verhängte die Kammer ein Jahr Haft mit Bewährung, die vier Jahre jüngere Pflegemutter Sylvia L. wurde zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Die Angeklagten hätten in sorgfaltswidriger Weise den Tod Chantals verursacht, sagte der Vorsitzende Richter Rüdiger Göbel in der Urteilsbegründung. Es handele sich bei dem Tod des Mädchens vom 16. Januar 2012 um „kein Augenblicksversagen, sondern um ein Systemversagen“, das beide Pflegeeltern zu verantworten hätten. „Sie werden weiter damit leben müssen, für den Tod von Chantal verantwortlich zu sein“, so der Richter mit Blick auf die Angeklagten weiter. „Hören Sie auf, sich selber zu bemitleiden. Finden Sie die richtige Einstellung zu Ihrer Schuld.“

Wolfgang A. und Sylvia L., beides Menschen mit verhärmten Mienen, blieben während der gut einstündigen Urteilsverkündung ohne sichtbare Regung, der Pflegevater mit gesenktem Kopf, die Pflegemutter mit starr zur Seite gerichtetem Blick. Chantal sei „in meinem Herzen“, hatte Sylvia L. zuletzt gesagt. Wolfgang A. hatte formuliert: „Für mich ist es die schlimmste Strafe überhaupt, dass Chantal gestorben ist.“

Beide Pflegeeltern wussten, dass Methadon lebensbedrohlich sein kann

Doch es war nach Überzeugung des Gerichts der verantwortungslose Umgang der Pflegeeltern mit dem gefährlichen Methadon, der zu der Katastrophe mit dem Tod des Mädchens geführt hatte. Beide Pflegeeltern, seit vielen Jahren rauschgiftabhängig und Konsumenten der Ersatzdroge Methadon, hätten gewusst, dass das Methadon insbesondere für Kinder „lebensbedrohlich“ sein kann, und die Drogen gleichwohl nicht sicher gelagert, so der Richter. Zumindest eine Tablette habe in der Küche herumgelegen. Dabei wäre es für sie „möglich gewesen, mit einfachen Mitteln“ die Methadon-Tabletten sicher zu verwahren, etwa in einem verschließbaren Arzneischrank. Das Opfer hätte bei „bei verantwortungsvoller Lagerung keine Tabletten finden können“ und wäre auch nicht gestorben. Die Angeklagten hatten indes behauptet, sie hätten die Ersatzdroge sicher in der Garage verstaut. Dies wertete die Kammer als „Schutzbehauptung“. Die von der Verteidigung vorgebrachte Theorie, Chantal habe das Methadon von ihrem leiblichen Vater bekommen, hielt die Kammer für „ausgeschlossen“.

Chantal hatte eine Tablette der Ersatzdroge eingenommen in der Annahme, es handele sich um ein Medikament gegen Übelkeit. Die Elfjährige übergab sich und wurde später bewusstlos. Ihr Sterben zog sich über mehrere Stunden hin. Dabei hätte sie „mit Sicherheit gerettet“ werden können, hatte ein Gerichtsmediziner im Prozess gesagt – wenn jemand rechtzeitig ärztliche Hilfe geholt hätte. Doch die Pflegemutter war damals seit vielen Stunden nicht im Haus, der Pflegevater wohl dort, doch bei Weitem nicht aufmerksam genug.

Zwar sah er kurz nach Chantal und versuchte, das Mädchen zu wecken, ließ die Elfjährige dann aber in ihrem Bett liegen und ging zur Arbeit, ohne sich weiter um das Kind zu kümmern. „Ich dachte, sie braucht Ruhe“, hatte er sich im Prozess verteidigt. „Er hielt es nicht für nötig, einen Arzt zu rufen“, sagte der Vorsitzende Richter dazu. Einen erneuten Versuch, Chantal wachzurütteln, habe Wolfgang A. nicht unternommen. Eine Kindheit zwischen Alkohol und Drogen – Chantal war schon als Tochter von zwei abhängigen Eltern zur Welt gekommen und hat in ihrem kurzen Leben nie eine wirklich sorglose Umgebung kennengelernt. Als sie 2008 zu den Pflegeeltern kam, hatten Wolfgang A. und Sylvia L. dem Jugendamt verschwiegen, dass sie ebenfalls seit etlichen Jahren rauschgiftabhängig waren und Methadon konsumierten. In dem Prozess sei es nicht Aufgabe des Gerichts gewesen, etwaiges Fehlverhalten des Jugendamtes zu untersuchen, betonte der Richter. Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter des Jugendamtes waren schon vor längerer Zeit eingestellt worden.

Die Verteidigung kündigte Revision gegen das Urteil an

Im Übrigen sei Chantal „nicht verwahrlost“ gewesen, sagte der Kammervorsitzende. Die Strafforderung der Staatsanwaltschaft, die für den Pflegevater zweieinhalb Jahre Haft und für die Pflegemutter eine 15-monatige Bewährungsstrafe beantragt hatte, nannte das Gericht „überzogen“. Die Anklagebehörde will prüfen, ob sie gegen das Urteil Rechtsmittel einlegt. Die Verteidigung, die Freisprüche beantragt hatte, kündigte an, in Revision zu gehen.

Die Pflegeeltern Wolfgang A. und Sylvia L. verließen den Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung so, wie sie ihn in dem elf Verhandlungstage andauernden Verfahren stets betreten und verlassen hatten: mit tief in ihre Gesichter gezogenen Kapuzen, wortlos, die Haltung geduckt.