Dieser Kriminalfall erregte 1904 ganz Hamburg: Elisabeth Wiese soll damals fünf ihr anvertraute Pflegekinder getötet haben. Vor 110 Jahren wurde sie zum Tode verurteilt.

Vermutlich wäre niemandem etwas aufgefallen, hätte nicht das Dienstmädchen Fräulein Klotsche im April 1903 ihren kleinen Sohn Wilhelm abholen wollen. Ihre materielle Lage hat sich verbessert, sodass sie das Baby zu sich nehmen kann. Aber Wilhelm ist verschwunden. Seine Pflegevermittlerin Elisabeth Wiese in der Wilhelminenstraße 23 behauptet, er sei bei reichen Leuten im Ausland, da habe er es doch viel besser. Verträge kann sie nicht vorweisen. Die Straße heißt heute Hein-Hoyer-Straße.

Auch die kleine Tochter von Martha Blanck ist unauffindbar. Das Dienstmädchen hatte erst im März 1903 verzweifelt eine Pflegestelle gesucht, eine ledige Mutter würde niemand beschäftigen. Durch eine Annonce war sie auf Elisabeth Wiese gestoßen. Die vermittelt Kleinkinder an Pflegemütter, gegen eine Gebühr von 100 bis 300 Mark und ein monatliches Kostgeld von 20 bis 30 Mark. Angeblich kann sie Babys auch an reiche Paare in London, Wien oder Amerika vermitteln. Eine der Pflegemütter namens Wülfing hat die kleine Bertha Blanck gestillt und sie zu Elisabeth Wiese zurückgebracht, als die kein Kostgeld zahlte. Jetzt ist das Baby weg. Frau Wülfing wird misstrauisch und geht zur Polizei.

Elisabeth Wiese, geboren 1853 im Landkreis Göttingen, ist gelernte Hebamme und selbst in jungen Jahren unverheiratet Mutter geworden. In Hannover hat sie mehrmals als gewerbsmäßige „Engelmacherin“ wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Hehlerei vor Gericht gestanden, weshalb sie selbst auch keine Kinder aufnehmen darf. 1896 zog sie mit ihrem Mann, dem Kesselschmied Heinrich Wiese, und ihrer Tochter Paula nach Hamburg St. Pauli. Im Haus Wilhelminenstraße 23 wohnen außer den Wieses im ersten Stock noch zehn weitere Mietparteien.

Geschätzt wird die Familie dort nicht. Bei den Wieses gibt es ständig Streit, erzählen die Nachbarn der Polizei. Er wirft ihr Verschwendungssucht vor, sie ihm Sauferei. Später im Prozess beschuldigt Wiese seine Frau, sie habe versucht, ihn zu vergiften, um an seine Ersparnisse zu kommen. Den Nachbarn ist wohl auch nicht verborgen geblieben, dass Elisabeth Wiese ihre Tochter auf den Strich geschickt hat.

Im „Generalanzeiger für Hamburg und Altona“, in den „Hamburger Nachrichten“ und im „Fremdenblatt“ hatte sie mit diesem Wortlaut inseriert: „Junge Dame bittet einen edel denkenden Herrn um eine Unterstützung von 30 Mark gegen dankbare Rückzahlung.“ Darauf meldeten sich im Winter 1901/02 tatsächlich etliche Freier, die scharf auf Paulas „Rückzahlung“ waren. Im Frühjahr 1902 ist Paula nach London geflüchtet, wo sie in einem deutschen Haushalt Arbeit als Dienstmädchen findet. Elisabeth Wiese musste eine neue Einkommensquelle suchen und hat die Pflegestellenvermittlung entdeckt.

Mehrere Babys sind ihr zwischen Sommer 1902 und April 1903 anvertraut worden, von den letzten vier fehlt jede Spur: Bertha Blanck, Peter Schultheiß, Franz Sommer und Wilhelm Klotsche. Die Ermittler schicken Ausschreibungen an Zeitungen des In- und Auslandes und setzen eine hohe Belohnung aus, um Hinweise auf die Kinder zu finden – ergebnislos.

Wegen Elisabeth Wieses zahlreicher Vorstrafen vermutet man sehr schnell ein Gewaltverbrechen. Im Haushalt Wiese findet die Polizei einen verdächtigen Bestand an Morphium und anderen Giften. Außerdem stellt sich heraus, dass Tochter Paula im Sommer 1902 hochschwanger nach Hamburg gekommen ist und dort mithilfe ihrer Mutter ein Kind geboren hat. Das ist ebenfalls verschwunden.

In den Vernehmungen sind es vor allem ihre ungeschickten Lügen, die Elisabeth Wiese belasten. Sie bleibt dabei, dass sie die Kinder zu vornehmen Familien ins Ausland vermittelt habe. Und sie versucht, eine Nachbarin und eine Mitgefangene in der U-Haft zu entsprechenden Falschaussagen zu bewegen: Sie hätten gesehen, wie Paare die Kinder abholten. Schließlich wird Anklage erhoben. Elisabeth Wiese werden fünf vollendete Morde an vier Pflegekindern und ihrem eigenen Enkelkind, ein Giftmordversuch an ihrem Mann, Verkuppelung ihrer Tochter und versuchte Verleitung zum Meineid vorgeworfen.

Im Oktober 1904 beginnt der Prozess vor dem Hamburger Schwurgericht im heutigen Strafjustizgebäude. Der Fall erregt ganz Hamburg: Kindermord in Serie! Was muss das für eine Frau sein, die sogar ihr eigenes Enkelkind umbringt? Dass kein Dienstmädchen freiwillig sein Kind abgeben würde und dass der Handel mit Pflegestellen nur möglich ist wegen der rigiden Moralvorstellungen im Kaiserreich, stört keinen. Für die Presse ist Elisabeth Wiese schnell die „Engelmacherin von St. Pauli“. Auf der Pressebank sitzt auch Hugo Friedländer, ein erfahrener Gerichtsreporter, der für Berliner Zeitungen vom Prozess berichtet. Er gibt vier Jahre später einen Sammelband mit Prozessberichten heraus, in denen er auch den Fall Wiese protokolliert. Friedländer ist ein aufgeklärter Mann, der für die sozialdemokratische Presse arbeitet, eine sehr präzise Quelle. Aber auch für ihn ist Elisabeth Wiese „entmenscht“.

Staatsanwalt Carl Hollender will beweisen, dass die Angeklagte vier Babys mit Morphium getötet und dann in ihrem Ofen verbrannt hat, das Neugeborene ihrer Tochter habe sie ertränkt. Das Problem ist: Es gibt keine Leichen. Die Anklage muss sich auf Indizien und Zeugenaussagen stützen. Nachbarinnen sagen aus, sie hätten Elisabeth Wiese spätabends mit einem Bündel das Haus Richtung Elbe verlassen sehen. Mieterin Düwel, die ständig Angst vor Einbrechern hat und deshalb mit den Wieses die Wohnung tauschte, stellt fest, dass der Herd der Vormieterin kaputt ist. Die Herdplatte ist gesprungen, was nur bei zu großer Hitze passiert. Etwa wenn organische Fette und Öle darin verbrannt werden.

Elisabeth Wiese bestreitet weiterhin, die Kinder getötet zu haben. Der kleine Wilhelm Klotsche sei von ihrem Mann missbraucht und dabei erstickt worden, behauptet sie. Richter Crasemann will es nicht glauben: „Dass ein erwachsener Mensch ein zwei Monate altes Kind sittlich missbraucht, habe ich noch nicht gehört“ (heute würde das wohl nicht mehr bezweifelt). Elisabeth Wiese antwortet: „Es ist aber wahr: Mit mir hat er ja dieselben Unsittlichkeiten vornehmen wollen“ (immerhin war sie mit ihm verheiratet). Sie fügt hinzu, dass ihr Mann „besoffen war“.

Kesselschmied Heinrich Wiese, „ein im besten Mannesalter stehender Mann mit blondem Vollbart, der einen sehr guten Eindruck machte“ (Friedländer), beschwört im Zeugenstand, „dass das eine totale Lüge ist“. Seine Frau habe angefangen, ihn zu bestehlen, und gegen seinen Willen Kinder in Pflege vermittelt. Er habe nichts damit zu tun. Wie er denn überhaupt dazu gekommen sei, diese Frau zu heiraten, will der Richter wissen. „Es war damals ein ganz manierlich aussehendes Mädchen und sehr geschickt in allen Arbeiten“, sagt der Mann.

Als Hauptbelastungszeugin erweist sich ausgerechnet Tochter Paula, die aus London vorgeladen worden ist. Sie sagt aus, ihre Mutter habe sie durch furchtbare Prügel zur Prostitution gezwungen. Warum sie zur Geburt ihres Kindes nach Hamburg zurückgekehrt ist, sagt das Protokoll nicht. Und auch nicht, warum sie sich bei Einsetzen der Wehen in der Wohnung des Liebhabers ihrer Mutter befand, nämlich bei dem 72 Jahre alten Schuhmacher Schröder an der Talstraße. Ihre Mutter wurde von Schröder dorthin gerufen, habe sie wieder geschlagen und dann entbunden, sagt Paula aus. „Die Wiese“ habe das Neugeborene in einen Eimer mit Wasser fallen lassen und dann auf einen Sack gelegt. Es habe noch mit den Beinen gezappelt, schwarze Haare gehabt und sei ein Junge gewesen. Ihre Mutter habe gesagt: „Mach das Kind tot“, da sei sie in Ohnmacht gefallen. Danach sei das Kind „nicht mehr da gewesen“. Die Wiese habe behauptet, es sei tot. Paula sagt „die Wiese“. Ihre Mutter sagt dazu: „Was die Person hier gesagt hat, ist alles Lüge.“

Nach vier Verhandlungstagen ist für den Staatsanwalt die Sache klar: Elisabeth Wiese hat die Babys zwar zu Pflegemüttern vermittelt, deren Kostgeld aber für sich behalten. Wenn die Kinder dann zurückgeschickt wurden wie die kleine Bertha, konnte sie sie nicht loswerden, gab ihnen Morphium und verbrannte die Leichen im Herd.

Elisabeth Wiese hat einen Pflichtverteidiger, Dr. Hermann Bleckwedel. Er sagt in seinem Plädoyer, er vermute, Frau Wiese habe die Kinder wohl „zwecks Unterschiebung“ ins Ausland verkaufen wollen. Also an Leute, die durch ein Kind an eine Erbschaft oder Alimente herankommen wollten. Deshalb habe sie sich auch mit relativ geringen Abfindungssummen begnügt. Eine merkwürdige Art, die eigene Mandantin zu entlasten.

Bleckwedel gibt aber auch zu bedenken, dass drei weitere Kinder, die die Angeklagte in Pflege genommen hatte, noch am Leben sind. Er will nicht ausschließen, dass auch die vier vermissten Kinder noch irgendwann auftauchen. Man habe sie vielleicht nur nicht gefunden. Deshalb müssten die Geschworenen die Angeklagte freisprechen.

Das tun sie nicht. Sie verurteilen Elisabeth Wiese wegen fünffachen Mordes fünfmal zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Die zwei Jahre Zuchthaus für die schwere Kuppelei und die versuchte Verleitung zum Meineid fallen da nicht mehr ins Gewicht. Den versuchten Giftmord am Gatten sieht das Gericht jedoch als nicht erwiesen an.

Aus heutiger Sicht bleiben viele Fragen offen. Im Kochherd sind keine Spuren verbrannter Körper gefunden worden. Den kaputten Herd entdeckte die Nachbarin im Oktober 1902, die Kinder verschwanden aber erst 1903. In der Elbe sind keine Babyleichen aufgetaucht. Theoretisch kann Elisabeth Wiese die Kinder trotzdem in den Fluss geworfen haben. Möglich ist aber auch, dass sie sie tatsächlich verkauft hat. Welche Käufer würden das zugeben? Eine psychiatrische Begutachtung der Angeklagten hat nicht stattgefunden.

Wieder erstaunlich ist, dass der Ehemann nichts gesehen, gehört und gerochen haben will. 2008 ist eine Frau in Brandenburg verurteilt worden, weil sie mindestens acht ihrer Kinder nach der Geburt getötet hat – auch dieser Ehemann hat nach eigener Aussage von allem nichts gemerkt. Diese Art von Blindheit hat offenbar Tradition.

Als nach dem Todesurteil in Hamburg diskutiert wird, ob man eine Frau auf der Guillotine hinrichten dürfe, bieten sich empörte Hamburgerinnen dem Scharfrichter als Helferinnen an. Bis zuletzt sagt Elisabeth Wiese, sie habe die Kinder nicht getötet. Ein Gnadengesuch wird abgelehnt. Am bitter kalten Morgen des 2. Februar 1905 stirbt sie im Hof des Untersuchungsgefängnisses Vor dem Holstentor unter dem Fallbeil.