Was die Diagnose für den Jungen und die Menschen in seiner Umgebung bedeutet, erklärt ein Zehntklässler

Ein Junge aus meiner Klasse – ganz unauffällig sitzt er auf seinem Platz. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass er anders ist, anders als der Rest meiner Klasse und sicherlich auch als die anderen Schüler meiner Schule. Bis zur achten Klasse.

Aufgefallen ist mir der Junge eigentlich durch sein aggressives Verhalten. Wenn ich so darüber nachdenke, war er für mich vorher immer unscheinbar. Doch dann häuften sich die Vorfälle. Er griff andere Schüler mit Gegenständen an. Mit einem Feuerlöscher, Tretroller, Zirkel. Ich und sicherlich auch der Großteil meiner Klasse wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten. Wie kann ein so unscheinbarer Junge plötzlich so auffällig werden?

Nach einigen Monaten teilte uns unser Klassenlehrer mit, dass bei dem Schüler das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Das Asperger-Syndrom gilt als eine abgeschwächte Form des Autismus.

Autismus? Was ist das? „Autistische Menschen sind anders als andere Menschen“, sagt Jim Sinclair, Gründer des Autism Network International, eine Selbsthilfegruppe für autistische Menschen mit Sitz im US-Bundesstaat New York. Sinclair ist Autist.

„Für nicht autistische Menschen, einschließlich der meisten unserer Eltern und Lehrkräfte, ist das Anderssein einer der beunruhigendsten Aspekte von Autismus“, sagt Sinclair. „Eine Therapie wird in dem Maße als erfolgreich betrachtet, in dem sie bewirkt, dass die autistische Person sich mehr wie eine nicht autistische Person verhält. Eine autistische Person wird in dem Maße als erfolgreich betrachtet, in dem sie gelernt hat, sich „normal zu verhalten“.

In meiner Klasse wusste damals niemand, was die Diagnose Asperger-Syndrom bedeutet und ob das Auswirkungen auf unsere Klasse haben wird. Bis zu meinen Recherchen wusste ich nicht, was Asperger ist. Uns wurde nie gesagt, was es damit auf sich hat.

Das Asperger-Syndrom ist eine leichte Form des Autismus und manifestiert sich bei einem Menschen ab dem dritten bis fünften Lebensjahr. „Wie auch für den Frühkindlichen Autismus kennzeichnend, liegen bei Menschen mit dem Asperger-Syndrom Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktion sowie ein eingeschränktes, stereotypes und sich wiederholendes Repertoire der Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten vor“, heißt es auf der Homepage des Vereins Autismus Hamburg.

Ich kann sagen, dass die typischen Verhaltensweisen eines Menschen mit dem Asperger-Syndrom auf meinen Mitschüler zutreffen. Er fällt häufig durch emotional unangemessenes Verhalten und begrenzten Blickkontakt auf. Die in meinen Augen größte Auffälligkeit besteht jedoch darin, dass er sich sprachlich perfekt ausdrücken kann. Wer ihm aufmerksam zuhört, bemerkt, wie er sich die Sprache im Kopf zurechtlegt. Er plant das Sprechen. Dadurch redet er oft stockend, langatmig und manchmal auch so, dass einem das Folgen schwerfällt. Außerdem fehlt ihm das Verständnis für Ironie und Sarkasmus. „Das war doch nur Ironie!“ Diesen Satz hört er mehrmals in der Woche. Das zeigt aber auch, dass kaum jemand weiß, was Asperger überhaupt ist. Es scheint, dass selbst einige Lehrer nicht informiert sind. So forderte ein Lehrer meinen Mitschüler zum Beispiel einmal auf, die wichtigsten Aussagen eines Textes zu nennen. Der Großteil der Menschen mit Asperger-Syndrom kann nicht zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden.

Manchmal kommt vonseiten der Lehrer Sprüche wie „Ach, stell dich nicht so an!“

Mein Mitschüler hat aber einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das ist typisch für Menschen mit Asperger. Sobald mein Mitschüler spürt, dass einzelne Schüler bevorzugt werden, weist er den Lehrer darauf hin. Dies wiederum führt zu Unmut bei den betroffenen Schülern, und er macht sich, ohne es zu wollen oder gar zu bemerken, bei manchen Schülern unbeliebt. Die meisten Asperger-Menschen haben ein ausgeprägtes Spezialinteresse, eine sogenannte Inselbegabung. Mein Mitschüler interessiert sich sehr für Computerspiele und ist in unserer Klasse außerdem als „wandelndes Englischlexikon“ bekannt.

Nach der Diagnose Asperger hat mein Mitschüler einen Schulbegleiter bekommen, der zwei- bis dreimal pro Woche im Unterricht sitzt. Seitdem geht es dem Jungen offensichtlich besser. Er beteiligt sich jetzt sehr viel mehr am Unterricht und wird inzwischen von allen wie jeder andere Schüler behandelt. Außerdem ist sein Schulbegleiter sehr nett. Er macht Witze, und es ist interessant, die Meinung von jemandem zu hören, der die Schule zum zweiten Mal besucht.

Mein Mitschüler ist schon lange keine Belastung mehr für die Klasse. Er gehört einfach dazu.

Thorben Kuchel, Klasse 10b, Gymnasium Meiendorf