Eine Kriminalbeamtin spionierte viele Jahre lang Hamburgs Autonome aus. Im linken Kulturzentrum und im Radiosender FSK. Sie ging offenbar sogar Liebesbeziehungen ein. Der Einsatz bringt die Ermittler in Erklärungsnot. Ein Lagebericht zu einer undurchsichtigen Lage

Werner Pomrehn spricht nur von „der verdeckten Ermittlerin“. Er nimmt ihren Namen nicht mehr in den Mund. Aus dem Lautsprecher in dem Studio hinter ihm läuft leise Rock ’n’ Roll. Vor den Mikrofonen und am Mischpult sitzt gerade niemand, die Sendung ist aufgezeichnet. Zigarettenqualm wabert über der Sitzecke in den Redaktionsräumen des linken Radiosenders Freies Sender Kombinat (FSK) im Schanzenviertel, als Programmmacher Pomrehn von „der Ermittlerin“ erzählt.

Fast fünf Jahre lang war Iris P. als verdeckt arbeitende Polizistin in Hamburgs linker Szene im Einsatz. Im gefälschten Ausweis stand ihr Deckname: Iris Schneider. Sie hatte sich eine Vergangenheit erdacht, so wie es Spione machen, um sich Zugang zu verschaffen. Jahrgang 79, aus Hannover nach Hamburg gezogen, lesbisch, Kontakt zur Familie abgebrochen. Das Gesetz erlaubt verdeckten Ermittlern die Täuschung. Sie führen ein wahres und ein falsches Leben gleichzeitig. Staatlich verordnete Schizophrenie.

Schneiders Legende hielt über eine lange Zeit, sie gelangte in verschiedene Politgruppen: zu den Feministinnen, den Bauwagen-Autonomen, zur Roten Flora. Eine wertvolle Quelle für die Behörden. Und eine Quelle, die irgendwann auf eigene Faust handelte?

Der Fall Iris Schneider bereitet den Behörden derzeit viel Arbeit. Abgeordnete fragen beim Bundesinnenministerium und beim Senat an, überregionale Zeitungen berichten. Die linke Szene feiert die Enttarnung Schneiders auch als Niederlage der Behörde. Die große Aufregung hängt auch damit zusammen, dass die Polizistin eines Tages unter ihrem Decknamen beim linksalternativen FSK von Pomrehn und seinen Mitstreitern aufkreuzte. Ein Spartensender, mit Schnittmengen auch zu Flora-Aktivisten, aber lizenziert durch die Medienanstalt. Und durch die Pressefreiheit geschützt vor schwerwiegenden Eingriffen der Behörden.

Schneider half bei Konzerten, berichtete live von Demonstrationen der Linken

Schneider half bei Konzerten, trug Kabel, sie arbeitete als Reporterin bei Demonstrationen gegen Neonazis und war Teil der Redaktion „Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen“. Sie habe so Einblick in Quellen und Informanten des Senders erhalten, sagt Martin Trautvetter vom FSK-Sendevorstand. Schneider war auch Teil der Redaktion, als der nicht autorisierte Mitschnitt eines Interviews mit einem Pressesprecher der Polizei zu einer Razzia beim FSK führte. Das Bundesverfassungsgericht wertete die Durchsuchung der Polizei Jahre später als Verstoß gegen die Rundfunkfreiheit. 2003 war das. Pomrehn und Trautvetter sehen die Arbeit der verdeckten Ermittlerin als Teil einer Kette von Repressionen gegen den Sender.

Damals, 2003, war Iris Schneider schon mehr als ein Jahr Spitzel in der linken Szene. Sie blieb es bis 2006. Das alles liegt lange zurück, in politisch hitzigen Zeiten. 1999 wurde der Dienstwagen des damaligen SPD-Innensenators Hartmuth Wrocklage vor seinem Haus in Brand gesetzt. Ein Jahr später ging ein Lufthansa-Bus in Flammen auf, kurze Zeit später flogen Farbbeutel auf das Wohnhaus des damaligen Lufthansa-Chefs. Der militante Protest galt der Abschiebepraxis von Flüchtlingen durch die Behörden. Die Polizei sah in Bekennerschreiben eine Nähe der Anschläge zu Autonomen, und deren Zentrum sei die Rote Flora. Das Flora-Pamphlet „Zeck“ dokumentiert bis heute regelmäßig Gewaltaktionen.

Als Schneider im August 2001 im Auftrag des Landeskriminalamtes in der Szene ihre Arbeit begann, regierten noch SPD und Grüne. Olaf Scholz war Innensenator. Kurz danach übernahm die CDU die Macht, in einer Koalition mit der FDP und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive. Der Rechtspopulist Ronald Schill wurde Innensenator. Er ließ Bauwagenplätze räumen, Drogenkonsumräume wie der „Fixstern“ wurden geschlossen. Ende 2001 starb ein mutmaßlicher Drogendealer, nachdem ihm im Institut für Rechtsmedizin Brechmittel zugeführt wurden. Er war dabei beobachtet worden, wie er offenbar mit Drogen gefüllte Kügelchen heruntergeschluckt hatte. Nach dem Tod des Afrikaners gab es auch gewalttätigen Protest durch Linksextremisten.

Und Iris Schneider zog ihre Kreise in der Szene. Nett sei sie gewesen, half bei Umzügen, ging abends mit in die Kneipe, erzählen Aktivisten heute. Sie beherrschte den Kodex der Subkultur. „Manchmal kommen Leute zu uns, bei denen wir uns schon fragen, warum sie sich in der Flora engagieren wollen. Bei Iris Schneider war das nicht so, sie fügte sich in die Szene gut ein“, sagt Flora-Aktivist Andreas Blechschmidt. Schneider schloss Freundschaften, nutzte diese, um in verschiedene Gruppen zu gelangen, auch zum FSK. Die Journalistenunion kritisiert dies heute als „krassen Eingriff in die Rundfunkfreiheit“. Und Schneider soll zwei Liebesbeziehungen mit Linken eingegangen sein. Es ist der Punkt, an dem ihre Geschichte an einen Agenten-Film erinnert.

Die Geschichte der Iris Schneider erzählt von Paragrafen, die ihren Einsatz regeln sollten, von Wut und Enttäuschung in der Szene. Und von der Frage, wie weit ein Staat gehen darf, wenn er Informationen über seine Gegner sammelt. „Sie hat uns belogen und betrogen, Freundschaften und Beziehungen geführt und so auch intimste Einblicke in unsere Leben und unsere Befindlichkeiten gewonnen“, heißt es in einem Bericht der Flora, in dem Aktivisten den Fall aus ihrer Sicht rekonstruiert und im November öffentlich gemacht haben.

Schon bald nach Beginn ihres Einsatzes kam bei einzelnen Linksautonomen der Verdacht auf, Schneider arbeite für die Polizei. Doch eine Recherchegruppe fand nichts heraus. Andere Aktivisten verteidigten Schneider, irgendwann versandeten die Vorwürfe. Erst 2004, als radikale Linke gegen die Räumung des Bauwagenplatzes „Wendebecken“ protestierten und auch Schneider mitmischte, konfrontierten Aktivisten sie. Schneider gab sich „enorm verletzt“, wandte sich ab, heißt es in dem Bericht. Ihre Legende aber hielt stand. Die Polizistin hatte wieder Spielraum.

Es ist ein selbstkritischer Bericht der Flora-Aktivisten, der viel erzählt von Arroganz, Scham und Fehleinschätzungen der Szene. Auch beim Radiosender FSK suchen sie nun nach alten E-Mails und früheren Sendungen, an denen Schneider mitgewirkt hat, und sprechen mit Mitarbeitern, die sie kannten. Vieles bleibt heute eine Spurensuche, die Recherche ein Puzzle.

Auch die Innenbehörde hat recherchiert. Senator Michael Neumann (SPD) hatte eine Ermittlungsgruppe eingesetzt, Tausende Seiten Akten hätte diese noch einmal auf Hinweise durchforstet. Und doch seien fast alle Akten bereits vernichtet worden, aus Gründen von Datenschutz und Fristen.

Am vergangenen Dienstagabend ist der Sitzungssaal 151 im Rathaus bis auf wenige freie Plätze gefüllt. Fast anderthalb Stunden referiert Bernd Krösser, Abteilungsleiter für öffentliche Sicherheit, über die Ergebnisse. Sogar manche Aktivisten im Publikum sind von den intensiven Bemühungen des Senats positiv überrascht.

Fest steht: Von August 2001 bis Ende März 2006 arbeitete Iris Schneider verdeckt in der linken Szene – über fast den gesamten Zeitraum als sogenannte Beobachterin für Lageeinschätzung, als BFLerin. Und ab 2002 als verdeckte Ermittlerin in zwei Strafverfahren der Generalbundesanwaltschaft (GBA) in Karlsruhe. Zunächst unter Führung des Bundeskriminalamtes, dann unter dem LKA in Kiel. Iris Schneider war über Jahre eine Agentin im Doppeleinsatz, für drei verschiedene Behörden, Einsätze mit unterschiedlichen Rechten.

Um das zu verstehen, muss man eintauchen in die Verästelungen des Rechts. Nach Paragraf 12 des Polizeilichen Datenerhebungsgesetzes darf die Behörde verdeckte Ermittler einsetzen – bei „Gefahr in Verzuge“ sogar ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft. 2001 sah die Polizei nach den Anschlägen einen Grund, Iris Schneider in die autonome Szene zu schicken. Dauerhaft aber konnte sie als verdeckte Ermittlerin nur mit Beschluss eines Staatsanwalts weiterarbeiten. Deshalb, so rekonstruiert die Behörde heute, sei Schneider vor allem als „Beobachterin für Lageeinschätzung“ unterwegs gewesen. Gefahr war offenbar nicht mehr im Verzug, aber auf Schneiders Informationen wollte die Polizei nicht verzichten, schließlich ist es zeitaufwendig, riskant und teuer, eine Ermittlerin in eine Szene einzuschleusen. Iris Schneider war schon da.

Mit ihrem Status als BFLerin durfte sie keine Daten über Personen sammeln, sondern nur die „Gesamtlage einschätzen“. Der Polizei kann das helfen, um autonome Gruppen einzuordnen oder von militanten Aktionen im Vorfeld zu erfahren. Ab April 2002 jedoch erhielt Schneider einen weiteren Status. Sie wurde verdeckte Ermittlerin, sammelte bis 2006 für die Bundesanwaltschaft Daten zu bestimmten Personen der Szene in zwei Strafverfahren. Zu Einzelheiten und der „Schwere der Straftat“ äußert sich die GBA nicht. Die Betreuung blieb die gesamte Zeit über in der Hand des Hamburger LKA. Das jedenfalls war die Theorie.

Wie jede radikale Szene schotten sich auch Hamburgs Autonome ab

Aber konnte sie das alles trennen, immer sauber nach den jeweiligen Dienstvorschriften agieren? Die Polizei sagt heute, ihr sei „diese anspruchsvolle Aufgabe“ gelungen. Datenschutz und Rechtsrahmen seien von ihr immer beachtet worden, jedenfalls nach Lage der Akten und Erinnerungen. Flora-Aktivist Blechschmidt und Politiker der Opposition haben daran Zweifel.

Wie jede radikale Szene schotten sich auch Hamburgs Autonome gegen Behörden ab. Der Staat ist ihr Feindbild, Gewalt schließen viele nicht aus. Was wäre es für eine Polizei, würde sie nicht versuchen, Informationen aus der Szene zu gewinnen? Eskaliert die Gewalt, fragen Bürger, warum die Polizei nichts habe tun können. Aktivisten der Flora rechnen mit Beschattung. „Es gab Spitzel, und es wird immer Spitzel des Staates geben“, sagt einer. Nur hat ein Rechtsstaat Spielregeln. Anders als manche Autonome.

Sicherheitsexperten halten im Gespräch mit dem Abendblatt Schneiders Doppeleinsatz für „ungewöhnlich“. Selbst die Innenexperten aller Bürgerschaftsfraktionen baten um Zeit, um die Erklärungen der Polizei im Protokoll nachzulesen. Rechtswissenschaftler Bernd-Rüdeger Sonnen hält Schneiders Einsatz für „umstritten“ und spricht von einer „rechtlichen Grauzone“. Der emeritierte Professor der Hamburger Universität sagt, dass ein Doppeleinsatz auf Dauer nur dazu führen könne, dass „Aufträge und Informationen gegeneinander ausgespielt werden“. Im Januar tagt der Innenausschuss noch einmal zu dem Thema. Senator Neumann hat schon angekündigt, die Dienstvorschriften zu prüfen.

Seit 2011 wird in Deutschland viel über die Arbeit der Sicherheitsbehörden in extremistischen Szenen diskutiert. Nachdem die Rechtsterroristen des NSU durch einen Zufall aufflogen, wurde bekannt, dass Informanten des Verfassungsschutzes teilweise die Szene prägten. Behörden spielten sich gegenseitig aus. Nicht in Hamburg. Aber auch hier steigt der Druck, für mehr Transparenz zu sorgen.

Doch wo Akten fehlen, ist Aufklärung schwierig. Im Fall Schneider hätten die Hamburger LKA-Beamten nichts von den Liebesbeziehungen gewusst, sagt die Behörde heute. Auch Schneiders Arbeit in der Redaktion des FSK sei nicht bekannt gewesen. Wenn das so war, spricht es nicht für eine gute Zusammenarbeit zwischen dem LKA und seiner Ermittlerin. Eine schriftliche Begründung für Schneiders Einsatz als „Szenebeobachterin“ konnte zudem nicht mehr gefunden werden.

Die Mehrheit der Politiker im Bundestag hält verdeckte Ermittler für notwendig, manche nach dem V-Leute-Debakel in der NSU-Mordserie umso mehr. Aber wie viel Transparenz verträgt ein Polizeieinsatz, der ohne Täuschung nicht funktionieren kann?

Als Konsequenz aus der NSU-Mordserie wurden die Richtlinien für verdeckte Ermittlungen genauer gefasst. Den Austausch zwischen den Behörden über solche Mitarbeiter aber wollen Polizei und Anwaltschaft begrenzt halten, damit nicht doch über Umwege oder Zufälle die Identität der Spitzel bekannt wird.

Zufällig auch traf ein Mitglied der Szene Ende 2013 Iris P. wieder, bei einer Veranstaltung über islamistische Gotteskrieger. Die Frau, die sich Iris Schneider nannte, war schon Jahre raus aus der autonomen Linken. Den Besuchern stellte sich Schneider als Beamtin des LKA vor. Jetzt: Abteilung Prävention islamistischer Extremismus. Sie war enttarnt. Ihr falsches Leben holte ihr wahres Leben doch noch ein.