Prozess-Auftakt: Die angeklagten Pflegeeltern wollen nicht schuld am Methadon-Tod der Elfjährigen sein.

Neustadt. Chantal wäre heute 14 Jahre alt, am 7. April würde sie ihren 15. Geburtstag feiern. Ihre Pflegemutter sagt, sie habe sich gewünscht, dass die Kleine die Pubertät erlebt hätte und wie schön es ist, erwachsen zu werden. Sylvia L. denke häufig an ihre Pflegetochter. Besonders an ihr freches Lächeln.

Chantal ist tot. Das Mädchen wurde nur elf Jahre alt. Es starb am 16. Januar 2012 an einer Überdosis Methadon. Schuld daran sollen laut Staatsanwaltschaft die drogensüchtigen Pflegeeltern sein: Sylvia L., 50, und Wolfgang A., 54, hätten den Heroin-Ersatzstoff achtlos herumliegen lassen, sodass die Elfjährige am Abend des 15. Januar eine Methadon-Tablette einnehmen konnte. Angeklagt sind die Pflegeeltern wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht.

Fast drei Jahre nach Chantals Tod hat am Montag der Prozess vor dem Landgericht begonnen – nur wenige Tage nach dem Urteil im Fall der zu Tode geprügelten drei Jahre alten Yagmur. In beiden Fällen waren dem Jugendamt schwere Fehler vorgeworfen worden.

Am Montagmorgen sitzt Wolfgang A., Chantals Pflegevater, im Saal 390. Ein kleiner, dünner Mann, der Sachen trägt, die Jugendliche gern tragen: eine breite, ausgeleierte Jeans, T-Shirt, Kapuzenpullover. Ähnlich leger erscheint die an der Lippe gepiercte Sylvia L. vor Gericht. Beide sehen recht verlebt aus, was die langjährige Abhängigkeit von harten Drogen erklären dürfte. Ja, sie machten sich fortlaufend Vorwürfe, lautet der Tenor der von den Verteidigern verlesenen, persönlichen Erklärungen der Angeklagten. Aber schuldig im Sinne der Anklage? Das wiederum nicht. Vier Kinder, die Eltern und drei Hunde teilten sich die 105-Quadratmeter-Wohnung an der Fährstraße in Wilhelmsburg. Ungepflegt sei die gewesen, heißt es in der Anklageschrift.

Im Wohnzimmer stand eine frei zugängliche „Klappbox“ mit opiodhaltigen Mitteln. Die Kinder – zwei leibliche, zwei Pflegekinder – hätten sich zum Schlafen eine Matratze teilen müssen. An Hausaufgaben sei nicht zu denken gewesen. Die Pflegeeltern hätten Chantal zudem zu Hause rauchen lassen, auf ihr Betreiben hin habe sie Zeitungen austragen müssen – das Geld dafür hätten die Pflegeeltern eingesteckt. Alles in allem „bestand die Gefahr einer erheblichen psychischen und physischen Störung“, sagt der Staatsanwalt.

Es sind Vorwürfe, die Sylvia L. in ihrer Erklärung Punkt für Punkt zurückweist: Die Wohnung sei „immer sauber, schlimmstenfalls mal unordentlich“ gewesen, auch hätten sie und ihr Partner stets auf eine angemessene Kleidung der Kinder geachtet. Das Methadon hätten sie in der Garage deponiert – jedenfalls nicht in der Wohnung.

Die Tablette hatte Chantal am Abend vor ihrem Tod geschluckt – offenbar glaubte sie, es handele sich um ein Mittel gegen Übelkeit. Ihre Pflegeeltern waren zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wohnung. Gegen 21 Uhr rief Chantal ihre Pflegemutter an. Sylvia L. riet ihr darauf, Tropfen gegen die Beschwerden zu nehmen. Um 6 Uhr sah der inzwischen zurückgekehrte Vater nach Chantal. Weil er sie nicht aufwecken konnte, ließ er sie weiterschlafen, fuhr gegen Mittag zur Arbeit – obgleich er laut Staatsanwaltschaft wusste, dass seine Partnerin erst am Nachmittag wieder zu Hause ist. Er sei davon ausgegangen, dass Chantal allergisch auf Lebensmittel reagiert habe wie schon zwei Wochen zuvor, sagt Wolfgang A.

Sie habe am Abend zwei türkische Pizzen gegessen und dann über Übelkeit geklagt. Am nächsten Morgen sei sie „dösig“ gewesen. „Ich dachte, sie braucht Ruhe, und ließ sie deshalb liegen.“ Er habe den Ernst der Lage nicht erkannt und überhaupt nicht daran gedacht, dass sich das Kind in Lebensgefahr befinden könnte, sagt der 54-Jährige. Am Nachmittag starb Chantal. Hätte Wolfgang A. sich pflichtgemäß verhalten und einen Arzt verständigt, hätte das Kind „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ gerettet werden können, sagt der Staatsanwalt.

Drogen, Alkohol, Verwahrlosung – das alles überschattete Chantals Leben. 2008 hatte sich das Mädchen mit dem leiblichen Sohn der Angeklagten angefreundet. Weil Chantals leibliche, drogenabhängige Mutter mit der Erziehung überfordert gewesen war, hatten ausgerechnet die ebenfalls drogenkranken Angeklagten sie 2008 in Absprache mit der Mutter und dem Jugendamt Mitte in Pflege genommen.

Eine weitere Pflegschaft hatten sie für Sylvia L.s Enkelin übernommen. Grund: Auch deren Mutter – die älteste Tochter von Sylvia L. aus einer früheren Beziehung – sei drogenabhängig gewesen. Mindestens eins der Kinder soll im Kinderheim leben. Die älteste Tochter des Paares, 19, ist bereits ausgezogen.