Wie geht es mit der MS „Deutschland“ nach der Insolvenz weiter? Wie konnte es überhaupt zu der Pleite des beliebten ZDF-„Traumschiffs“ kommen? Eine Analyse

Es war im Frühsommer 2014, als auf der MS „Deutschland“ der Kanzler der Einheit zu Boden ging. Im „Kanzler-Zimmer“ auf Deck 7 hängen seit Jahren die gemalten Konterfeis der deutschen Spitzenmänner in trauter Reihe an der Wand. Adenauer genauso wie Brandt und Kohl. Ausgerechnet an jenem repräsentativen Ort, wo der Blick über den Gang auf das freie Meer geht und Passagiere dinieren können, stieß ein Gast an das Bild von Helmut Kohl.

Es stürzte auf die Erde. Glasbruch. Viele Wochen lang blieb der Platz für die Zeichnung leer; nur ein schemenhafter Rand erinnerte daran, dass da jemand fehlt.

Inzwischen ist das Bild repariert und das Kabinett komplett. Aber es fehlen Gäste, die hier speisen. Mit einer Notbesatzung dümpelt das Fünf-Sterne-Schiff, 1998 in Kiel gebaut und von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker getauft, seit fast einer Woche vor der spanischen Küste. Der Beteiligungsgesellschaft der MS „Deutschland“ mit der Deilmann-Reederei in Neustadt (Holstein) fehlt das Geld für den Werftaufenthalt mit dem fälligen Schiffs-TÜV und erst recht für die Weiterfahrt. Seit Oktober läuft das Insolvenzverfahren (das Abendblatt berichtete). Es gibt Schulden von rund 56 Millionen Euro; die Gehälter für die Crew sind nur noch einige Wochen lang gesichert. Es droht sogar der Notverkauf. Mit Hochdruck werden Investoren gesucht. Mit 15 Interessenten ist die Insolvenzverwaltung in Gespräch. Eventuell könnte an diesem Mittwoch die mit Spannung erwartete Entscheidung fallen.

Längst ist aus dem ZDF-„Traumschiff“ für Anleihegläubiger ein Albtraum geworden, weil sie voraussichtlich sehr viel Geld verloren haben. Und während die mehr als 280 Crewmitglieder und Mitarbeiter an Land um ihren Job bangen, beginnt für die Passagiere der Traum von der nächsten Reise in weite Ferne zu rücken. Weihnachten rund um die Kanaren? Weltreise in die Südsee? Amazonas-Törn 2016? All das steht jetzt in den Sternen, die wie ehedem über dem Mittelmeer leuchten – egal ob auf dem einzigen Urlaubsdampfer unter deutscher Flagge mit dem staatstragenden Namen die Lichter ausgehen werden oder nicht. Dabei gibt die Buchungslage für 2015 viel Anlass zur Hoffnung.

Wie schnell Träume platzen und ein Mythos vom Zenit absteigen kann, lässt sich auf dem 175 Meter langen Schiff beobachten: Die Decks sind leer gefegt, die meisten der 288 Kabinen geschlossen. Champagner, Lachs, Fellchen aus dem Bodensee und Hasenbraten gibt’s nicht mehr. Auch keine gedruckte Tagesvorschau, kein Betthupferl aus Schokolade und schon gar nicht ein Fünf-Gänge-Menü mit Kerzenlicht im Vier Jahreszeiten.

Keiner trifft sich mehr um 15.30 Uhr zur besinnlichen Teestunde auf der lichtdurchfluteten Lido-Terrasse zum Harfenspiel einer russischen Künstlerin. In edlem Porzellan wurden hier täglich Tee und Kaffee gereicht, während die älteren Herrschaften in gehobener Garderobe den Klängen lauschten und reichlich Personal mit weißen Handschuhen beflissen Kuchenhäppchen servierte. Das gesamte Equipment der Künstler ist in mehrere Kabinen verstaut und wartet im Ernstfall auf den Rücktransport in die Heimat. Längst schweigen die Lautsprecher, die beliebte „Traumschiff“-Melodie von James Last erklingt nicht mehr. Früher, als das „Traumschiff“ einen Hafen nach dem anderen verließ, um zu neuen Horizonten aufzubrechen, ertönte die maritime Hymne jedes Mal.

Das „Traumschiff“ – es gleicht in diesen Tagen, bei allem Respekt, einem Geisterschiff.

Das High-Society-Leben auf dem schwimmenden Grandhotel, das vom Stil der 1920-Jahre inspiriert ist, existiert nur noch in der Erinnerung jener, die dafür einst bezahlt haben. Vor allem die vielen Wiederholungsgäste dürften schon jetzt ihr „Traumschiff“ vermissen. Wer hier insgesamt mehr als ein Jahr in einer der Außen- oder Innenkabinen verbracht hat und vom Kapitän mit Ehrennadeln für die Treue zur Reederei bedacht wurde, verliert ein Stück Heimat, sollte die „Deutschland“ tatsächlich nach Asien verkauft oder versteigert werden. „Willkommen zu Hause“, pflegte Kapitän Andreas Greulich bei seinen Begrüßungsritualen zu sagen. Die MS „Deutschland“ konnte sich immer wieder auf ihr treues Publikum verlassen, das sich meist im Seniorenalter befindet.

Man kennt sich eben in diesem schwimmenden Dorf. Wer zum sechsten Mal innerhalb eines Jahr seine Außenkabine in Bibliotheksnähe auf Deck 8 bezieht, bekommt ohne Bestellung seinen Lieblingswein serviert. Wünsche werden erfüllt, bevor sie ausgesprochen sind. Die Crew achtet aufmerksam auf die Bedürfnisse der Gäste. Man spricht Deutsch und sich mit Namen an. So hat sich in diesem Mikrokosmos auf den Ozeanen der Welt zwischen den maximal 480 Passagieren und 280 Crewmitgliedern ein fast familiäres Verhältnis entwickelt, das es auf den großen Pötten mit mehr als 2000 Passagieren gar nicht mehr geben kann. Die Stammkunden üben allerdings auch eine gewisse Macht aus: Sie entscheiden mit, wer als Künstler bei den nächsten Reisen wieder auftreten kann oder nicht.

Vor allem die hochbetagten Gäste wissen den persönlichen Service zu schätzen. In einem Seniorenstift an Land kann die Rundumversorgung kaum besser sein. Und anders als im Heim oder in der eigenen Wohnung, wo wenig passiert, muss sich hier niemand einsam fühlen. Vorausgesetzt, die Kleiderordnung stimmt. Smoking oder wenigstens Krawatte mit Anzug sind Pflicht für den Herrn bei Gala-Veranstaltungen im Kaisersaal auf Deck 6 mit den plüschigen roten Sesseln und den glanzvollen Kronleuchtern. Wer allerdings keine Krawatte und Jackett hat, weil der Koffer bei der Flugreise abhandengekommen ist, muss draußen bleiben. So streng sind die Sitten.

Um allein reisende Damen kümmern sich spezielle männliche Hosts, die sonst nur noch auf britischen Schiffen anzutreffen sind. Früher wurden sie Eintänzer genannt. Die ebenfalls etwas älteren, aber gepflegten Herren geleiten die Damen zum Tanze auf das Parkett. Die Kreuzfahrtdirektoren achten akribisch darauf, dass die Hosts nicht einzelne Damen links liegen lassen. Zum Tanze geführt werden muss jede, die dies wünscht – Sympathie hin oder her.

Es scheint also ein bisschen, als sei die Zeit auf der MS „Deutschland“ stehen geblieben. Wo bronzene Büsten von Goethe, Schopenhauer und anderen Geistesgrößen überlebensgroß grüßen und Bilder von Filmstars der 1920er- und 30er-Jahre monumental das Treppenhaus prägen, lebt eine Epoche fort, die sich jüngeren Gästen nicht mehr erschließt. Sie wollen mehr Platz für Wellness und weniger Etikette, keine festen Tischzeiten und am liebsten Verzehrmöglichkeiten rund um die Uhr. All das bietet die MS „Deutschland“ nicht – genauso wenig Außenbalkone und einen großen Pool. Ein jüngeres Publikum braucht auch nicht die vielen erlesenen Kunstwerke im Wert von mehreren Millionen Euro und die Mitarbeiter, die den ganzen Tag damit beschäftigt sind, das Geländer im Treppenhaus blitzblank zu putzen. Warum, so fragen manche junge Reisende sich, muss alles ein teures Gesamtkunstwerk sein, wo man doch nur ein bisschen Spaß auf See haben und ferne Ziele auf der Welt entdecken will? Viereinhalb Sterne reichen doch auch, was für den Eigentümer deutlich billiger wäre.

Als der schleswig-holsteinische Reeder Peter Deilmann (1935 bis 2003) zum Eigner des damals besten deutschen Kreuzfahrtschiffes aufstieg und 1999 mit der MS „Deutschland“ die erfolgreiche ZDF-„Traumschiff“-Kooperation fortgesetzt wurde, stand das Unternehmen auf der Sonnenseite. Noch immer hofft das ZDF, dass der für Anfang nächsten Jahres geplante „Traumschiff“-Dreh in der Südsee auf der „Deutschland“ stattfinden kann. Die Marke „Traumschiff“ werde erhalten bleiben, sagte ein ZDF-Sprecher. Mit Noblesse repräsentierte die „Deutschland“ in all den Jahren die vereinte Nation. Und selbst auf einer der bislang letzten Reisen ließen es sich Deutsch-Schülerinnen einer kalabrischen Tanzgruppe Ende Oktober bei kühlen Außentemperaturen im Hafen von Crotone nicht nehmen, der „Botschafterin aus Deutschland“ hüftschwingend ihre Reverenz zu erweisen. Seit jenen Tagen im Oktober ist aber klar: Es gibt kein Geld mehr. Die Weiterfahrt des Schiffes musste sogar über die Zurich-Versicherung finanziert werden, die kurzfristig 1,6 Millionen Euro bereitstellte. Bislang ohne öffentlich bekanntes Ergebnis bemüht sich die Beteiligungsgesellschaft mit dem Kieler Insolvenzverwalter Reinhold Schmid-Sperber um Lösungen. „Uns liegen knapp 15 ernst zu nehmende Anfragen vor. Wir werden nun mit allen Interessenten Verhandlungen aufnehmen“, sagte Schmid-Sperber zu möglichen Investoren. „Neben der Erzielung eines hohen Kaufpreises ist uns insbesondere daran gelegen, möglichst viele Arbeitsplätze auf dem Schiff und bei der Reederei zu erhalten.“

Einer der Interessenten ist das Münchner Unternehmen Callista Private Equity GmbH & Co. KG. Callista hält derzeit über eine Holding die Mehrheitsanteile an der MS „Deutschland“ Beteiligungsgesellschaft und an der Reederei. Vor allem bei den vielen Anleihegläubigern liegen die Nerven blank. Wenn es stimmt, dann wurden sie nach Ansicht von Juristen nicht hinreichend informiert. Im Jahr 2012 hatte die Aurelius AG als damalige Eignerin eine Mittelstandsanleihe im Wert von 50 Millionen Euro emittiert. Sie wurde mit einem Zinskupon von 6,8 Prozent pro Jahr ausgestattet. Grundlage für das Angebot bildete ein Gutachten, das den Wert des Kreuzfahrtschiffes mit immerhin 100 Millionen Dollar (77 Millionen Euro) angab. Experten bewerteten die Emission damals als „seriös“. Doch nun sagt der Münchner Fachanwalt Christian Luber der Kanzlei CLLB Rechtsanwälte (München/Berlin/Zürich) nach der Gläubigerversammlung am 12. November: „Der Emissionsprospekt ist nach unserer Bewertung fehlerhaft.“ Von einem fundierten Gutachten könne nicht die Rede sein. Die Expertise umfasse gerade mal zwei Seiten und sei zum Preis von 450 Euro erstellt worden. Aufgrund der Fehler könnten sich Rückabwicklungsansprüche für die Anleger ergeben, meint Luber. Die Folge nach Ansicht des Rechtsanwaltes: Die Prospektverantwortlichen könnten sich nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes „grundsätzlich schadensersatzpflichtig“ machen.

Welchen Kurs das „Traumschiff“ einschlagen wird, ist ungewiss. Es gibt zwar mit dem Unternehmen FTI einen interessierten Käufer. Doch der will Medienberichten zufolge gerade mal symbolisch einen Euro zahlen. Was für den Insolvenzverwalter mit Blick auf die Gläubiger kaum akzeptabel ist. Auch Callista gehört zu den relevanten Bietern. Der tatsächliche Marktwert des Albtraumschiffes soll jetzt bei weniger als zehn Millionen Euro liegen, heißt es in der Branche. Das aber hat die „Deutschland“ nicht verdient.