Eine zweistündige Tour vermittelt, welche Hindernisse Sehbehinderte überwinden müssen. Abendblatt-Autorin wagte den Selbstversuch

Eimsbüttel. Die Schritte sind langsamer, vorsichtiger. Hetzt man häufig durchs Leben, verlangsamt sich der Takt der Stadt, sobald man eine Augenbinde trägt. Auf Blindentour durch Eimsbüttel lässt sich erfahren, wie sich der Alltag von Sehbehinderten anfühlt.

Ohne Begleitung wäre diese Tour nicht möglich. Deshalb tun sich Sehende und „Blinde“ paarweise zusammen. Jene, die für diesen Abend blind sind, halten sich mit ihrer linken Hand am rechten Oberarm ihres Partners fest. Die Begleiter sind die einzige Sicherheit in der Dunkelheit. Charly Wright heißt der 64-Jährige, der mich zunächst führt.

Als Nichtsehende bin ich mit jedem Schritt unsicher, ob auch alles gut geht. Die Orientierungslosigkeit bleibt während der zweistündigen Tour, nur das Vertrauen zum sehenden Teampartner steigt mit jedem Schritt. Orientierungslos geht es von der Müggenkampstraße etwa 250 Meter weit zur U-Bahn-Haltestelle Lutterothstraße. Deutlich ist der Temperaturunterschied zwischen der kalten Herbstluft und der stickigen Luft im U-Bahn-Fahrstuhl zu spüren. Als Sehender dauert dieser Weg vielleicht fünf Minuten, als ungeübte Sehbehinderte brauchen wir 25 Minuten. Charly Wright macht mich aufmerksam, falls es eine Unebenheit gibt, wenn wir über die Straße gehen.

Der sogenannte Mobilitätslehrer Oliver Simon und Stefanie von Berg, Mitglied der Grünen Bürgerschaftsfraktion, hatten zu dieser Blindentour geladen. „Es geht darum, die Perspektive zu wechseln und nicht etwa um Mitleid mit Sehbehinderten“, sagt Grünen-Politikerin Stefanie von Berg. Oliver Simon, der Sehbehinderte schult und ihnen unter anderem die Benutzung des Langstocks erklärt und Strategien beibringt, möchte auch Sehenden zeigen, wie es ist, blind durchs Leben zu gehen. „Aber in einer Form, die nicht so arg pädagogisch ist. Es geht um die Wahrnehmung und darum zu gucken, was geht.“

Cornelia Mertens ist eine Teilnehmerin. Die 52-Jährige möchte erleben, wie es ist, als blinder Mensch durch ihren vertrauten Stadtteil zu gehen. „Es ist verstörend. Wenn ich auf die Straße gehe, und ein Auto kommt, werde ich überfahren.“ Sie erfährt an diesem Abend, wie viele Barrieren es in der Stadt für Sehbehinderte gibt. „Gehen Sie mit Ihrem Langstock mal bis an die Bahnsteigkante“, sagt Oliver Simon an der U-Bahn-Station Lutterothstraße. Mit dem Langstock lassen sich die Riffelungen im Boden ertasten, die auf die Bahnsteigkante hinweisen. Dann fällt der Stock ein wenig in den Abgrund.

Beängstigend ist es, blind über den Bahnsteig zu laufen. Die einfahrende U-Bahn ist zu hören, doch aus welcher Richtung sie kommt, ist gar nicht so einfach zu orten. Als die Gruppe die Bahn nach einer kurzen Fahrt an der Haltestelle Emilienstraße verlassen will, erlebt Cornelia Mertens, wie hilflos man sich fühlen kann: Sie will gerade mit ihrem Langstock die Bahn verlassen, als die Türen schließen und sie eingeklemmt wird. „Ich war halb draußen und halb in der U-Bahn. Das war schrecklich“, sagt sie. Sie sei fassungslos über diese Rücksichtslosigkeit des U-Bahn-Fahrers.

Der Spaziergang geht weiter. Man lauscht an der Ecke Heußweg/Osterstraße und sucht das gleichmäßige Knacken der Fußgängerampel. Ich finde den Ampelpfosten, drücke einen speziellen Knopf. Dadurch piept die Ampel bei der nächsten Grünphase, und die Gruppe kommt über die Straße. Ob ein Linksabbieger uns sieht? Hoffentlich. Denn Augenkontakt mit Autofahrern ist mit Augenbinde ja nicht möglich. Blindentour-Teilnehmer Charly Wright hat es ein wenig auf diesen Kick abgesehen: „Als junger Mann habe ich beim Motorradfahren manchmal die Augen geschlossen. Das war ein unglaublicher Adrenalinschub.“

Während der Tour durch Eimsbüttel erfuhren die Teilnehmer nicht nur, dass manche U-Bahn-Fahrer rücksichtslos sein können. Auch baulich ist noch eine Menge zu tun. Stefanie von Berg: „Es fehlen Markierungen an Wegen, längst nicht jede Ampel hat auch eine Blindenfunktion.“ Nach der Tour hat sie kein Mitleid mit Sehbehinderten, sondern ihre Hochachtung ihnen gegenüber sei gestiegen. Hamburg ist zwar von Barrierefreiheit noch entfernt, doch: „Die Stadt steht nicht schlechter da als andere deutsche Städte“, sagt Oliver Simon. „Das sehen Selbsthilfegruppen womöglich anders. Meine Erfahrung ist, dass es vonseiten der Planer und Entscheider grundsätzlich eine große Aufgeschlossenheit für das Thema gibt.“

Bei einem Umgestaltungsprozess könne es an vielen Stellen haken, aber die Einsicht und die Entschlossenheit, die Dinge zu verbessern, die sei da. Simon: „Es muss viel mehr auf eine blendfreie Beleuchtung geachtet werden und auf eine kontrastreiche Gestaltung von Stufen und Kanten. Dann wäre viel gewonnen.“ Wer sehbehindert ist, hat häufig nur noch ein geringes Sehvermögen. Simon schlägt daher vor, Straßenpoller und Fahrradständer in einen freundlichen, hellen Ton zu produzieren statt im Einheitsgrau.