Er ist krank, aber gibt nicht auf: Der 85-jährige Walter Meier baut ein Schiff. Mithilfe seines Pflegedienstes

Eine Tablettenbox steht auf der Anrichte: Montag, Dienstag, Mittwoch... für jeden Tag der Woche ein eigenes Fach. Daneben ein Beutel mit Einwegspritzen, weitere weiße Medikamentenschachteln. Unten auf dem Fußboden blinkt die rote Lampe einer Akku-Aufladestation – für die neue Bohrmaschine, die sich Walter Meier vor einigen Tagen gekauft hat.

Der 85-Jährige hat drei Schlaganfälle erlitten, war zuletzt lange im Krankenhaus. Täglich kommt für wenige Minuten ein Pflegedienst vorbei. Er schaut, ob Herr Meier die richtigen Medikamente nimmt, hilft ihm beim Anlegen der Kompressionsstrümpfe. Bücken, gehen, das fällt ihm jetzt schwer. Sein Leben beschränkte sich zuletzt auf die kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Rothenburgsort, wo er mit seiner Frau zwischen den wuchtigen, antiken Möbeln lebt, die einmal im eigenen Haus standen.

Doch vor einigen Wochen, als wenige Kilometer weiter auf dem Hamburger Messegelände Yacht-Neuheiten ausgestellt wurden, hatte er plötzlich eine Idee. Seitdem baut Walter Meier auf einer Rasenfläche zwischen zwei Wohnblöcken ein Boot. Aus groben Holzplanken und mit leichtem Werkzeug. Stück für Stück und bestaunt von Nachbarn, die den großen weißhaarigen Mann dort täglich sehen, wie er mit langsamen Bewegungen an seinem Rohbau werkelt.

Herr Meier war einst der jüngste Schiffsführer auf dem Rhein

„Es ging aber nicht anders, der Zug zum Wasser ist einfach noch groß“, sagt Meier und stemmt sich aus dem Wohnzimmersessel hoch. Aus einer Kommode holt er ein dickes Album und breitet sein früheres Leben aus. Als junger Mann in schneidiger Kapitänsuniform ist er auf Fotos zu sehen. Er war einmal der jüngste Schiffsführer auf dem Rhein, kommandierte große Passagierschiffe. Optimistisch, entspannt blickt der junge Schiffer in die Zukunft.

1929 war der Sohn eines Nordseefischers in Oldenburg geboren worden und ging selbst früh zur See. Er fuhr auf Fischkuttern und Seedampfschleppern mitten im Krieg. Nach der Kapitulation 1945 suchte er einen neuen Job, ging in die Rhein-Schifffahrt und machte seine Patente. Auf den Fotos in seinem Album ist ein weißer Dampfer zu sehen, die MS „Europa“. Er fuhr zwischen Bonn und Basel, oder bis nach Amsterdam. Oft waren auch ausländische Delegationen und Regierungsmitglieder an Bord des Bonner Schiffs. „Ich habe damals wohl jedem Minister schon die Hand geschüttelt“, erzählt Meier.

Dann wollte er sich selbstständig machen. In einem Zeugnis, das er noch hat, findet ein Arbeitgeber höchstes Lob. „Der beste und tüchtigste Schiffsführer auf dem Rhein“, steht dort mit der Maschine auf vergilbtem Papier geschrieben. Und zur Kreditwürdigkeit: „Wenn es einer schafft, dann Meier.“

Er kaufte sich zunächst ein kleines französisches Flussschiff, eine „Penische“. Die Klöcknerwerke suchten damals Binnenschiffer, die Eisen nach Frankreich brachten. Bis Lyon gingen die Fahrten auf den Kanälen und Flüssen. Später kaufte sich Meier ein 1000-Tonnen-Schiff. Voller Stolz ist er auf den Fotos zu sehen, mit dem langen Frachter. Er hatte inzwischen geheiratet, vier Kinder gezeugt und besaß ein schönes Haus in Bremen. Die großen Reedereien und Konzerne überließen es gerne den selbstständigen Schiffern, den Partikulierern, die wieder aufblühende Binnenschifffahrt zu übernehmen. Selbstausbeutung sei nicht verboten, sagte seinerzeit ein Manager. Aber Meier und seine Kollegen hatten ein auskömmliches Einkommen. „Man konnte auch wieder in die Schiffe investieren“, sagt er.

Als er um die 50 Jahre alt ist, wird seine Frau schwer krank. Mehrere Tumore werden diagnostiziert.

Meier entschließt sich, die Pflege selbst zu übernehmen, nimmt seine Frau mit an Bord, die Kinder bleiben in der Zeit bei der Tante. Fotos im Album zeigen, wie seine Frau auf der flachen Ladeluke auf einer Liege liegt, dick in Decken gehüllt. Immer wieder aber zwingen Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche zum Stopp. Zeit ohne Einnahmen, Rücklagen kann er kaum bilden. Eine Pflegeversicherung gibt es noch nicht. 16 Jahre pflegt er seine Frau und fährt gleichzeitig weiter. Das Haus in Bremen ließ sich aber so nicht halten.

Als seine Frau starb, fuhr er weiter nach Amsterdam, nach Belgien, Frankreich in den Osten. Er heiratete wieder, und auch seine zweite Frau begleitete den Schiffer. Dann aber plante Anfang der 1990er-Jahre die CDU/FDP-Regierung ihr „Tarifaufhebungsgesetz“ für die Binnenschifffahrt. „Auf Druck der Großindustrie“, sagt Meier, und man hört die Verbitterung.

Tatsächlich warnten viele, dass das Ende eines festen Tarifsystems Existenzen vernichten würde im Konkurrenzkampf zwischen Groß und Klein. Manche CDU-Abgeordnete wankten, die FDP bestand aber auf der Liberalisierung des Marktes. Und der agile junge CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann sprach von einer großen „Chance“, die sich Leuten wie Meier jetzt biete. Tatsächlich brachen die Frachtraten dramatisch ein. Sein Schiff, das laut Gutachten zuvor noch gut 400.000 Euro Verkaufswert hatte, konnte er nur noch abwracken lassen. Eigentlich sollte der Verkauf als Alterssicherung dienen. Das war der Plan, der nun nicht mehr funktionierte: Etwas über 600 Euro Rente bekam Meier zuletzt.

Er zog nach Hamburg und gab nicht auf. Er war jetzt zwar im Rentenalter, „doch auf dem Arsch sitzen, das wollte ich nicht.“ Er wurde Parkwächter beim Hansa-Theater. Als ein neues Steuergesetz solche Jobs zu Fall brachte, heuerte er bei einem Sicherheitsdienst an, wo er noch mit über 80 Jahren arbeitete. Das Wasser ließ ihn aber nicht los. Er hatte ein altes Rettungsboot zum Holzsegler umgebaut, ein schönes Schiff mit traditionellen Linien. Ein Fluchtpunkt für ihn, um wie früher auf dem Wasser zu sein. Auch davon gibt es Fotos in dem Album, glücklich lächelt Meier darauf, ein alter Mann schon, aber noch voller Tatkraft.

Doch dann kam die Krankheit, die Zeit in den Krankenhäusern. Meier ließ sich überreden, das Boot zu verschenken. Was soll ein alter kranker Mann mit schmaler Rente damit auch? Nur den schweren Yamaha-Außenbordmotor behielt er. Eine Erinnerung, die ihn schließlich auf die Idee brachte, dem Schicksal doch noch einmal selbst eine Wendung zu geben. Sein Leben wieder selbst zu manövrieren. Wenn auch nur ein wenig.

Er besprach mit Manfred Schikora die Idee. Der Sozialpädagoge und gelernte Krankenpfleger ist Mitinhaber des Pflegedienstes, der Meier jetzt betreut. Nach erstem Zögern bekräftigte er seinen Patienten. „Man merkte, wie ihn das aufbaut, er will nicht aufgeben“, sagt Schikora, der mittlerweile den alten Mann in seiner Freizeit unterstützt, weil ihm das Projekt so imponiert. „Am Freitag hatten wir darüber gesprochen, am Montag hatte er schon die ersten Bretter gekauft.“ Er hilft beim Schrauben, holt Holz oder Farbe aus dem Baumarkt, steckt selbst Geld in das Projekt.

Denn viel hat Meier nicht, muss mit einfachem Werkzeug und billigem Holz auskommen. Grob wirkt daher die Konstruktion, dick hat Meier gerade den unteren Bereich mit Bitumenfarbe abgedichtet. Mit Spanngurten hat er die schweren Bretter rund gebogen. Mal steigt er sehr mühsam an einer Palette hoch in sein Boot, sodass man Angst hat, er könnte gleich fallen. Doch Meier fällt nicht. Und wenn er die Taue der Regenplane mit den großen Händen festzurrt, merkt man die Kraft, die er kurz noch aufbringen kann.

Immer wieder kommen Nachbarn vorbei, freuen sich sichtlich an dem ungewöhnlichen Holzbau, der dort zwischen den Hauszeilen wirkt wie eine Arche in der Wüste. Hausmeister schauten erst skeptisch, dann freundlich. Bis jetzt jedenfalls, eine Genehmigung hat Meier nie geholt, sondern einfach losgebaut. Ein Nachbar versprach, wenn alles fertig sei, das etwa sechs Meter lange Boot zur Elbe zu bringen. Wann das sein wird? Meier weiß es nicht. Aber vielleicht kommt es auf den Termin auch gar nicht an.