Serie, Teil 5: Uwe Seeler gelingt sein wichtigster Treffer – bei Ilka mitten ins Herz

Dieser Moment ist für Uwe noch aufregender als die Ligaspiele der Großen am Rothenbaum oder die Punktspiele seiner Schülermannschaft am Ochsenzoll: 1951 erfolgt der Start ins Berufsleben. Mit dem Volksschulabschluss in der Tasche hat der 14-Jährige ein klares Ziel, nachdem er nun doch nicht mehr Schlachter werden möchte.

Jetzt visiert er den Beruf des Schiffsmaklers an. Alle Versuche jedoch scheitern. Zu groß ist die Konkurrenz. Mächtig in der Klemme, besinnt sich „Old Erwin“ Seeler auf einen HSV-Fan: Herrn Klüver, Chef in einer Spedition in der Innenstadt.

Bei Schier, Otten & Co. handelt es sich um eine ehrbare Unternehmung. Die Hamburger Filiale ist im Philips-Haus an der Mönckebergstraße ansässig, etwa dort, wo sich heutzutage das Hyatt-Hotel und das Levante-Haus befinden. Sechs Angestellte und zwei Auszubildende teilen sich zwei Büroräume. Uwe ist der Dritte im Bunde.

Der Einstieg Anfang 1952 in diese noch fremde Berufswelt ist für das zu Hause verwöhnte Nesthäkchen, den „Zuckerjungen“, alles andere als ein Zuckerschlecken. Stundenlang sitzt der Auszubildende in der Registratur. Erster Job: Ablage, Ablage und noch einmal Ablage. Anfangs sind ihm die großen Holzkästen mit Papieren für Transporte mit dem Schiff, der Bahn oder Lkw ein Rätsel. Nicht nur einmal hadert Uwe mit seinem Schicksal: „So’n Schiet!“ Der Neue muss ausfegen, Brötchen holen, Kaffee kochen, aufräumen.

Der Lohn: 56 Euro monatlich im ersten, 65 Mark im zweiten und 76 Mark im dritten Lehrjahr. Uwe, der kein Bier und auch sonst keinen Alkohol trinkt, nie geraucht hat und auch sonst keinen teuren Hobbys nachgeht, hat vom Geld persönlich nichts. Die gesamte Summe fließt in den Familienhaushalt ein.

Doch es gibt Wichtigeres: Bundestrainer Sepp Herberger hat den „Dicken“ Uwe für das Länderspiel am 1.Dezember 1954 nominiert. Im altehrwürdigen Wembley-Stadion gegen England. Ein Traum.

Doch was passiert in Hamburg? Dort fragt Uwe an, ob er bei Schier, Otten & Co. ein paar Tage freimachen darf, um mit der deutschen Elf auf der Fähre nach England fahren zu können. Selbstverständlich will ihm Lehrherr Klüver die Tour nicht vermasseln. Einziges Problem: Anfang 1955 steht Uwes Abschlussprüfung zum Speditionskaufmann auf dem Programm. Es kommt zu einem Grundsatzgespräch zwischen Klüver, Uwe Seeler und dessen Berufsschullehrer. „Kann sich Uwe den Ausflug leisten?“. Nach langem Gerede ist klar: Go für England!

1954 hält ein Wunder bei den Seelers Einzug: ein Fernsehgerät

Zum Jahreswechsel 1953/54 geht es fidel zu. Mädchen und Jungs des HSV haben sich verabredet. Und wo wird losgelegt? Natürlich auf dem HSV-Gelände am Ochsenzoll. Das Restaurant Lindenhof ist ein Holzgebäude mit Schlafräumen oben, die Gastmannschaften als Quartier dienen. Auf engem Raum sind Pritschenbetten untergebracht, teilweise übereinander. Nebenan befindet sich ein Jugendzimmer. Dass der Bereich als Veranstaltungsort genutzt werden darf, ist eine Ausnahme. Verantwortlich dafür ist Uwes Mannschaftskamerad Horst Michalke, dessen Vater Platzwart auf dem HSV-Gelände ist.

Ein bisschen Kalte Ente, eine harmlose Mischung aus Mineralwasser und Wein, ist das Höchstmaß der Gefühle. Es gibt ein Büfett mit Frikadellen, sauren Gurken, Rollmöpsen und Käse-Igeln für 40 Personen, Musik, Tanz, Ringelreihen. Die Nacht verbringen die Gäste der Silvesterfeier in den Pritschenbetten der Herberge. Sehr sittsam, versteht sich.

Natürlich ist auch Uwes ältere Schwester Gertrud alias Purzel vor Ort. Sie sitzt mit einer fröhlichen, blonden Leichtathletin und Feldhandballfreundin an einem Tisch. Diskret riskiert Uwe den einen oder anderen Blick. Er nimmt sein Herz in die Hand: Ja, Ilka, so heißt die Gute, willigt für ein paar Tänze ein. Wobei Uwe auf dem Rasen schon jetzt ein recht Großer ist, der Flirt mit jungen Damen jedoch ist nicht eben seine Spezialdisziplin. An mehr als ein bisschen Tanz ist erst einmal nicht zu denken. Uwe ist alles andere als ein Pistengänger und Schürzenjäger. Wenn nicht gerade Fußball gespielt wird, sitzt er abends gern mit seiner Mutter im Wohnzimmer vor einem technischen Weltwunder: Der erste Schwarz-Weiß-Fernseher hat Einzug gehalten.

Ilka und Uwe treffen sich gelegentlich im HSV-Klubheim. Wie alle im Verein. Nicht nur an Spieltagen, sondern besonders am Montag pflegt die HSV-Familie an der Ecke Hallerstraße/Rothenbaumchaussee Einkehr zu halten. Bei „Tante Lena“, so heißt die Geschäftsführerin. Wirt ist Guschi Blumenhagen: ein Tausendsassa.

Uwe nimmt seinen Mut zusammen und besucht Ilka: mit einer Tafel Schokolade

Doch weiter geht’s. Anfang 1954 haben sich die „Blutsbrüder“ Klaus Stürmer und Uwe Seeler zu einem Kinobesuch im Holi an der Hoheluftchaussee verabredet. Dort steht ein Western auf dem Programm. Zudem bietet der Abend die ausgezeichnete Gelegenheit, Ilka einen kurzen Besuch abzustatten. Sie wohnt bei ihren Eltern in der Isestraße 79, nur ein paar Schritte vom Lichtspielhaus entfernt.

Uwe geht die „Düse hoch hundert“ – mehr als bei jedem Elfmeter seines bisherigen Lebens. Zum Selbstverzehr im Kino hat er eine Tafel Schokolade dabei, Marke Waldbauer. Gekauft am Eppendorfer Baum. Damit bewaffnet wagt er den Aufstieg. Nach einer halben Stunde ist er wieder zurück. Klaus hat ausgeharrt und Daumen gedrückt. Uwes roter Kopf sagt ihm mehr als jede Rede der Welt: Es hat gefunkt! Sogar den ersten Kuss hat es oben gegeben. Auf die Wange. Uwe ist restlos verwirrt. Und schwer verknallt.

Noch im gleichen Jahr verbringen die angehende Kauffrau Ilka und der Speditionskaufmann Uwe ihren ersten Urlaub. Die Reise führt nach Sudelfeld, einem beschaulichen Ferienort im Südosten Oberbayerns. Wenig später im Februar 1959 folgt die Hochzeit.

Dank Paul Hauenschild bekommt Uwe Seeler ein günstiges Grundstück

Bürgerlich gefeiert wird, na wo wohl, im HSV-Klubhaus. Als Vadder Erwin das Wort ergreift in seiner urtypischen Art, hat nicht nur das Brautpaar einen Kloß im Hals. Die Ergriffenheit löst sich lautem Lachen, als Ilka und Uwe die Marzipantorte anschneiden. Erhabener Punkt darauf ist ein Fußball. Auch der muss dran glauben.

Eingefädelt von Trainer Günther Mahlmann und letztlich abgesegnet von Gönner Paul Hausenschild erwirbt Uwe Seeler am Rande des HSV-Areals am Ochsenzoll ein anfangs 1000, später knapp 2000 Quadratmeter großes Grundstück – zum absoluten Freundschaftspreis. Die Vereinbarung darüber wird nach guter hanseatischer Art mit einem Handschlag besiegelt und erst später vertraglich fixiert.

Eine Hochzeitsreise fällt aus. Bereits im Sommer 1958 begleitete Ilka ihren Uwe zu einer ganz besonderen Reise: nach Schweden. Die Weltmeisterschaft dort bringt Uwe den internationalen Durchbruch.

Morgen: Lockruf des Geldes